Vom „Sozialismus der Galgen“ und der Freiheit der Kunst

Albert Camus, gezeichnet von Sebastian Ybbs.

„Schließlich glaube ich (wie man sagt: ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde), daß die Freiheit und die freie Gegenüberstellung der Verschiedenheiten die unerläßliche Bedingung intellektueller Schöpfung und historischer Gerechtigkeit bilden. Ohne Freiheit keine Kunst; die Kunst lebt nur von den Beschränkungen, die sich sich selbst auferlegt, an den anderen geht sie zugrunde. Aber ohne Freiheit auch kein Sozialismus, es sei denn der Sozialismus der Galgen.“ (1)

Der Jour fixe der Albert Camus Gesellschaft in Aachen am kommenden Dienstag 12. März 2024, rückt unter dem Titel Camus‘ Sozialismus – und Sozialismus heute den politischen Camus in den Mittelpunkt.  

Ich weiß nicht, ob das Thema der Freiheit der Kunst dabei auch Thema sein wird, aber bei der Suche nach einem schönen Zitat, um die Ankündigung auszuschmücken, wie ich es gern tue, stieß ich auf den oben zitierten Schluss des Interviews, welches Albert Camus 1956 im Zusammenhang mit dem Aufstand in Ungarn gegeben hat. Auf eine Umfrage der von Iganzio Silone und Nicola Chiaromonte geleiteten italienischen Zeitschrift Tempo presente hatte er die Antworten gegeben, die er anschließend für die französischen Leser von Demain näher ausgeführt hat. Deutsch findet man es unter dem Titel Der Sozialismus der Galgen in der Sammlung Fragen der Zeit. Ob nun im Zusammenhang mit dem Sozialismus oder davon vollkommen lösgelöst scheint es mir einerseits von zeitloser Gültigkeit und andererseits heute angesichts ausufernder Debatten über das, was im Bereich der Kunst und Kultur von immer mehr mit- bzw. gegeneinander ringenden Interessengruppen gerade alles als nicht mehr statthaft angesehen wird, so dringlich und aktuell wie schon lange nicht mehr. 

Holger Vanicek schreibt in der Ankündigung für den Jour fixe:

„Der Sozialismus hatte in seinem Ursprung noch konkrete Leitgedanken, anhand derer man zumindest gewisse Eckpunkte in seiner Auslegung definieren konnte. Doch bald schon entwickelten sich vielfältige Strömungen der linken Bewegung, die sich zum Teil auch untereinander bekämpften. Albert Camus stand dem Sozialismus immer sehr nahe, vor dem Krieg war er kurzzeitig Mitglied in der kommunistischen Partei, danach hatte er enge Kontakte zu sozialistischen Politikern, die sich um den Wiederaufbau der französischen Republik mühten, schließlich zog es ihn hin zu den Anarcho-Syndikalisten. Sozialismus heute zu definieren, fällt insbesondere schwer, da sich neben Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten die Bewegung in immer neue Strömungen auffächert, die sich eher im Hinblick auf das politische Tagesgeschäft als durch ihre ursprünglichen Intentionen unterscheiden.

Was steckt hinter der sozialistischen Idee, wie sie etwa Camus‘ Verständnis entspricht? Diese Fragestellung dürfte auch im Hinblick auf die anstehende Europawahl interessante Aspekte hervorbringen.

Nach einer kleinen Einführung in das Thema, wollen wir mit Euch/ Ihnen darüber ins Gespräch kommen. Die Teilnahme ist (wie immer) offen für alle Interessierten, kostenlos und ohne Anmeldung möglich. Ein Vorwissen ist nicht erforderlich, Neugier hingegen förderlich.

Termin: Dienstag, 12. März 2024 um 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen.

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(1) Albert Camus, Der Sozialismus der Galgen, in: Fragen der Zeit, Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Hamburg 1960, S. 188)

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Ab heute Abend: „Die Pest“ als vierteilige Serie im französischen Fernsehen

Trailer von „La peste“, ab 4. März auf France 2

Am Schluss von Albert Camus‘ Roman Die Pest feiern die Menschen in den Straßen voller Freude das Ende der Seuche. Nur Dr. Rieux kann die Freude nicht ungetrübt teilen. Zum einen wird er seine in der Zwischenzeit in der Ferne gestorbene Frau nicht wiedersehen. Und zum anderen kann er nicht über das hinwegsehen, was er weiß: Nämlich, dass der Pestbazillus niemals ganz verschwindet, „sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bünden alter Papiere geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.“ (1)

Eine vierteilige Fernsehserie auf dem französischen Kanal France 2 macht ernst mit diesem Szenario und verlegt Camus‘ 1947 veröffentlichte Geschichte in die Zukunft des Jahres 2030. Verantwortlich für diesen Plot ist das Drehbuchautorenduo Georges-Marc Benamou und Gilles Taurand (Regie: Antoine Garceau). Pressemitteilung umreißt den Inhalt so: „Wir befinden uns im Jahr 2030 in einer Gesellschaft, in der die Ängste und Sorgen von heute seltsam nachhallen. Diese Gesellschaft hat gerade erst die Welle der Covid-Epidemien hinter sich gelassen. Während die Menschen gelernt haben, mit den saisonalen Covid-Varianten zu leben, wird in dieser Stadt im Süden eine neue Variante des Pestbazillus namens YP2 entdeckt. Um den Rest des Landes zu schonen, beschließt die Zentralregierung, die Stadt abzuriegeln und einen mysteriösen „Plan D“ umzusetzen, der nach und nach seine monströse Wirkung entfaltet.“ Den Dr. Bernard Rieux spielt Frédéric Pierrot.

Einen kleinen Vorgeschmack und mehr zum Konzept der Verfilmung durch verschiedenen Beteiligte gibt’s in dieser Präsentation:

Präsentation der TV-Adaption von „Die Pest“, die im Jahr 2030 spielt.

Spannende Sache das Ganze, die auch Catherine Camus überzeugt zu haben scheint. Sie wird in der Pressemitteilung zitiert:

Catherine Camus: „Die Adaption von >Die Pest< als Serie war eine gewagte und riskante Herausforderung. Ich habe alle vier Episoden gesehen und war ebenso gerührt wie gefesselt. Vielen Dank für diese respektvolle und sehr gelungene Adaption! Alles, was interpretiert oder hinzugefügt wurde, ist meiner Meinung nach völlig im Sinne meines Vaters.“

Jetzt muss ich nur noch schnell rausfinden, wie ich France 2 hier streamen kann, und dann steht dem Fernsehabend nichts mehr im Wege! Start heute, 4. März 2024, 21.10 Uhr.

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(1) Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1950, S. 202

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Albert Camus und das Heilige im Diesseits

Eine Sendung zum Nachhören beim Deutschlandfunk und der erste Gesprächskreis 2024
bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen

Liebe Camus-Freunde und Blog-Leserinnen (und umgekehrt) – Sie haben morgen Abend (6. Februar 2024) noch nichts vor und wohnen im Umkreis von Aachen? Dann wäre der erste Jour Fixe bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen eine Option. Das sehr schöne, wichtige und spannende Thema lautet Albert Camus und das Heilige im Diesseits. Angeregt wurde es durch die Sendung Das Heilige im Diesseits – Albert Camus und die Religion von Burkhard Reinartz, die der Deutschlandfunk am 10. Januar dieses Jahres ausgestrahlt hat. Darin wird zwar auch viel Allgemeines, Biographisches, Bekanntes über Camus ausgebreitet (von der Kindheit in Armut bis zum tödlichen Autounfall), aber darüber hinaus bringt der in Wien lehrende Theologe und Philosoph Hans Schelkshorn einige Aspekte von Camus‘ Denken klar auf den Punkt, wie Holger Vanicek in seiner Einladung treffend feststellt. – Die Einladung gilt übrigens wie immer für alle Interessierten – ein tiefes Wissen über das Thema oder über Albert Camus ist nicht erforderlich. Vielmehr gehe es darum, sich gegenseitig zu neuen Gedanken und Erkenntnissen anzuregen, betont der Vorsitzende der Albert Camus Gesellschaft.

Das Titelthema kommt für mein Empfinden in der Sendung vom Deutschlandfunk ein gutes Stück zu kurz, aber es finden sich doch die entscheidenden Äußerungen von Camus wie „Ich habe einen Sinn für das Heilige“ (1) und vor allem diese:

Ich lese oft, ich sei Atheist. Ich höre oft von meinem Atheismus reden. Aber diese Worte sagen mir nichts. Sie haben keinen Sinn für mich. Ich glaube nicht an Gott und ich bin kein Atheist. Ich möchte festhalten, dass ich mich nicht im Besitz irgendeiner absoluten Wahrheit oder Botschaft fühle und deshalb niemals vom Grundsatz ausgehen werde, die christliche Wahrheit sei eine Illusion, sondern nur von der Tatsache, dass ich ihr nicht teilhaftig zu werden vermochte. Wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht diese Sünde darin, auf ein anderes, jenseitiges Leben zu hoffen, und sich der unerbittlichen Größe dieses jetzigen Lebens zu entziehen. Ich behaupte, dass ich am Glück der Engel im Himmel keinen Geschmack finde.“  (2)

Ich wünsche allen Teilnehmenden einen anregenden Gesprächsabend, bei dem das Bild von Camus als Agnostiker mit Sinn für das Heilige deutlich werden möge. Termin: Dienstag, 6. Februar 2024, um 19.30 Uhr im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen (Teilnahme kostenfrei).

Vor- oder nachbereitend oder auch einfach nur so kann man sich die Sendung vom Deutschlandfunk noch in der Mediathek hier anhören.

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Die Zitate sind im Radiobeitrag naturgemäß ohne Quellenangabe. Meines Wissens handelt es sich um (1) Ein paar Fragen in Prousts Manier. Ein spätes Interview mit Jean-Claude Brisville (1959), in >Du<. Die Zeitschrift der Kultur. Heft Nr. 6/1992: Wiederbegegnung mit Albert Camus. Zürich, Juni 1992, S. 19-20. Hier antwortet Camus auf eine Frage von Brisville: „Ich habe einen Sinn für das Heilige, und ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben; das ist alles.“ (2) Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 155, Eintrag vom 1. November 1954.

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Nur ein paar Worte am letzten Tag des Jahres

Kleine Auswahl ungelesener Camus-Lektüre… (Büchertisch beim Festival in Lourmarin 2023). Foto: akr

Marbach an der Donau, 31. Dezember 2023. Wieder einmal ein zu Ende gehendes Jahr. Ich möchte nach längerer Blog-Pause wenigstens einen Jahresendbeitrag schreiben, aber er stürzt mir nach jedem Versuch ein wie ein Kartenhaus. Für mich war es ein Jahr, das viele wunderbare, strahlende Momente hatte, aber auch ein Jahr, in dem mir die Weltläufe mehr zugesetzt haben als zuvor. In dem es mehr Kraft erforderte, den Alltag zu bestehen. Und am Ende überschattet ein großer Abschied mein Jahr, und Camus‘ unbesiegbarer Sommer, der auch tief in meinem Inneren lebt, ist gerade von einer dicken Trauerwolke verhangen.

Die Abstände zwischen Beiträgen im Blog sind in diesem Jahr noch größer geworden als zuvor, die meisten Bücher aus dem Camus-Kosmos, die ich mit Enthusiasmus gekauft habe, sind ungelesen oder mindestens hier unkommentiert geblieben, und manche schöne Gelegenheit für einen „Immer-nur-ein-Schritt-bis-zu-Camus“-Beitrag ist ungenutzt verstrichen. Ich weiß nicht, was das nächste Jahr bringen wird. Ich kann und mag nichtmal ein aufmunterndes Camus-Zitat zum versöhnlichen Jahresende und optimistischen Jahresanfang aus der Tasche ziehen. Aber manchmal hilft es, sich an die eigenen Worte zu erinnern. Gerade bin ich nämlich unterwegs in Österreich, und da erinnere mich daran, wie ich vor einigen Jahren hier gemeinsam mit Camus auf die Reise ging. Wie ich in Gedanken den ziemlich depressiven jungen Camus, der auf seiner Reise diesem wunderbaren Land so herzlich wenig abgewinnen konnte, bei der Hand nahm:

Ich hätte ihm gezeigt, dass man sich nur mitten auf eine Holzbrücke, die über einen Gebirgsbach führt, hinstellen und die Augen schließen muss, damit das eiskalte, frische Wasser durch einen hindurchfließt und den ganzen inwendigen Mist, den man mit sich rumträgt, mit sich fortnimmt. Wir hätten ganz allein am Ufer des Gleinkersees gesessen, der dort zwischen den Bergen liegt, als hätte der liebe Gott dahingespuckt (Absurdität hin oder her). Ganz still wäre es gewesen, und beim Hinlauschen hätten wir hören können, wie das auftauende Eis in lauter kleinen Bläschen zerplatzt und langsam das grünspiegelnde Wasser des Sees freigibt. Unter der dünnen, durchscheinenden Eisfläche hätten wir ein silbriges Gewimmel beobachtet: junge Forellen, Rotfedern und Bachsaiblinge, die sich in dichten Knäueln tummeln und ans Licht drängen, und bestimmt hätte Albert sofort erfasst, was für ein wunderbares, hoffnungsvolles Bild das ist für die Lebenskräfte, die manchmal lange Zeit unter seelischem Eis eingeschlossen sind und sich dann doch wieder Bahn brechen, wenn es angefangen hat zu tauen, weil es immer irgendwann wieder anfängt zu tauen.

Daran denke ich, und darauf vertraue ich: Dass die Lebenskräfte immer wieder die Eisdecke durchbrechen, dass es auch 2024 wieder Frühling wird, dass der inwendige Sommer sich erneut als unbesiegbar erweisen wird. Und das wünsche ich auch Ihnen und Euch, liebe Blog-Leser und Camus-Freundinnen, Camus-Freunde und Blog-Leserinnen. Ich danke von Herzen für Ihre und Eure Begleitung durch das elfte Jahr 365-Tage-Camus.de – sie bedeutet mir viel! In diesem Sinne: auf ein gutes neues Jahr 2024 und à bientôt!

(Foto links beim Camus-Festival in Lourmarin 2023, ©privat).

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Der ganze Österreichbeitrag hier: Von kostbarer Vollkommenheit und geheimer Not – Mit Camus auf Reisen in Österreich

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Ein Plädoyer für Nüchternheit als Replik auf meine „Gedanken zum Tage“

Ein Kommentar von Helmut Martens

Heute erhielt ich einen langen Kommentar auf meinen letzten Beitrag Von einem verpassten Geburtstagsbeitrag zu Gedanken zum Tage von Blog-Leser Helmut Martens. Das soll jetzt hier nicht zur Regel werden, aber da ich es zu schätzen weiß, wenn sich jemand so einlässlich mit meinen Beiträgen beschäftigt und sich Gedanken dazu macht, mache ich hier eine Ausnahme und veröffentliche den sehr ausführlichen Kommentar gewissermaßen als Gastbeitrag. Ich verstehe dies als offenen Beitrag zu den Debatten dieser Tage.

Vorab möchte ich nur eines betonen: Es lag mir fern, die geschichtliche Situation des (blutigen) Konflikts zwischen Arabern und dem damals französischen Algerien mit dem von heute zwischen Israel und der palästinensischen Hamas gleichzusetzen. Es ging mir einzig und allein um Camus‘ so prägnante Beschreibung einer „Zwangsehe“, in der zwei Völker die gleiche Heimat für sich beanspruchen, die es nicht schaffen, miteinander zu leben. Und da es davon (leider) noch etliche weitere Fälle gibt, ließen sich die von mir im Text gelassenen Lücken auch noch mit anderen Beispielen füllen – ohne damit freilich je den geschichtlichen und politischen Kontext gleichzusetzen. Am Ende steht bei Camus – und ich denke, bei allen Menschen – immer eines: der Wunsch nach Frieden.

Hier nun also der Text von Helmut Martens – die Überschrift stammt von mir.

Ein Plädoyer für Nüchternheit in finsteren Zeiten

Ein sehr schöner  Beitrag zum 110. Geburtstag Albert Camus‘ am 7. November dieses einigermaßen finsteren Jahres. Das schöne Zitat aus seinem Brief an einen algerischen Aktivisten aus dem Jahr 1955 drängt sich in der Tat auf. Es nach dem Massaker der terroristischen Hamas vom 7. Oktober so auf die gegenwärtige Lage zu beziehen macht  m.E. aber vor allem hilflos. Wenn ich versuche, den Philosophen, Schriftsteller und stets politisch engagierten Intellektuellen im Blick auf die heutige Lage fruchtbar zu machen, setze ich etwas andere Akzente. 

Wenn Camus vor fast siebzig Jahren der Hoffnung Ausdruck gegeben hat – als politisch engagierter Intellektueller, aber auch als Schriftsteller –, dass Araber und Franzosen im damals französischen Algerien am Ende doch noch gemeinsam eine Heimat wiederfinden könnten, ist das nicht zuletzt Ausdruck des  flammenden Wunsches des französischen Afrikaners Camus gewesen. Doch solche Leidenschaft  hat ihn nie an nüchternen Analysen gehindert. Wie Camus selbst nur zu gut wusste – er hat ja selbst in den Dreißigerjahren politisch für die Emanzipation der algerischen Jugend gegen die französische Kolonialmacht gearbeitet und verließ die KPF als sie eben diesen Kampf beendete  –, führten die algerischen Araber in den fünfziger Jahren in seiner geliebten Heimat einen antikolonialer Kampf. Und den führten sie angesichts des völligen Verlust(s) des Vertrauens in jede von Frankreich garantierte Lösung, so formuliert in seinem Memorandum Algerien 1958. Camus hat diesen Befreiungskrieg aber zugleich im Kontext der damaligen geopolitischen Lage auch kritisch beurteilt – also einer russischen Strategie, die für ihn darin bestand, in Europa den Status Quo zu verlangen, das heißt die Anerkennung seines eigenen Kolonialsystems, und den mittleren Osten und Afrika in Bewegung zu setzen, um Europa von Süden her einzukreisen. In solcher Lage hat er  für den Lauriol-Plan einer föderativen freien Verbindung plädiert, die vielleicht zur Verwirklichung eines wahre(n) französische(n) Commonwealth führen könne – so in dem kurzen Text Das neue Algerien. Darin stellt er aber auch sehr nüchtern fest: Diese Lösung ist nicht im Hinblick auf die algerischen Verhältnisse utopisch, sondern im Hinblick auf den Zustand der französischen politischen Gesellschaft. 

Die lange Kette der Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, in die sich nun sein Krieg gegen die Hamas einfügt, hat hingegen nie den Charakter kolonialer und antikolonialer Kämpfe gehabt. Dass dies in Teilen der Linken seit dem Sechstagekrieg von 1967 behauptet wird, kann nur als Ausdruck des Verlusts realistischer politischer Orientierung interpretiert werden. Hingegen ist seit der Gründung des Staates Israel, Camus‘ Bild von der Zwangsehe und der tödlichen Umarmung sehr viel treffender, als es das für Algerien gewesen ist. Die UN-Resolution 181 II vom 29.11.1947  hat seinerzeit neben der Gründung Israels auch die eines Palästinenserstaates vorgesehen. Die arabischen Nachbarstaaten wollten dagegen die israelische Staatsgründung militärisch verhindern. Sie unterlagen, aber sie haben die Zweistaatenlösung von Anfang an unmöglich gemacht. Mit den Folgen leben Juden und Palästinenser in der Region nun seit über siebzig Jahren über mehrere Kriege hinweg. 

Interessanter Weise gab es 1942, also lange vor der Gründung Israels, auch den Vorschlag, statt einer israelischen Staatsgründung eine Föderation von Palästinensern und Juden zu schaffen. Martin Buber und Hannah Arendt haben dafür plädiert. Arendt sprach 1942, als eine zionistische Konferenz in New York anders entschied, davon, man werde so am Ende keine neue Heimstatt schaffen, sondern ein Schlachtfeld. Auch das ist aus heutiger Sicht erschreckend aktuell. Es gab in den Neunzigerjahren unter der Regierung des Israelischen Ministerpräsident Yitzhak Rabin für kurze Zeit Hoffnung auf die Rückkehr der Zweistaatenlösung  und die Einleitung eines wirklichen Friedensprozesses. Sie zerstob nach dem politischen Mord an ihm. Seit es das Regime der Mullahs im Iran gibt, existiert dort zudem ein muslimischer Staat, dessen Staatsraison die Vernichtung Israels ist – und der zielstrebig Terrororganisationen wie die Hamas oder die Hisbollah unterstützt.

Welche ernstliche Alternative zum Versuch der Zerschlagung der Hamas hat also Israel heute? Man muss mit dessen rechter Regierung, die lange gemeint zu haben scheint, das Palästina-Problem schlicht ignorieren zu können, nicht sympathisieren, aber doch Israel unterstützen. Man muss Israels Regierung  aber zugleich zu Antworten auf die Frage drängen, welche Lösungen sie für die Zeit nach dem Ende des Krieges mit der Hamas anstrebt – und man muss Antworten fordern, die auch den Palästinensern gerecht werden. Man darf sogar darauf hoffen, dass gerade die jetzige, schier aussichtslos scheinende Situation verrückterweise produktive Lösungen aus sich heraus hervorbringen könnte – und nicht eine wirklich verheerende Ausweitung dieses Konflikts. Denn der ist auch heute in seinem geopolitischen Kontext zu betrachten. Der ist beunruhigender Weise dem nicht ganz unähnlich, auf den Camus zu seiner Zeit aufmerksam gemacht hat – leider auch im Hinblick auf die immer noch fortwirkende Last der Geschichte und des Denkens eines lange Zeit imperial und kolonialistisch geprägten Europas auch hier bei uns. 

Als Beobachter der gegenwärtigen Entwicklung bleibt man so relativ hilflos, und man hat durchaus Anlass zu Pessimismus. Um auf Camus zurückzukommen: Der hat 1957 in seiner Erzählung Der Gast die Sackgasse eindringlich gestaltet, in die der immer noch im kolonialistischen Geist geführte Algerienkrieg Frankreichs führen musste. In der damaligen wie in unserer heutigen Lage fühle ich mich deshalb eher an seinen Prometheus in der Hölle erinnert. Als Camus 1954 diesen Mittelmeer Essay veröffentlicht hat, hat er sich und seine Zeitgenossen, neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch mit Prometheus in der Hölle gesehen: Nach und nach sind wir eingetreten. Und beim ersten Schrei der ermordeten Unschuld schlugen die Tore hinter uns zu. Wir waren in der Hölle und sind nie mehr herausgekommen.

Für Israel und Palästina würden diese Sätze mithin seit über siebzig Jahren gelten. Selbstverständlich muss man gleichwohl stets von neuem versuchen, aus unserer Hölle herauszugelangen, also den Stein, so wie der Sisyphos den seinen, den Berg hinauf zu schaffen – und man soll dabei nicht verzweifeln, sondern Sisyphos als glücklichen Menschen ansehen. Es braucht aber eines nüchternen Blicks auf die gegenwärtige Lage, wenn wenigstens relative Fortschritte erreicht werden sollen. Man möchte nicht in der Haut der politisch Handelnden stecken, also vor den Aufgaben stehen, die zum Beispiel die deutsche Außenministerin heute zu bewältigen hat – und man muss froh sein, dass die US-amerikanische Regierung Biden in diesem Konflikt bemerkenswert klug agiert. Als Schreibender und politisch engagierter Intellektueller heute soll man sich aber um die Nüchternheit der Analyse bemühen, für die Camus stets beispielhaft gestanden hat.

Zur Person
Dr. Helmut Martens, geboren 1948 in Hannover, studierte Politikwissenschaften und Neuere Deutsche Literaturwissenschaften. Er promovierte an der Universität Dortmund und arbeitete bis 2011 im Bereich arbeitsbezogener Forschung und Beratung am Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund. Eine ausführliche Biographie, eine Liste seiner Veröffentlichungen und verschiedene Schriften zum Download (darunter auch zu Albert Camus) finden sich auf seiner Webseite www.drhelmutmartens.de


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Von einem verpassten Geburtstagsbeitrag zu Gedanken zum Tage…

Am 7.  November wäre Albert Camus 110 Jahre alt geworden. Wie sehr er auch heute noch inspirieren kann, zeigte das Festival in Lourmarin. Wie sehr wir ihn brauchen, zeigt ein Blick auf das Weltgeschehen.

Impressionen vom Camus-Festival 2023 in Lourmarin
Erinnerungen an das Camus-Festival 2023 in Lourmarin (v.l.oben): Eröffnungsabend in der ev. Kirche in Lourmarin, darunter die junge Rockband „absurd heroes“. Mitte: Elisabeth Maisondieu-Camus eröffnet das Festival in der Fruitière Numérique in Lourmarin. Rechts oben: der Sänger der „absurd heroes“ mit dem Rapper Abd al Malik, der am Eröffnungsabend seine prägnante Stimme den literarischen Texten von Camus geliehen hat, darunter Gespräche am Rande – Catherine Camus et moi. Rechts unten: die drei Referentinnen Alice Kaplan, Anne Prouteau und Zakia Adelkrim. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif

Shit happens. Das hätte Camus jetzt gewiss anders ausgedrückt, aber gut. Mit reichlich Verspätung, aber dann wenigstens rechtzeitig zum 110. Geburtstag wollte ich hier in aller Ausführlichkeit von dem schönen Camus-Festival in Lourmarin erzählen, allein: Meine ganzen Aufzeichnungen sind nicht mehr auffindbar. Alles von rechts auf links gedreht – aber nichts. Und dann war auch der Geburtstagstag schon vorbei. Sehr wahrscheinlich sind die Notizen sogar schon in Frankreich im Mietwagen zurückgeblieben.

Ergebnisse eines Zeichenworkshops im Rahmen des Camus-Festivals in Lourmarin 2023.

So kann ich meine Erinnerungen nicht wirklich teilen: an den sehr schönen literarisch-musikalischen Abend in der evangelischen Kirche von Lourmarin oder an das Rockkonzert der zauberhaften jungen „absurd heroes“, die sich sehr ernsthaft mit Gedanken von Camus beschäftigt haben. An drei wirklich profunde und noch dazu überaus engagiert präsentierte Vorträge von den drei großartigen Frauen Zakia Adelkrim, Anne Prouteau und Alice Kaplan. An die Vorab-Buchpräsentation des Dictionnaire Amoureux d’Albert Camus (der inzwischen erschienen ist) des Figaro-Journalisten Mohammed Aissaoui und auch nicht an den sehr schönen Film von Elisabeth Kapnist Maria Casarès, Albert Camus, Toi ma vie, der die Liebesgeschichte der beiden aus der Perspektive von Maria erzählt. Das Programm und die Organisation lagen in den Händen von Catherine Camus‘ Tochter Elisabeth Maisondieu-Camus, von Hause aus Rechtsanwältin in Paris, die inzwischen auch den Vorsitz der Fondation Albert Camus von ihrer Mutter übernommen hat, und die die Rencontres ganz offensichtlich weg von der öffentlichen wissenschaftlichen Fachtagung hin zu einem Publikumsfestival ausgerichtet hat. Wobei der Vortragsvormittag von hoher Qualität war, der jeder Tagung zur Ehre gereicht hätte – nur leider mangels Fachpublikum ohne den fruchtbaren inhaltlichen Diskurs. Dafür hat das Festival aber deutlich mehr örtliches Publikum erreicht als früher, und zudem auch mehr jüngere Menschen (Workshops in Schulen gehörten auch noch zum Programm). Eine lebendige und schöne Sache, auf die man sich schon im nächsten Jahr freuen darf, wenn das Festival-Thema Fraternité heißen wird.

Fraternité. Brüderlichkeit. Geschwisterlichkeit, meinetwegen (ich für meinen Teil habe schon als Kind voller Inbrunst bei Beethoven mitgesungen „alle Menschen werden Brüder…“ und mich dabei nie ausgeschlossen gefühlt). Was für ein schwergewichtiges Thema, heute nicht weniger als in jenen Tagen, als Camus die Briefe an einen deutschen Freund schrieb. Oder seinen Brief an einen algerischen Aktivisten im Jahr 1955. Es geht darin um die Vorstellung einer gemeinsamen Heimat von Arabern und Algerienfranzosen, die sich in blutigem Kampf gegenüberstanden.

Vor knapp zehn Jahren, im Sommer 2014, habe ich diesen Brief hier in Gänze zitiert und jeweils bei Arabern und Franzosen Lücken im Text gelassen, die man beinahe beliebig füllen kann. Schon damals war der Anlass die Eskalation von Gewalt zwischen Israel und der im Gazastreifen herrschenden Hamas. Damals dauerte der blutige Konflikt rund vier Wochen, schon damals gab es eine hohe Anzahl von Opfern – doch übertrifft das Geschehen von heute den Schrecken von damals um ein Vielfaches, und diesmal ist ein Ende nach vier Wochen nicht in Sicht. Und wieder einmal oder erst recht bestürzt es, wie passend die Worte von Camus heute wieder erscheinen.

Man könnte meinen, Irrsinnige hätten, toll von Wut und der Zwangsehe bewusst, der sie nicht entfliehen können, beschlossen, eine tödliche Umarmung daraus zu machen. Gezwungen, miteinander zu leben, und unfähig, eins zu werden, beschließen sie, wenigstens zusammen zu sterben. Und ein jeder verstärkt durch seine Maßlosigkeit die Gründe und die Maßlosigkeit des anderen, so dass der Todessturm, der (das) Land heimsucht, sich nur noch bis zur allgemeinen Vernichtung steigern kann (…)“. (1)

Dass Camus‘ Worte immer wieder von neuer Aktualität eingeholt werden, kann pessimistisch stimmen. Einmal mehr hat sich der Fels der Hoffnung als Stein des Sisyphos erwiesen. Aber was bleibt, als die Anstrengung, ihn immer wieder hinaufzustemmen? Auch Camus hat damit nie aufgehört. Er schließt seinen Brief an Aziz Kessous mit folgenden Worten:

„Ich will mit all meine Kräften glauben, dass der Friede sich über unseren Feldern, unseren Bergen, unseren Küsten erheben wird und dass dann die in Freiheit und Gerechtigkeit versöhnten […] sich dazu überwinden, das Blut, das sie heute trennt, zu vergessen. An dem Tag werden wir, die wir gemeinsam in Hass und Verzweiflung verbannt sind, gemeinsam eine Heimat wiederfinden“. (1)

Zu meinem Beitrag mit dem gesamten Brief geht es hier: Albert Camus und ich schreiben einen Brief

Schalom und Salaam Aleikum.

(1) Albert Camus, Brief an einen algerischen Aktivisten, in: Fragen der Zeit, Übersetzung von Guido G. Meister, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1968, S. 80ff.

P.S.: Eine Neuigkeit kann ich immerhin noch verkünden, die Camus-Freunde interessieren dürfte: Nach der Veröffentlichung der Briefe Camus-Casarès arbeitet Catherine Camus gerade an der Herausgabe des Briefwechsels von Albert Camus und seiner Frau Francine. Das äußerte die Tochter öffentlich beim Festival in Lourmarin. Man darf gespannt sein!

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Sartre als „Handelsreisender in neuen Lehren“ – eine Camus-Trouvaille kommt in Berlin auf die Bühne

Tuncay Gary inszeniert die erst 2006 entdeckte Posse von Albert Camus
Das Impromptu der Philosophen – und weitere Ankündigungen

Eigentlich sollte hier ja schon längst ein kleiner Bericht vom Camus-Festival in Lourmarin stehen, aber wie das so ist, wenn man in den Alltag mit diversen Beanspruchungen zurückkehrt… Nun verschiebe ich es wiederum, um wenigstens ein Versprechen einzulösen, nämlich auf zwei von Tuncay Gary in Berlin bzw. in Buckow verantwortete Camus-Veranstaltungen hinzuweisen, deren Termine näher rücken:

Erster Termin ist eine szenische Lesung von Die Gerechten mit Live-Musik am 4. November 2023 im THEATERuntendrunter (alle Infos im Plakat links).

Drei Tage später, mithin an Camus‘ 110. Geburtstag am 7. November, folgt eine Aufführung von Das Impromptu der Philosophen – und das ist nun wirklich eine spannende Sache. Handelt es sich dabei doch um ein Stück von Camus, das man (mich selbst eingeschlossen) so gar nicht auf dem Schirm hat, wenn man an die Theaterstücke von Camus denkt. Tatsächlich ist es auch nicht in seine großen, von ihm selbst definierten Werkzyklen einzuordnen. Unter Pseudonym geschrieben, wurde es erst 2006 entdeckt und posthum veröffentlicht. Nach Aussage des Regisseurs Tuncay Gary kommt es nun zum ersten Mal auf die Bühne. Im Sammelband Sämtliche Dramen, die 2013 in neuer Übersetzung (Hinrich Schmidt-Henkel, Uli Aumüller) bei Rowohlt erschienen sind, ist es erstmals auf Deutsch enthalten. Hinrich Schmidt-Henkel schreibt dazu in seinem Nachwort zu den Dramen: „In dieser vergnüglichen, in Anlage, Figurenkonstellation und Zungenschlag molieresken Szene veräppelt er Sartre, dessen Gedankenwelt wie gesellschaftlichen Status. Sie ist ein amüsanter Begleitkommentar zum eigentlich schmerzlichen ideologischen und menschlichen Zwist zwischen den beiden bis zu ihrem Zerwürfnis befreundeten Denkern.“ 1 Hauptfigur ist ein gewisser Monsieur Néant, „Handelsreisender in neuen Lehren“, der unschwer als Jean-Paul Sartre zu identifizieren ist. Nichts Geringeres als „das neue Evangelium, dessen wahrer Apostel ich bin“ will dieser Herr Nichts dem Hausherrn, bei dem er vorstellig wird, andrehen. Zitate aus und Anspielungen auf Sartres Werk seien „wie Landminen im Text verscharrt“, schreibt Christopher Schmidt zur Neuherausgabe der Dramen in der Süddeutschen Zeitung vom 3. Dezember 2013. „Der große Sartre als windiger Klinkerputzer mit einem Musterkoffer voller Modephilosophien – dieses Setting hat schon was“, konstatiert er (die ganze Rezension auf www.bücher.de). Da wäre ich gern dabei, wenn Tuncay Gary diese Trouvaille in Berlin auf die Bühne bringt! (Zu gern wüsste ich auch, welches Pseudonym Camus bei der Veröffentlichung gewählt hat, aber wird nirgendwo genannt).

Termin: 7. November 2023, 18 Uhr, Literatur- und Theaterwerkstatt Zingster Str. 15, 13357 Berlin (Eintritt frei).

Gerade rechtzeitig, um auch noch Eingang in diese kleine Vorschau zu finden, kommt eine Info von der Albert Camus Gesellschaft in Aachen: Die feiert den 110ten Geburtstag von Albert Camus am 7. November passend zum zehnjährigen Bestehen der Gesellschaft mit einer Lesung von Ausschnitten aus Camus‘ gesamten Werk. Holger Vanicek, Vorsitzender der AC-Gesellschaft verspricht „einen selbst für Camus-Kenner*innen überraschenden Abend.“

Termin: 7. November 2023, 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Der Eintritt ist frei, Anmeldung nicht erforderlich.

Kleiner Vorblick noch auf den Dezember: Offenbar hat der Schauspieler Joachim Król nach etlichen erfolgreichen Tour-Jahren seine Sprecherrolle in der Lesung aus Camus‘ autobiographischem Roman Der erste Mensch mit dem Orchestre du soleil abgegeben. Am 13. Dezember 2023 übernimmt jedenfalls der ebenfalls bekannte Schauspieler Herbert Knaup den Part von Król in der Stadthalle Singen. Infos hier.

Kleiner Hinweis noch: Nicht alle Camus-Veranstaltungen bekommen einen eigenen Blog-Beitrag, aber unter dem Button „Aktuelles“ oben in der Leiste versuche ich, so viele Termine wie möglich einzuspeisen. Schaut doch immer mal wieder rein.

Ich wünsche allen Camus-Freundinnen und Blog-Lesern, Blog-Leserinnen und Camus-Freunden noch einen schönen Sonntag und sage wie immer hoffnungsvoll: à bientôt!

(1) Albert Camus, Sämtliche Dramen. Erweiterte Neuausgabe. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 2013, S. 583

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Neugier auf die „Rencontres“ 2023 in Lourmarin

Ankündigung der Rencontres Méditerranéennes, die in diesem Jahr Festivalcharakter haben. ©A-K. Reif

Lourmarin, 29. September 2023. Wie schön, endlich wieder einmal hier zu sein! Camus-Land präsentierte sich schon gestern beim Ankommen in später Nachmittagssonne von seiner schönsten Seite. Der erste Blick aufs Dorf, der erste Gang durch die Gassen und das erste Glas Rosé auf dem Platz – so vertraut und aufgeladen mit Erinnerungen. Es wurde Zeit, wieder einmal herzukommen. Der Impuls dazu kam vor einigen Wochen, als ich das Thema der diesjährigen Rencontres Méditerranéennes sah: Albert Camus et les femmes. Das hat mich natürlich aufmerken lassen und neugierig gemacht, fällt es doch so gänzlich aus dem üblicher Weise eher wissenschaftlichen Rahmen der jährlichen Rencontres. Tatsächlich war ich auch sehr skeptisch ob dieses Themas, verführt es doch vielleicht dazu, allerlei Klischees über den homme à femmes Camus und seine vielen Geliebten breitzutreten, was letztlich nichts anderes ist als Klatsch und Tratsch.

Plakatierung des Camus-Festivals in Lourmarin

Nun hat man das Thema in der Zwischenzeit gedreht: Les femmes et Camus lautet es jetzt. Was irgendwie einen Unterschied macht, auch wenn der nicht so wirklich zu packen ist. Ins Auge fällt aber, dass die Rencontres dieses Mal ganz anders konzipiert sind, nämlich eher mit Festivalcharakter: Es gibt Lesungen und Workshops (in Schulen ebenso wie öffentlich), eine Ausstellung, ein Konzert und überhaupt so dies und das, was mit dem Thema alles erstmal nix zu tun hat. Die conférences in Zusammenarbeit mit der Société des Études Camusiennes – sonst oft über zwei oder drei Tage verteilt gewesen – finden nur am morgigen Samstagvormittag statt. Was ich unter Jeux et enjeux du féminin dans l’œuvre Camusienne, dem Vortrag von Zakia Adelkrim, zu erwarten habe, erschließt sich mir bislang nicht („Spiele und Herausforderungen des Weiblichen“? Spiel und Spieleinsatz? Auch auf deutsch macht mich das nicht schlauer). Anne Prouteau spricht über Die Liebenden (welche?) und Alice Kaplan über Die Mutter des Dr. Rieux. C’est tout. Dabei wäre das doch eine schöne Gelegenheit gewesen, über die letztgenannte hinaus einmal die Rolle der Frauen im Werk von Camus näher zu beleuchten – von Janine in Der glückliche Tod und Maria in Der Fremde über Caesonia in Caligula und die drei das Geschehen bestimmenden Frauen in Das Missverständnis bis hin zu Dora in Die Gerechten. Ist ja nicht so, als kämen keine Frauen vor…

Aber sei’s drum. So blieb heute Vormittag schonmal Zeit über den herrlichen Markt in Lourmarin zu bummeln, und anders als im Hochsommer, wo sich die Massen im Schritttempo hindurchschieben, konnte man heute wirklich von entspanntem Bummeln sprechen. Und Thema hin oder her freue ich mich auf die Veranstaltungen und die Camus nahen Tage, die der Seele gut tun! Eine Portion schönste Spätsommerstimmung schicke ich mit an alle, die zuhause mitlesen! À bientôt!

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Verwandte Beiträge (Auswahl):
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Impressionen von den XXXV. Rencontres Méditerranéennes (1) und die folgenden drei Beiträge (2018)
Albert Camus und seine Briefpartner sind Thema bei den Rencontres Méditerranéennes im Oktober in Lourmarin (2017)
Souvenirs, souvenirs… vollgepackte Tage in Lourmarin (2015)

Die Ankündigung der Rencontres zum Thema „Die Frauen und Camus“
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Dirk H. Schäfer oder Der Künstler bei der Arbeit

Ein Wuppertaler Künstler und seine Hommage an Albert Camus‘ Erzählung „Jonas oder der Künstler bei der Arbeit“.

Eine kleine Galerie in Oberbarmen, jenem östlichen Stadtteil von Wuppertal, der nicht gerade für eine hohe Kulturdichte bekannt ist. Die Schwarzbach-Galerie von Barbara Binner behauptet sich hier jedoch seit vielen Jahren, oft hingezogen hat es mich bisher – vielleicht sträflich – nicht. Da muss in einem Vernissage-Bericht der örtlichen Tageszeitung erst unversehens das Stichwort CAMUS aufploppen. Der Wuppertaler Maler Dirk H. Schäfer, Jahrgang 1943, hat eine (von zwei ausgestellten) Bilderserien als Hommagen an Künstler und Literaten gestaltet, die ihm persönlich viel bedeuten. Darunter auch Albert Camus, erfahre ich.

Beim Betreten der Galerie fällt mir aber als erstes „Saint-Ex“ ins Auge, gleich rechts im ersten von zwei Räumen, großformatig: Nicht als Flieger, sondern in Hemd und Schlips steht der Autor vor einer Traumkulisse, die seinem Roman von 1936 Citadelle (dt.: Die Stadt in der Wüste) entsprungen zu sein scheint. Drei Arbeiten gelten Künstler-Lehrern und Vorbildern. La plaine de l’arc ist Paul Cézanne gewidmet: Dunkle Wände in Braun-Blautönen hat das Zimmer, durch dessen Fenster der Betrachter auf eine lichte Landschaft gewissermaßen mit den Augen des Impressionisten schaut. Anstelle einer naturalistischen Landschaftsdarstellung breitet sich dort die Landschaft von Cezannes Gemälde La plaine de l’arc, paysage près d’Aix aus. Die beiden anderen Gemälde gelten Ernst Oberhoff, der in den 1960er Jahren Schäfers Lehrer an der Wuppertaler Werkkunstschule war, und dem deutschen Maler Hans Purrmann (1888-1960), Schüler und Freund von Henri Matisse. Auch hier verbindet Schäfer gekonnt den eigenen Stil mit Zitaten der Künstlerkollegen. In einem zweiten Rundgang nehme ich mir mehr Zeit für sie, ebenso wie für die zweite Serie der „Spiegelungen“ – allesamt ansprechende Malerei in großem Format, entstanden in den letzten fünf Jahren.

Dirk H. Schäfer vor seinem Gemälde Jonas, der Maler bei der Arbeit in der Schwarzbach Galerie Wuppertal. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Nach dieser Einstimmung bin ich umso mehr gespannt darauf, mit welchen Mitteln der Künstler seiner Verehrung für Albert Camus Ausdruck verliehen hat. Jonas, der Maler bei der Arbeit ist ein (wiederum großformatiges) erzählerisches Werk, in dem mit Camus vertraute Betrachter gewiss auch ohne den Titel-Hinweis sogleich die Referenz auf Camus‘ Erzählung Jonas oder der Künstler bei der Arbeit aus der Novellensammlung Das Exil und das Reich erkennen. Wir sehen einen hohen Innenraum, in den in der linken Bildhälfte podestartig eine zweite Ebene eingebaut ist: Hier hinauf hat sich der Maler Jonas in Camus‘ Novelle zurückgezogen – vor der Welt, vor seinen vielen Verehrerinnen und Bewunderern, die ihm der einst doch ersehnte Erfolg beschert hat, und die ihm nun die künstlerische Arbeit unmöglich machen. Nach einer schweren Schaffenskrise hat sich Jonas in diesem Verschlag verbarrikadiert, endlich arbeite er wieder wie besessen an einem neuen Werk, man dürfe ihn nicht stören, heißt es. Am Ende entpuppt sich das von allen mit Spannung erwartete Werk als weiße Leinwand, auf der nur ein einziges Wort geschrieben steht, bei dem man nicht entziffern kann, ob es solidaire heißt oder solitaire (gemeinsam oder einsam). Eben dieses Bild sehen wir auch auf dem Podest im Gemälde von Dirk Schäfer, davor ein umgestürzter Stuhl und im Hintergrund, schemenhaft nahezu mit dem Hintergrund verschmolzen, in kopfüber zusammengesunkener Haltung den Maler Jonas.

Sartre und Camus im Gespräch: Detail aus dem Gemälde Jonas, der Maler bei der Arbeit von Dirk H. Schäfer

Die zwei Gemälde, die in der unteren Bildhälfte zu sehen sind, stammen offenbar aus besseren Tagen des Malers, auf dem größeren, rechts prominent ins Bild gesetzt, hat er seinen eigenen Schöpfer Albert Camus porträtiert – ein besonders hübscher Einfall, wie ich finde. Der Blick durch das hohe, in Rechtecke aufgeteilte Fenster (in dem eine der Scheiben zerbrochen ist), zeigt eine Pariser Straßenszene, wo Camus und Sartre  einander zugewandt im Café sitzen, Camus natürlich mit Zigarette im Mund, Sartre mit Pfeife. Auf einer Litfaßsäule auf der Straßenseite gegenüber wird die Premiere von Camus‘ Theaterstück Le Malentendu (Das Missverständnis) im Théâtre du (des) Mathurins angekündigt. Den Herrn im blauen Mantel, der gerade dort vorbeigeht, hätte ich vermutlich nicht erkannt – stünde er nicht gerade neben mir. Eine gute Gelegenheit, ihn zu fragen:

Herr Schäfer, warum haben Sie gerade diese Erzählung von Camus für Ihre Hommage-Serie ausgewählt? Sie kennen als Maler selbst den Konflikt, die Kunst als wichtigen Lebensinhalt zu haben, und durch die Beanspruchungen des Alltags davon abgelenkt zu werden?

Dirk H. Schäfer: Das ist richtig. Allerdings habe ich mich selbst nicht so tief in diesen Konflikt hineinbegeben. Ich bin in der glücklichen Lage, mein Atelier auf der Etage neben unserer Wohnung zu haben, und dorthin kann ich mich jederzeit zurückziehen und kann arbeiten.

Trotzdem bleibt für den Künstler ja dieses Spannungsverhältnis von solidaire und solitaire, von Einsamkeit und Gemeinsamkeit, bestehen, oder? Wie ist es für Sie: Braucht man als Künstler auch die Einsamkeit, oder ist die Einsamkeit im Kunstschaffen etwas, das man einfach ertragen muss?

Detail aus dem Gemälde Jonas, der Maler bei der Arbeit von Dirk H. Schäfer

Schäfer: Ich brauche ein gewisses Maß an Einsamkeit. Das ist nicht etwas, worunter ich leide. Wenn ich mir aber vorstelle, ich hätte als Rentner nichts mehr zu tun – dann wäre ich einsam und würde mich fragen, was soll ich denn auf der Welt? Gerade dadurch, dass ich arbeite, male, dadurch erreicht mich diese Einsamkeit nicht.

Wie ist ansonsten Ihre Beziehung zu Camus? Haben Sie auch sein übriges Werk rezipiert, hat es Sie irgendwie beeinflusst?

Schäfer: Ich habe früher viel von Camus gelesen, aber das ist lange her. Tatsächlich habe ich vieles auch vergessen. Es ist vor allem der „Jonas“, der mich bis heute beeindruckt.

Dirk Schäfer absolvierte in den 1960er Jahren ein Studium an der Wuppertaler Werkkunstschule und unterrichtete anschließend zunächst an der Berufsschule in Wuppertal. Nach Abschluss der Referendarausbildung unterrichtete er an der Fritz-Steinhoff-Gesamtschule in Hagen und schließlich bis zur Pensionierung am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal. In dieser aktiven Zeit als Lehrer blieb – ganz „Jonas“ – kaum Zeit und Raum für die eigene Kunst. Erst seit der Pensionierung kann er sich wieder voll und ganz der Malerei widmen und ist ungebrochen kreativ. Von den in der Schwarzbach-Galerie ausgestellten Arbeiten ist keines älter als fünf Jahre.

  • Zu sehen ist die Ausstellung von Dirk H. Schäfer mit dem Titel „So gesehen: gespiegelt – erinnert“ mit Arbeiten noch bis zum 3. September 2023 in der Schwarzbach-Galerie, Schwarzbach 174, Wuppertal Oberbarmen (mittwochs und sonntags, 16-18 Uhr, und nach Vereinbarung). Info: www.schwarzbach-galerie.de
Dirk H. Schäfers Hommage an Antoine de Saint-Exupery und seinen Roman Die Stadt in der Wüste (Citadelle).
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Ein Eifel-Spaziergang mit Albert Camus

Spazierengehen mit Camus geht nicht nur im Luberon! Das Foto stammt von einem Spaziergang im Westerwald, am 26. August geht’s mit Camus auf Eifelwanderung. ©Anne-Kathrin Reif

„Denn schon nach wenigen Schritten überwältigt uns der Duft der Wermutbüsche. Ihre graue Wolle bedeckt die Ruinen, so weit das Auge reicht. Ihr Saft gärt in der Hitze und verbreitet über das ganze Land einen Duftäther, der zur Sonne steigt und den Himmel schwanken macht. Wir gehen der Liebe und der Lust entgegen. Wir suchen weder Belehrung noch die bittere Weisheit der Größe. Sonne, Küsse und erregende Düfte – alles Übrige kommt uns nichtssagend vor.“ *

Dieses schöne Zitat aus Hochzeit des Lichts stellt die Aachener Albert-Camus-Gesellschaft ihrer Einladung zur nächsten Veranstaltung voran: einem literarischen Spaziergang zum Thema „Natur“ am 26. August rund um das Eifelstädtchen Nideggen mit anschließender Einkehr. Ob man dabei Sonne erwarten kann, lässt sich zwar heute noch nicht sagen, und auch auf Küsse und erregende Düfte sollte man vielleicht keine allzu großen Hoffnungen setzen… Erwarten darf man aber gewiss einen schönen Tag in wunderschöner Eifellandschaft, inspirierende Texte von Albert Camus und weiteren Autorinnen und Autoren und einen anregenden Austausch mit netten Menschen. Was für eine schöne Idee! Schließlich kann man überall mit Camus spazieren gehen, nicht nur im Luberon.

Eingeladen sind alle, die Lust dazu haben, Mitgliedschaft in der AC-Gesellschaft ist keine Voraussetzung!

ABLAUF:
26. August 2023: Treffpunkt 12 Uhr am Bahnhof Nideggen-Abenden, Conzenstraße. Zunächst lädt Ronja Forbrig von der Albert Camus Gesellschaft zu einem Aperitif ein (Auf dem Hilkenrath 36 in Abenden). Anschließend geht es zu ausgesuchten Orten in der Natur der Umgebung. An Felsen, am Wasser, im Tal und auf den Höhen werden Textpassagen vorgelesen und sich darüber ausgetauscht – gerne können alle Teilnehmenden dafür kurze Texte mitbringen und vorlesen. Einkehr mit gemeinsamem Essen ist im Anschluss wiederum bei Ronja Forbrig.

LOGISTISCHES:
Von Aachen aus bietet die AC-Gesellschaft Fahrgemeinschaften an. Wer eine Mitfahrgelegenheit sucht oder anbietet, melde sich bitte per Mail bei Holger Vanicek: ho.vanicek@gmail.com

Anmeldungen zur besseren Planung bis zum 21. August 2023 bitte per Mail ebenfalls an diese Adresse.

Wer nicht gut zu Fuß ist, kann ab 16 Uhr gerne zum gemeinsamen Beisammensein hinzukommen (Auf dem Hilkenrath 36, Nideggen-Abenden). Sollte das Wetter an diesem Tag nicht zum Besten sein, wird der Spaziergang kürzer gestaltet. Angepasste Kleidung und eventuell eine Sitzunterlage sind gleichwohl zu empfehlen. Für das gemeinsame Essen wird gebeten, eine Kleinigkeit mitzubringen. Wer keine Gelegenheit hat, etwas vorzubereiten, darf gerne etwas in das Sparschwein tun. Für Getränke wird gesorgt.

*Albert Camus, Hochzeit des Lichts, Arche Literatur Verlag 2019, S.10f 

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