Von kostbarer Vollkommenheit und geheimer Not – mit Camus auf Reisen in Österreich

Von links nach rechts und oben nach unten: Salzburg, Mirabell-Garten; Wien, Pestsäule am Graben; Wien, Sezession; Wien, Café Ritter. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif

Jetzt also Wien. Und überhaupt: Österreich. Pardon, dass es etwas länger gedauert hat vom letzten bis zu diesem Blogbeitrag, aber in diesem Land muss man nun einfach mal die Seele baumeln lassen, ohne gleich loszuschreiben. Auch die Notizen des jungen Camus während seiner Reise durch Österreich im Sommer 1936 sind übrigens ausgesprochen spärlich. „Ich habe wenig geschrieben und gelesen, aber viel empfunden (und gesehen) und erlebt“, schreibt er unterwegs am 22. August 1936, schon gegen Ende der Reise, an Jean Grenier (1). Genau so geht es mir auch. Allerdings darf man berechtigte Zweifel daran haben, ob ihm das mit dem Seele baumeln lassen ähnlich leicht gefallen ist wie mir. Die Bedingungen dafür standen bei ihm auch wirklich nicht zum Besten.

Anfang Juli 1936 hat der 22-Jährige bereits sein Diplom in Philosophie in der Tasche und bricht  gemeinsam mit seiner jungen Frau Simone Hié und dem befreundeten Englischlehrer Yves Bourgeois zu der Reise nach Mitteleuropa auf. Bourgeois ist begeisterter Kajakfahrer, im Jahr zuvor war er von Innsbruck nach Budapest gepaddelt. Jetzt wollen sie gemeinsam die Strecke von Innsbruck bis Kufstein mit dem Boot auf dem Inn zurücklegen. Zunächst fahren sie nach der Mittelmeer-Überquerung aber nach Lyon, wo Bourgeois Lehrer gewesen war, dann weiter im Zug dritter Klasse über die Schweiz nach Österreich, wo sie in Innsbruck übernachten. Schon von dieser Zugreise in der Bretterklasse ist Camus völlig zerschlagen, und außerdem fällt ihm jetzt erst ein, dass ihm aufgrund seiner Lungenerkrankung jede intensive Schultergymnastik verboten ist. Kajakfahren ist unter diesen Bedingungen kein wirklich guter Plan. Während Yves und Simone wie verabredet die Strecke im Kajak zurücklegen, fährt Camus allein mit dem Zug weiter. In seinen Tagebuchnotizen findet sich dazu nichts, aber per Brief berichtet er seinen Freundinnen Marguerite und Jeanne in Algier von den Anstrengungen und schreibt: „…jedesmal, wenn mir wieder bewusst wird, dass ich in Wirklichkeit krank bin, fühle ich, wie weit ich von dem entfernt bin, der ich sein möchte.“ (2) Erschöpfung, das Hadern mit seinen eingeschränkten körperlichen Möglichkeiten, finanzielle Sorgen und völlige Ungewissheit, was seine berufliche Zukunft angeht. Als wacher politischer Kopf geht auch die Entwicklung 1936 in Europa nicht an ihm vorbei. Der Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs fällt in die Zeit der Reise. Spanien – „Camus’ zweite seelische Heimat“, wie Biograf Olivier Todd schreibt (3).

Und dann: Salzburg. Gut drei Wochen nach Beginn und immer noch ziemlich am Anfang der ganzen geplanten Reise erfährt er durch einen eigentlich an Simone gerichteten Brief, dass seine junge Frau ihn betrügt. Seit zwei Jahren ist er mit der schönen, ein Jahr jüngeren Simone verheiratet, Arzttochter aus gutem Hause aber nicht eben mit gutem Ruf, Onkel Gustave Acault jedenfalls ist strickt gegen die Verbindung und wirft Albert quasi aus dem Haus. Beziehungsweise stellt ihn vor die Wahl, was aber auf das selbe hinausläuft. Camus hat also einiges für sie in Kauf genommen, auch ihre Drogenabhängigkeit, von der er sie wegzubringen hofft – auch durch diese Reise. Jetzt erfährt er, dass der Arzt, der Simone mit Morphium versorgt, auch ihr Liebhaber ist. An Jeanne und Marguerite schreibt er, zwei Stunden nach seiner Ankunft in Salzburg habe er „einen der schmerzlichsten Schläge“ seines Lebens erhalten. Und: Zurück in Algier würde er allein leben. Dennoch setzt er die Reise mit Simone und Bourgeois fort.

In Anbetracht dessen erscheint es fast verwunderlich, dass er immer noch wachen Sinn für die ihn umgebende Schönheit aufbringt. Im Tagebuch notiert er: „Salzburg – Jedermann. Peter-Friedhof. Mirabell-Garten in seiner kostbaren Vollkommenheit. Regen. Phlox – See und Berge – Wandern über die Hügel.“ (4) Und an Jean Grenier schreibt er von Salzburg aus: „Meine Gesundheit ist immer noch angeschlagen, trotz der frischen Luft hier. Ich hätte wirklich besser daran getan, mich zwei Monate in ein Bergdorf zurückzuziehen. Die Gelegenheit war für mich zu verlockend und ich konnte nicht widerstehen. In Salzburg habe ich das alles vergessen und vieles andere mehr, wo die Zivilisation die kostbarsten Kunstwerke und Gärten und die schönsten Frauen vereinigt und wo man sich ganz schön Zwang antun muss.“ (5) Seltsamer Weise hat er in Wien für die kostbaren Kunstwerke und Gärten dann einen ganz anderen Blick: „Wien – Zivilisation – angehäufter Luxus und schützende Gärten. Geheime Not, die sich in den Falten dieser Seide verbirgt“. (6) Nein, wirklich frei, um die Schönheiten dieser Städte und dieses Landes wahrzunehmen, war der junge Camus nicht: „Ich kam nach Wien, reiste eine Woche später weiter und war immer noch mein eigener Gefangener“. (7)

Am Gleinkersee in Oberösterreich. ©akr

Am Gleinkersee in Oberösterreich. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Ein Österreich-Urlaub eignet sich mithin ganz und gar nicht, um mit Camus auf die Reise zu gehen. So oft hat mich der Blick von Camus auf Reisen bereichert, diesmal ist es umgekehrt: Ich wünschte, der hadernde, in sich selbst gefangene junge Camus könnte das Land und diese wunderbaren Städte mit meinen Augen sehen. Für mich ist Wien immer wie nach Hause kommen, seitdem ich mit 15 Jahren zum ersten Mal meinen Freund W. dort besuchte, der dankenswerter Weise in den vergangenen 40 Jahren so oft umgezogen ist, dass ich die Stadt schon allein deshalb an den verschiedensten Ecken kennenlernen konnte. Nirgendwo sonst kann ich so gut herumsitzen und über das Leben nachdenken wie in den Wiener Kaffeehäusern. Natürlich nicht im Sacher oder im Central, wo die japanischen Touristen am Einlass geduldig Schlange stehen wie vorm Museum. Ich hätte Albert gerne mitgenommen ins Prückl, ins Ritter oder ins Café Tirolerhof, wo man noch ungestört Zeitung lesen und Löcher in die Luft gucken kann.

Gleinkersee

Lauschen auf tauendes Eis am Gleinkersee. ©akr

Wenn wir genug von der Stadt gehabt hätten, wären wir weiter gefahren an der Donau entlang durch die Wachau, wo schon die Marillenbäume blühen, bis nach Oberösterreich. Wir wären gewandert durch lichte, frühlingsgrüne Wälder und über Wiesen, die mit Märzbechern und Schlüsselblumen bedeckt sind. Ich hätte ihm gezeigt, dass man sich nur mitten auf eine Holzbrücke, die über einen Gebirgsbach führt, hinstellen und die Augen schließen muss, damit das eiskalte, frische Wasser durch einen hindurchfließt und den ganzen inwendigen Mist, den man mit sich rumträgt, mit sich fortnimmt. Wir hätten ganz allein am Ufer des Gleinkersees gesessen, der dort zwischen den Bergen liegt, als hätte der liebe Gott dahingespuckt (Absurdität hin oder her). Ganz still wäre es gewesen, und beim hinlauschen hätten wir hören können, wie das auftauende Eis in lauter kleinen Bläschen zerplatzt und langsam das grünspiegelnde Wasser des Sees freigibt. Unter der dünnen, durchscheinenden Eisfläche hätten wir ein silbriges Gewimmel beobachtet: junge Forellen, Rotfedern und Bachsaiblinge, die sich in dichten Knäueln tummeln und ans Licht drängen, und bestimmt hätte Albert sofort erfasst, was für ein wunderbares, hoffnungsvolles Bild das ist für die Lebenskräfte, die manchmal lange Zeit unter seelischem Eis eingeschlossen sind und sich dann doch wieder Bahn brechen, wenn es angefangen hat zu tauen, weil es immer irgendwann wieder anfängt zu tauen.

Ich hätte ihm die Berge vorgestellt, die dort majestätisch und gar nicht bedrohlich ihre weißen Gipfel in den blauen Himmel strecken: den toten Mann, das Warscheneck, den Wurbauerkogel und die Rosenau, und ich hätte ihm erzählt von Kindheitserinnerungen und wie all das für mich aufgeladen ist mit ererbter Biografie. Natürlich hätte der junge Camus seinen Roman Der erste Mensch noch nicht geschrieben gehabt, aber wir bewegen uns ja auch gerade nicht auf einem linearen Zeitfluss, und deshalb hätte ich ihm gerne gesagt, wie sehr sein Roman und seine persönliche Geschichte meine Wahrnehmung dafür geschärft hat, wieviel es bedeutet, überhaupt mit Erzählungen und Geschichten aufzuwachsen, welche letztlich auch die eigene Existenz erfahrbar machen als eingebunden in ein weit zurückreichendes Geflecht von Geschehnissen. Und ich hätte ihm erzählt, dass man nicht nur Geschichten erben kann, sondern sogar Freundschaften, die mit diesen Geschichten verbunden sind, und er hätte ganz sicher sofort verstanden, wie unendlich kostbar das ist.

Ja, all dies hätte so sein können, aber Albert war ja nicht dabei, und so habe ich all das mit jemand anderem geteilt, und das war auch schön.

©Anne-Kathrin ReifP.S.: Ich widme diesen Beitrag Elvi, Ilse und Alfred, die ihren Kindern nicht nur die Liebe zu dieser Landschaft vererbt haben, sondern auch ihre Freundschaft.

(1) Albert Camus / Jean Grenier: Briefwechsel 1932 – 1960. Mit den Erinnerungen Jean Greniers an Albert Camus. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2013, S. 39. (2) zit. nach Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 113. (3) wie (2). (4) Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister.  Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S.29. (5) siehe (1), S.37. (6) wie (4). (7) Albert Camus, Tod im Herzen aus Licht und Schatten, Literarische Essays, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 57.
Mehr über die gesamte Reise von Camus 1936 bei Olivier Todd, a.a.O., S. 111-122.
Die hübsche Formulierung „als hätte der liebe Gott dahingespuckt“ findet sich irgendwo im „doppelten Lottchen“ von Erich Kästner, was ich aber seit mindestens 40 Jahren nicht in der Hand hatte, weshalb ich keine Quellenangabe machen kann…
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3 Antworten zu Von kostbarer Vollkommenheit und geheimer Not – mit Camus auf Reisen in Österreich

  1. Mag. Alois Klinglmair sagt:

    Das Erleben von Landschaft (stamme aus und lebe in Oberösterreich) und Kultur in Österreich….ja glückliches Land…….und zugleich schreckliches Land!
    1936 – 2016….da kann man schon nachdenklich, deprimiert sein…wütend
    24. April: Bundespräsidentschaftswahlgang……ein furchtbares Ergebnis
    Österreich…Quo vadis?…..Thomas Bernhard blieb das erspart
    was ist aus dem weltoffenen, sozialen…..Österreich und vielen Menschen geworden
    ängstliche, kurzsichtige, engstirnige….. PolitikerInnen ohne Rückgrat….welche Un-Kultur breitet sich da wieder mal aus……
    22. Mai: eine letzte Chance beim 2. Wahlgang…..die Hoffnung stirbt zuletzt

  2. Marianne Haynold sagt:

    Liebe Frau Reif, danke für diesen Text.
    Ich bin gerade auf Radeltour die Donau entlang und sitze gerade in einem Café in Wien – und dann erreichen mich diese wunderbaren Zeilen.
    DANKE!

  3. claudie menini sagt:

    Chère Ann-Kathrin,
    Ce texte est magnifique, j’ai accompagné Albert Camus dans ta balade imaginaire dans cette ville de Vienne que tu portes dans ton coeur. Félicitations!
    Bises lourmarinoises.
    Claudie

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