Von Chance und Grenze des Menschseins (Zitat zum Sonntag 5)

„Die natürlichste Neigung des Menschen besteht darin, sich und zugleich alle anderen zugrunde zu richten. Wie ungeheuer muss man sich anstrengen, um nur normal zu sein! Und um wie viel mehr noch muss sich jemand anstrengen, der sich selbst und den Geist beherrschen will. Der Mensch ist nichts. Er ist nur eine unbeschränkte Möglichkeit. Aber er ist für diese Möglichkeit unbeschränkt verantwortlich. An sich neigt der Mensch dazu, sich zu verzetteln. Aber wenn sein Wille, sein Bewusstsein, seine Abenteuerlust siegen, beginnt die Möglichkeit zu wachsen. Niemand kann behaupten, er habe die Grenze des Menschseins erreicht. Die letzten fünf Jahre haben mich das gelehrt. Vom Tier zum Märtyrer, von Geist des Bösen zum Opfer ohne Hoffnung gab es kein Zeugnis, das nicht erschütternd war. An jedem von uns ist es, in sich die höchste Möglichkeit des Menschen, sein äußerstes Vermögen auszuschöpfen. Erst an dem Tag, an dem die Grenze des Menschseins einen Sinn haben wird, wird sich das Problem «Gott» stellen. Aber nicht vorher, niemals, bevor die Möglichkeit restlos ausgelebt worden ist. (1) Die großen Taten haben nur ein mögliches Ziel, nämlich die menschliche Fruchtbarkeit. Aber zuerst Herr über sich selbst werden.” (2)

 

Folge Nr. 5 aus der Serie „Camus‘ Lieblingswörter“: Der Mensch. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1945, überschrieben mit November – 32 Jahre. 

Serie Camus‘ Lieblingswörter: Nr. 1 „Die Welt“ Nr. 2 „Der Schmerz“Nr. 3 „Die Erde“, Nr. 4 „Die Mutter“

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(1) Bis hier her Textauswahl von Andreas Arnold für die Suite Camus. (2) Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Copyright © 1963,1967 Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg,
S. 208.
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