Ein Plädoyer für Nüchternheit als Replik auf meine „Gedanken zum Tage“

Ein Kommentar von Helmut Martens

Heute erhielt ich einen langen Kommentar auf meinen letzten Beitrag Von einem verpassten Geburtstagsbeitrag zu Gedanken zum Tage von Blog-Leser Helmut Martens. Das soll jetzt hier nicht zur Regel werden, aber da ich es zu schätzen weiß, wenn sich jemand so einlässlich mit meinen Beiträgen beschäftigt und sich Gedanken dazu macht, mache ich hier eine Ausnahme und veröffentliche den sehr ausführlichen Kommentar gewissermaßen als Gastbeitrag. Ich verstehe dies als offenen Beitrag zu den Debatten dieser Tage.

Vorab möchte ich nur eines betonen: Es lag mir fern, die geschichtliche Situation des (blutigen) Konflikts zwischen Arabern und dem damals französischen Algerien mit dem von heute zwischen Israel und der palästinensischen Hamas gleichzusetzen. Es ging mir einzig und allein um Camus‘ so prägnante Beschreibung einer „Zwangsehe“, in der zwei Völker die gleiche Heimat für sich beanspruchen, die es nicht schaffen, miteinander zu leben. Und da es davon (leider) noch etliche weitere Fälle gibt, ließen sich die von mir im Text gelassenen Lücken auch noch mit anderen Beispielen füllen – ohne damit freilich je den geschichtlichen und politischen Kontext gleichzusetzen. Am Ende steht bei Camus – und ich denke, bei allen Menschen – immer eines: der Wunsch nach Frieden.

Hier nun also der Text von Helmut Martens – die Überschrift stammt von mir.

Ein Plädoyer für Nüchternheit in finsteren Zeiten

Ein sehr schöner  Beitrag zum 110. Geburtstag Albert Camus‘ am 7. November dieses einigermaßen finsteren Jahres. Das schöne Zitat aus seinem Brief an einen algerischen Aktivisten aus dem Jahr 1955 drängt sich in der Tat auf. Es nach dem Massaker der terroristischen Hamas vom 7. Oktober so auf die gegenwärtige Lage zu beziehen macht  m.E. aber vor allem hilflos. Wenn ich versuche, den Philosophen, Schriftsteller und stets politisch engagierten Intellektuellen im Blick auf die heutige Lage fruchtbar zu machen, setze ich etwas andere Akzente. 

Wenn Camus vor fast siebzig Jahren der Hoffnung Ausdruck gegeben hat – als politisch engagierter Intellektueller, aber auch als Schriftsteller –, dass Araber und Franzosen im damals französischen Algerien am Ende doch noch gemeinsam eine Heimat wiederfinden könnten, ist das nicht zuletzt Ausdruck des  flammenden Wunsches des französischen Afrikaners Camus gewesen. Doch solche Leidenschaft  hat ihn nie an nüchternen Analysen gehindert. Wie Camus selbst nur zu gut wusste – er hat ja selbst in den Dreißigerjahren politisch für die Emanzipation der algerischen Jugend gegen die französische Kolonialmacht gearbeitet und verließ die KPF als sie eben diesen Kampf beendete  –, führten die algerischen Araber in den fünfziger Jahren in seiner geliebten Heimat einen antikolonialer Kampf. Und den führten sie angesichts des völligen Verlust(s) des Vertrauens in jede von Frankreich garantierte Lösung, so formuliert in seinem Memorandum Algerien 1958. Camus hat diesen Befreiungskrieg aber zugleich im Kontext der damaligen geopolitischen Lage auch kritisch beurteilt – also einer russischen Strategie, die für ihn darin bestand, in Europa den Status Quo zu verlangen, das heißt die Anerkennung seines eigenen Kolonialsystems, und den mittleren Osten und Afrika in Bewegung zu setzen, um Europa von Süden her einzukreisen. In solcher Lage hat er  für den Lauriol-Plan einer föderativen freien Verbindung plädiert, die vielleicht zur Verwirklichung eines wahre(n) französische(n) Commonwealth führen könne – so in dem kurzen Text Das neue Algerien. Darin stellt er aber auch sehr nüchtern fest: Diese Lösung ist nicht im Hinblick auf die algerischen Verhältnisse utopisch, sondern im Hinblick auf den Zustand der französischen politischen Gesellschaft. 

Die lange Kette der Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, in die sich nun sein Krieg gegen die Hamas einfügt, hat hingegen nie den Charakter kolonialer und antikolonialer Kämpfe gehabt. Dass dies in Teilen der Linken seit dem Sechstagekrieg von 1967 behauptet wird, kann nur als Ausdruck des Verlusts realistischer politischer Orientierung interpretiert werden. Hingegen ist seit der Gründung des Staates Israel, Camus‘ Bild von der Zwangsehe und der tödlichen Umarmung sehr viel treffender, als es das für Algerien gewesen ist. Die UN-Resolution 181 II vom 29.11.1947  hat seinerzeit neben der Gründung Israels auch die eines Palästinenserstaates vorgesehen. Die arabischen Nachbarstaaten wollten dagegen die israelische Staatsgründung militärisch verhindern. Sie unterlagen, aber sie haben die Zweistaatenlösung von Anfang an unmöglich gemacht. Mit den Folgen leben Juden und Palästinenser in der Region nun seit über siebzig Jahren über mehrere Kriege hinweg. 

Interessanter Weise gab es 1942, also lange vor der Gründung Israels, auch den Vorschlag, statt einer israelischen Staatsgründung eine Föderation von Palästinensern und Juden zu schaffen. Martin Buber und Hannah Arendt haben dafür plädiert. Arendt sprach 1942, als eine zionistische Konferenz in New York anders entschied, davon, man werde so am Ende keine neue Heimstatt schaffen, sondern ein Schlachtfeld. Auch das ist aus heutiger Sicht erschreckend aktuell. Es gab in den Neunzigerjahren unter der Regierung des Israelischen Ministerpräsident Yitzhak Rabin für kurze Zeit Hoffnung auf die Rückkehr der Zweistaatenlösung  und die Einleitung eines wirklichen Friedensprozesses. Sie zerstob nach dem politischen Mord an ihm. Seit es das Regime der Mullahs im Iran gibt, existiert dort zudem ein muslimischer Staat, dessen Staatsraison die Vernichtung Israels ist – und der zielstrebig Terrororganisationen wie die Hamas oder die Hisbollah unterstützt.

Welche ernstliche Alternative zum Versuch der Zerschlagung der Hamas hat also Israel heute? Man muss mit dessen rechter Regierung, die lange gemeint zu haben scheint, das Palästina-Problem schlicht ignorieren zu können, nicht sympathisieren, aber doch Israel unterstützen. Man muss Israels Regierung  aber zugleich zu Antworten auf die Frage drängen, welche Lösungen sie für die Zeit nach dem Ende des Krieges mit der Hamas anstrebt – und man muss Antworten fordern, die auch den Palästinensern gerecht werden. Man darf sogar darauf hoffen, dass gerade die jetzige, schier aussichtslos scheinende Situation verrückterweise produktive Lösungen aus sich heraus hervorbringen könnte – und nicht eine wirklich verheerende Ausweitung dieses Konflikts. Denn der ist auch heute in seinem geopolitischen Kontext zu betrachten. Der ist beunruhigender Weise dem nicht ganz unähnlich, auf den Camus zu seiner Zeit aufmerksam gemacht hat – leider auch im Hinblick auf die immer noch fortwirkende Last der Geschichte und des Denkens eines lange Zeit imperial und kolonialistisch geprägten Europas auch hier bei uns. 

Als Beobachter der gegenwärtigen Entwicklung bleibt man so relativ hilflos, und man hat durchaus Anlass zu Pessimismus. Um auf Camus zurückzukommen: Der hat 1957 in seiner Erzählung Der Gast die Sackgasse eindringlich gestaltet, in die der immer noch im kolonialistischen Geist geführte Algerienkrieg Frankreichs führen musste. In der damaligen wie in unserer heutigen Lage fühle ich mich deshalb eher an seinen Prometheus in der Hölle erinnert. Als Camus 1954 diesen Mittelmeer Essay veröffentlicht hat, hat er sich und seine Zeitgenossen, neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch mit Prometheus in der Hölle gesehen: Nach und nach sind wir eingetreten. Und beim ersten Schrei der ermordeten Unschuld schlugen die Tore hinter uns zu. Wir waren in der Hölle und sind nie mehr herausgekommen.

Für Israel und Palästina würden diese Sätze mithin seit über siebzig Jahren gelten. Selbstverständlich muss man gleichwohl stets von neuem versuchen, aus unserer Hölle herauszugelangen, also den Stein, so wie der Sisyphos den seinen, den Berg hinauf zu schaffen – und man soll dabei nicht verzweifeln, sondern Sisyphos als glücklichen Menschen ansehen. Es braucht aber eines nüchternen Blicks auf die gegenwärtige Lage, wenn wenigstens relative Fortschritte erreicht werden sollen. Man möchte nicht in der Haut der politisch Handelnden stecken, also vor den Aufgaben stehen, die zum Beispiel die deutsche Außenministerin heute zu bewältigen hat – und man muss froh sein, dass die US-amerikanische Regierung Biden in diesem Konflikt bemerkenswert klug agiert. Als Schreibender und politisch engagierter Intellektueller heute soll man sich aber um die Nüchternheit der Analyse bemühen, für die Camus stets beispielhaft gestanden hat.

Zur Person
Dr. Helmut Martens, geboren 1948 in Hannover, studierte Politikwissenschaften und Neuere Deutsche Literaturwissenschaften. Er promovierte an der Universität Dortmund und arbeitete bis 2011 im Bereich arbeitsbezogener Forschung und Beratung am Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund. Eine ausführliche Biographie, eine Liste seiner Veröffentlichungen und verschiedene Schriften zum Download (darunter auch zu Albert Camus) finden sich auf seiner Webseite www.drhelmutmartens.de


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2 Antworten zu Ein Plädoyer für Nüchternheit als Replik auf meine „Gedanken zum Tage“

  1. Henrique Leemann sagt:

    Vielen Dank Frau Reif und vielen Dank Herr Martens.
    Das ist ein toller Beitrag ganz im Sinn der Menschlichkeit.

    Freundliche Grüsse und viel Licht !

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