Dass das erste Camus-Ereignis des Jahres, mit dem dann auch ein neues Blog-Jahr startet, ausgerechnet sein Tod ist, ist ja immer irgendwie doof. Ich hab’s schon früher bemängelt und den Tag hier auch nicht jedesmal begangen. Man kann die Geschichte schließlich auch nicht immer wieder neu erzählen.
Oder kann man doch? Schon eine ganze Weile hält sich die Erzählung, der Unfall am 4. Januar 1960 gemeinsam mit seinem Freund Michel Gallimard sowie dessen Frau und Tochter auf der Route National 6 bei Villeblevin sei in Wirklichkeit gar kein Unfall gewesen, sondern ein Anschlag des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Aufgebracht hat die Geschichte der italienische Journalist und Osteuropa-Experte Giovanni Catelli bereits 2013. Schon damals wurde die Theorie auch in deutschen Blättern diskutiert. Zehn Jahre später erschien Camus muss sterben im Dezember 2023 beim emons Verlag in deutscher Übersetzung und machte erneut in den Feuilletons erstaunlich Furore.
Schon 2024 wollte ich Ihnen und Euch zum Todestag hier eine fundierte Rezension bieten. Ihr seht ja, was daraus geworden ist. Nun gut, dann eben 2025… *ähm, hüstel* – leider nein. Vor ein paar Wochen bin ich zum wiederholten Male stecken geblieben. Sagen wir es mal so: Das spricht jetzt nicht unbedingt für eine begeisternde Lektüre.
Aber ich will es jetzt doch nochmal wissen, und damit ich dieses Mal dranbleibe, habe ich mir überlegt: Ich lege mal nicht die hohe Latte einer auf knappen Zeilen-Raum verdichteten journalistischen-literarischen Rezension an, sondern lasse Euch in den nächsten Wochen kapitelweise teilhaben an meiner Lektüre.
Vielleicht hat ja sogar der ein oder die andere Lust, sich das Buch auch vorzunehmen (oder hat es schon getan)? Dann könnten wir uns gern hier darüber austauschen.
Zum Start hier erstmal der PR-Text des Verlags:
Albert Camus‘ mysteriöser Todesfall neu aufgerollt: eine perfide Verschwörung des KGB? Eine Mischung aus Investigativ-Roman und Spionage-Thriller – glänzend recherchiert und hochspannend.
Frankreich, Januar 1960: Albert Camus und sein Verleger Michel Gallimard sind auf dem Weg nach Paris, als ihr Auto ins Schleudern gerät und gegen einen Baum prallt – Camus ist sofort tot. Die Kollision wird als tragischer Unfall zu den Akten gelegt. Doch mehr als vierzig Jahre später tauchen Informationen auf, die ein neues Licht auf das angebliche Unglück werfen: Sind dem Autor seine sowjetkritischen Reden letztlich zum Verhängnis geworden? Wurde Camus‘ Tod vom KGB geplant?
„Glänzend recherchiert“ also. Nun denn. Vielleicht habe ich mich bislang zu Unrecht gegen die Lektüre gesträubt, weil das einfach so sehr nach Verschwörungserzählung klingt, und ich gegen solche grundsätzlich hochallergisch bin.
Schließlich gibt es internationale Pressestimmen, die der Verlag anführt:
„Ein Text von bestechendem literarischen, biografischen, kritischen und historischen Wert.“ (Avvenire)
„Catellis Argumentation ist überzeugend… sein Buch bietet einen klaren und nützlichen Einblick in die Strömungen, durch die politische Schriftsteller während des kalten Krieges navigieren mussten.“ (Wall Street Journal)
… und ich erinnere mich an durchaus positive Kritiken in großen deutschen Feuilletons, die ich jetzt aber nicht wiederfinde. Dafür aber diese hier:
Im Gegensatz zu seinem Titel sei das Buch nicht reißerisch, sondern nachfragend, urteilte Marko Martin in der Lesart auf Deutschlandfunk Kultur am 20. Dezember 2023. Der Autor ginge vielen Spuren nach, führt er an und findet die Spuren durchaus nachvollziehbar. Zwar bemängelt er, dass Catelli nicht auch Indizien berücksichtigt, die gegen seine These sprechen, sieht aber dennoch keinen Anlass für den Vorwurf einer Verschwörungstheorie in „diesem klugen Buch.“ Nachzuhören ist die Rezension in Gänze online im Archiv des DLF.
„Hier ist kein Skandaljäger unterwegs, sondern ein Experte für die literarischen, historischen und politischen Ereignisse in Osteuropa, der als Korrespondent die Länder des ehemaligen Sowjetblocks bereist. Seine Nachforschungen fördern glaubwürdig Spuren zutage, die lange als verschollen galten bzw. nie an die Öffentlichkeit gelangen sollten“, schreibt Sylvia Treudl am 20.November 2023 auf buchkultur.net und betont: „Spuren, die auch Paul Auster überzeugen“.
Das allerdings wiegt für Fans des 2024 verstorbenen US-amerikanischen Autors, zu denen ich mich durchaus zähle, schwer. Auster hat ein kurzes Geleitwort zum Buch verfasst und schreibt darin: „Basierend auf jahrelanger sorgsamer Recherche konstruiert der Autor zwingende Argumente, um seine Behauptung zu stützen, sie seien die Opfer eines geplanten Mordes gewesen. Eine schreckliche Schlussfolgerung, aber schaut man sich die Belege an, die Catelli uns gibt, wird es schwierig, ihm nicht zuzustimmen. Dieser »Autounfall« sollte jetzt in eine andere Schublade eingeordnet werden, die der politischen Meuchelmorde.“
Ok, dies soll mal reichen, um neugierig auf dieses Buch zu machen – und vielleicht ja auch auf meine Lektüre. Seid gespannt, ich bin es auch! In diesem Sinne: à bientôt!
Info: Giovanni Catelli: Camus muss sterben. Aus dem Italienischen von Carsten Drecoll, Emons-Verlag, Köln 2023 (TB, 159 Seiten).
31. Dezember 2024. „Was ist dein vorherrschendes, dein bestimmendes Lebensgefühl, wenn du auf dein Leben blickst?“, fragte mich mein alter Freund J. vor einigen Wochen bei einem unserer kostbaren seltenen Abendessen. Puh, eine große Frage zwischen türkischem Lammeintopf und Digestif. Ich dachte nach. Spürte in mich hinein. „Dankbarkeit“, sagte ich dann. J. nickte. „Bei mir auch.“ Und wir waren uns auch ohne weitere Ausführungen sicher, damit das Gleiche zu meinen: Nämlich, dass es für uns, ganz gleich wie es in der Welt aussieht, ganz gleich, was es an unüberschaubaren Schwierigkeiten und Problemen aller Art im ganz privaten, im heimischen politisch-gesellschaftlichen Bereich und in globaler Dimension zu bewältigen oder auszuhalten gilt, es dennoch genug Gründe für uns gibt, um dankbar zu sein. Und dass dieses Lebensgefühl tragen kann, auch durch stürmische Zeiten. Braucht Dankbarkeit einen Adressaten? Mein Freund J. ist überzeugter Katholik. Er wird wissen, wem er seinen Dank abstattet. Aber spielt das eine Rolle? Mein Dank geht hinaus ins Unbekannte. Man kann auch wie Camus einen Sinn für das Heilige haben, ohne an Gott zu glauben (1).
Am Ende eines Jahres gilt der Dank, den ich ausspreche, immer eben diesem: dem sich verabschiedenden Jahr. Eine Unzahl Bilder des Jahres läuft dann im Schnelldurchgang vor meinem inneren Auge ab. Schreckliches, schwer Auszuhaltendes aus der Welt da draußen, Schwieriges, Anstrengendes und Trauriges aus dem inneren Lebenskreis genauso wie schöne und beglückende Erlebnisse allein oder in Gemeinschaft. Am Ende eines Jahres: Danke für ein weiteres Jahr Leben. Danke an alle Menschen, die mir lieb sind, dass Ihr noch da seid. Danke, dass es Euch gab, an die, die sich verabschieden mussten.
Dankbarkeit, obwohl so vieles im Argen liegt, egal wohin man schaut? Und obwohl wir wissen, wie brüchig und bedroht all das ist, dessen wir uns gerade noch glücklich schätzen? Ja – trotz dessen und eben deshalb. Dankbarkeit setzt das Bewusstsein von Kostbarkeit voraus. Und etwas, das im Kern immer schon bedroht ist, ist kostbar.
„Ich habe immer den Eindruck gehabt, mich auf hoher See zu befinden: mitten in einem königlichen Glück bedroht“, notierte Camus in sein Tagebuch (2). Auch das hätte ich auf die Frage meines Freundes J. nach meinem Lebensgefühl antworten können, es ist genauso wahr. Die Bedrohung des eigenen Glücks ist allgegenwärtig. Umso mehr Grund zur Dankbarkeit, wenn es wieder einmal gelungen ist, das eigene Lebensschiff unversehrt durch ein weiteres Jahr navigiert zu haben.
Danken möchte ich am Ende des Jahres auch allen Camus-Freundinnen und Blog-Lesern (und umgekehrt), die dem Blog trotz der wieder einmal sehr großen Lücken die Treue gehalten haben und deren oft unverhoffte Resonanz per Mail oder Kommentar mich immer wieder darin bestärken, den Camus-Faden hier im Blog nicht aus der Hand zu geben. Wie es mir gelingen wird, ihn 2025 im dann zwölften Jahr weiterzuspinnen … wir werden sehen. Lassen wir uns gemeinsam überraschen.
Ich wünsche Ihnen und Euch ein neues Lebensjahr 2025 mit 365 dankbaren Tagen. In diesem Sinne: Bonne année et à bientôt!
P.S. Ich widme diesen Beitrag insbesondere meinem Freund J. mit Dankbarkeit für fast 45 Jahre Freundschaft.
(1) Ich bin mir einigermaßen sicher, dass die Aussage „Ich glaube nicht an Gott, aber ich habe einen Sinn für das Heilige“, von Camus irgendwo dokumentiert ist, kann die Quelle aber gerade nicht verifizieren. In die gleiche Richtung geht aber das Zitat „Ich habe einen Sinn für das Heilige, und ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben; das ist alles“ – Camus im Interview mit Jean-Claude Brisville (1959), deutsch in >Du<. Die Zeitschrift der Kultur. Heft Nr. 6/1992: Wiederbegegnung mit Albert Camus. Zürich, S. 19-20. (2) Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 12. Eintrag 2. Hälfte 1951.
Im Januar 2023 reiste ich von Wuppertal in den mir bis dahin völlig unbekannten Ort Hövelriege zur Uraufführung von Martin Bretschneiders Camus-Theaterstück A Misson for Sisyphos – und die weite Anreise hatte sich gelohnt. Von meiner Begeisterung habe ich natürlich hier berichtet und dem Stück damals dringend weitere Aufführungen gewünscht – was zu diesem Zeitpunkt noch in den Sternen stand (Superman Sisyphos – ein Camus-Abend mit Witz und Tiefgang).
Umso mehr freue ich mich, dass A Mission for Sisyphos inzwischen etliche weitere Aufführungen erlebt hat und jetzt auch in Wuppertal zu sehen sein wird. In dem von Martin Bretschneider erdachten Stück trifft Albert Camus auf den syrischen Pianisten Aeham Ahmad und den kosovarischen Geflüchteten Atdhe Ramadani, der antike Rebell Sisyphos und Kriegsgott Ares treten ebenso auf wie der algerische Arzt Dr. Bernard Rieux aus Camus‘ Roman Die Pest, und es geht um die großen Themen, die Camus in seinen Werken auf vielfältige Weise variiert hat: Um die Absurdität des Daseins, den Hass auf den Tod, die Verachtung der Götter und die Liebe zum Leben. Mehr dazu kann man in dem oben erwähnten Blogbeitrag und im Interview mit Martin Bretschneider nachlesen, dass ich seinerzeit im Vorfeld der Premiere mit ihm geführt habe (A Mission for Sisyphos – Martin Bretschneider bringt einen Camus-Abend auf die Bühne).
Vor der Aufführung in Wuppertal in der kommenden Woche hatte ich Gelegenheit, erneut mit Martin Bretschneider zu sprechen und ihm einige Fragen zu stellen:
Martin, A Misson for Sisyphos hatte im Januar 2023 Premiere – seitdem habt ihr das Stück insgesamt 13 Mal an acht verschiedenen Orten gespielt. Wie ist Deine Erfahrung aus diesem Zeitraum?
Martin Bretschneider: Wir haben insgesamt zwei Mal an Schulen, sechs mal beim SJC Hövelriege, wo das Stück ja auch produziert wurde, und fünf Mal an kleinen Bühnen gespielt, und wir sind super happy mit den Reaktionen. Das Stück kommt in allen Altersklassen super an, weil es uns offensichtlich gelungen ist, die schweren Themen des Abends mit Humor und Aehams wunderbarer Musik zu einem Mosaik zusammenzufügen, das sowohl das Herz als auch den Verstand anspricht. Besonders berührend sind Reaktionen von Menschen, die ähnlich wie wir der aktuellen Migrationsdebatte fassungslos gegenüberstehen und dankbar sind für unser klares Statement zur Solidarität. Ich glaube, dass sich gerade bei Menschen, die selbst Fluchterfahrungen haben oder sich für Geflüchtete einsetzen, eine gewisse Resignation ob der politischen Stimmung breit macht. Dem setzen wir etwas entgegen.
Du verknüpfst in diesem Stück ja Elemente aus der Biographie von Camus und Passagen aus verschiedenen seiner Werke mit den realen Biographien deiner Mitspieler Atdhe Ramadani und Aeham Ahmad, der als „Pianist aus den Trümmern“ bekannt geworden ist – und damit auch ganz allgemein mit dem Thema Flucht und Migration. Wie Du schon angedeutet hast: Das gesellschaftliche Klima in Bezug auf dieses Thema ist in jüngster Zeit deutlich rauer geworden. Schlägt sich das irgendwie auch auf eure Produktion nieder – oder auf eure Stimmung als Spieler?
M.B.: Ja, das spüren wir ganz deutlich. Immer wieder passen wir Inhalte des Stückes auf aktuelle Entwicklungen an, immer wieder sind wir geschockt, wie das Thema Migration zum Problem hochgepusht wird und Dinge, die vor Kurzem noch unsagbar oder unvorstellbar schienen, plötzlich gesagt und gemacht werden. Das sogenannte „Sicherheitspaket“, das grade verabschiedet wurde, stellt einen weiteren massiven Eingriff in das Grundrecht auf Asyl und andere Grundrechte von Menschen dar – sicherer wird damit jedoch nichts. Die großen Probleme unserer Zeit bleiben unangetastet. Anstatt sie anzugehen, werden Migrant*innen zum Sündenbock gemacht. Das ist schockierend und unsere Aufführungen spiegeln das durchaus wider. Ganz im Sinne Albert Camus‘ lassen wir uns von dieser Stimmung jedoch nicht niederdrücken, sondern machen weiter, und lassen nicht locker, sprechen die Skandale an. An manchen Stellen kriegt unser Spiel inzwischen eine ganz andere Schärfe, in der man die Verzweiflung spürt. Ich bin dankbar dafür, auf der Bühne Dinge aussprechen zu können, die ich den manchen Leuten gerne jeden Tag ins Gesicht schreien würde.
Du hast in deinem Stück trotz der insgesamt schwergewichtigen philosophischen Themen von Camus und der gesellschaftlichen Brisanz immer wieder auch Momente der Komik und Heiterkeit eingebaut. Wie schwer ist es, angesichts der momentanen Situation solche Leichtigkeit rüberzubringen – und wie wichtig ist es Dir? Oder hat sich Deine Haltung dazu geändert?
M.B.: Es ist so unglaublich wichtig, den Humor zu behalten. Wenn wir den nicht hätten, würde eine Lähmung eintreten – bei uns im Team und im Publikum – und das wäre schrecklich. Ich bin so froh, dass Aeham, Atdhe, Felix und ich da so ähnlich ticken. Und grade die Verzweifelten, die Erschöpften, die unser Stück sehen, brauchen ja die Momente des Humors, der Leichtigkeit. Wir alle brauchen sie wie die Luft zum Atmen. Dieses Geschenk wollen wir uns gegenseitig machen.
Es ist wirklich faszinierend, wie die Philosophie Albert Camus‘ einem da Trost und Kraft an die Hand gibt. Die Dialoge aus der „Pest“ zum Beispiel, die wir eingebaut haben, treffen die aktuelle Situation auf den Kopf: „Es geht um Anstand“.
Termin: Freitag, 18. Oktober, 19.30 Uhr, auf der „Insel“, Wiesenstraße 6, 42105 Wuppertal. Eintritt: 18 / 8 Euro im Vorverkauf über www.wuppertal-live.de. 20 /10 Euro an der Abendkasse.
Eine Veranstaltung der Armin T. Wegner Gesellschaft e.V. in Kooperation mit Insel e.V. Dieser Theaterabend findet im Rahmen der Internationalen Armin T. Wegner Tage 2024 statt (mehr dazu: www.armin-t-wegner.de)
Der als „Pianist aus den Trümmern“ international bekannt gewordene Aeham Ahmad wuchs als palästinensischer Flüchtling im Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus auf. 2015 floh er nach Deutschland. Hier wurde er mit dem Internationalen Beethoven-Preis für Menschenrechte ausgezeichnet. Atdhe Ramadani musste als Kind aus dem Kosovo fliehen und wuchs in Schloss Holte-Stukenbrock auf. Martin Bretschneider war als Schauspieler unter anderem am Schauspielhaus Graz, am Theater in der Josefstadt Wien und am Bochumer Schauspielhaus engagiert. Am Theater Rottstraße 5 in Bochum spielte er Albert Camus‘ Caligula. In Wuppertal konnte man ihn bereits 2013 im Café Ada als Sprecher in dem musikalisch-literarischen Abend „Suite Camus“ erleben. Er ist in zahlreichen TV- und Filmproduktionen zu sehen, derzeit steht er gemeinsam mit Felicitas Woll und Steve Windolf für die ZDF-Reihe Neuer Wind im Alten Land vor der Kamera. 2013 wurde er für seine grenzüberschreitende Jugendtheaterarbeit mit dem Sport- und Jugendclub Hövelriege mit dem Julius-Hirsch-Preis ausgezeichnet. Mehr dazu, zu seiner Person und zu seiner Beziehung zu Albert Camus hier im Blog: Von Fußball, Völkerverständigung und die Traumbesetzung für die „Suite-Camus“.
Dies ist eindeutig ein Beitrag aus der Rubrik „Verpasste Gelegenheiten“: Der Hinweis auf das jährliche Camus-Festival in Lourmarin, das mittlerweile schon vorbei ist. Im vergangenen Jahr hatte ich die große Freude, dort zu sein, und auch dieses Jahr gab es ein wunderbares Thema, das die Reise bestimmt gelohnt hätte – allein, es war mir nicht möglich. Warum ich es trotzdem hier noch poste, ist einfach der Tatsache geschuldet, dass dieser Blog auch ein wenig als ein Archiv der Camus-Aktivitäten und Ereignisse fungieren soll, und da darf das Festival in Lourmarin natürlich nicht fehlen. Das Thema in diesem Jahr 2024: La Fraternité – die Brüderlichkeit. Mithin so ziemlich das, wovon wir gerade auf der ganzen Welt so bitternötig so viel mehr brauchen könnten.
Wie schon im vergangenen Jahr zu erleben, haben sich die früheren Rencontres mediterranéennes Albert Camus unter der Leitung von Camus-Enkelin Élisabeth Maisondieu-Camus vom ehemals wissenschaftlich ausgerichteten Symposion zu einem Publikumsfestival mit Filmvorführung, Lesungen, Ausstellung, Workshops und Musik entwickelt. Nur ein Vormittag mit drei Vorträgen ist dem wissenschaftlichen Austausch gewidmet (siehe Programm 28. September). Auf dem Plakat sehen wir übrigens Albert Camus mit seinem Freund Michel Gallimard.
Auf der anderen Seite scheint es aus dem früheren wissenschaftlichen Kreis der Camusianer in Lourmarin eine Art Abspaltung der Rencontres zu geben, über deren Hintergrund ich nicht allzuviel weiß und deshalb nicht spekulieren möchte. Die 1res Rencontres Méditerranée vivante mit dem Thema Reliere Albert Camus fanden bereits vom 12. bis 14. September 2024 im 250 Kilometer westlich von Lourmarin gelegenen Ort Pézenas statt. Auch hier wurde David Oelhoffens Camus-Adaption Loin des hommes gezeigt, auch hier gab es eine Ausstellung (von Jacques Ferrandez), eine Lecture musicale und dazu tables rondes mit Teilnehmern wie Agnès Spiquel, Jean-Louis Meunier, Marcelle Mahasela und anderen, die man aus früheren Zeiten in Lourmarin kennt.
Vielleicht schaffe ich es ja im nächsten Jahr hier- oder dorthin und kann etwas mehr in Erfahrung bringen. Dann werde ich natürlich berichten. Oder gibt es hier jemanden, der mitliest und uns im Kommentar aus eigener Anschauung berichten kann? Das würde mich sehr freuen. Für heute: au revoir et à bientôt!
Albert Camus‘ Der Fremde erstmals als Musiktheater: Musik und Inszenierung geben Geist und Sinnen gleichermaßen Futter.
Zur Uraufführung am 30. Juni hatte ich es leider nicht geschafft, aber jetzt hatte ich die Freude, doch noch eine Vorstellung der Kammeroper von Cecilia Arditto Delsoglio und Annette Müller nach Camus‘ Roman Der Fremde im Studio Werkhaus des Nationaltheater Mannheim erleben zu können. Und eine Freude war es wahrhaftig. Das Team Delsoglio/Müller hatte mit seinem Konzept (und einer auskomponierten Szene) den vom Mannheimer Theater ausgeschriebenen Kompositionswettbewerb gewonnen – und auch ohne die anderen Einreichungen zu kennen, kann man sicherlich sagen: Die Jury hat eine gute Wahl getroffen. Das Ergebnis überzeugt und macht, siehe oben: Freude.
Vor vielen Jahren gab ich auf die Frage, was meine Kriterien für eine Theaterrezension seien, kurz und bündig zur Antwort: „Wenn ich nicht geheult, gelacht oder nachgedacht habe, war’s nicht gut“.
Nun ist der Mörder Meursault in seiner ganzen indifférence sicher keiner, um den man Tränen vergießen würde. Sonderlich viel Anlass zum Lachen gibt die Geschichte auch nicht her. Zum Nachdenken bietet sie freilich reichlich Stoff, aber dazu bräuchte es keine Opernfassung. Ich muss konstatieren: Mein einstiger Dreifach-Prüfstein taugt hier nichts. Vielleicht hatte ich dabei einfach die Freude vergessen, das Vergnügen bereitende sinnlich-intellektuelle Erlebnis an sich.
„Ein sinnlich-intellektuelles Erlebnis“? Ist das nicht ein hölzernes Eisen? Nein, keineswegs. Cecilia Arditto Delsoglio hat sich nach eigenen Worten von Anfang an auf die sinnliche Dimension des Textes von Camus konzentriert – und bleibt dabei ganz nah am Protagonisten Meursault. Der nimmt die Welt und das Geschehen um sich herum über die Sinne wahr, ohne nachzudenken, ohne zu urteilen. Seine Welt ist die schlichter sinnlicher Vergnügungen im eher öden, aber ohne Verdruss erlebten Gleichmaß der Tage. Camus erschafft in seiner Erzählung die Atmosphäre drückend heißer algerischer Sommertage voller Licht und Hitze, angefüllt mit Farben und Geräuschen. Und der Komponistin gelingt es, diese sinnliche Dimension in Musik (Töne, Klänge) umzusetzen, während die Regie darauf verzichtet, auch nur den kleinsten Ansatz einer psychologischen Interpretation für diesen seltsamen Charakter Meursault anzubieten. Und genau das überzeugt. Bariton Joachim Goltz im hellen Sommeranzug gibt den Meursault mit klangvoller Stimme aber ohne jedwede Dramatik und schafft es tatsächlich über das ganze Geschehen hinweg, den gleichen völlig neutralen Gesichtsausdruck aufrechtzuerhalten, in den sich im zweiten Teil allenfalls ein wenig Erstaunen mischt.
Viel Platz für Aktion ist nicht auf der kleinen Studiobühne. Auch von einem Bühnenbild kann im traditionellen Sinne kaum die Rede sein. Zwischen dem auf der Bühne platzierten Orchester (links und rechts je sieben Musiker:innen) bleibt mittig nur wenig Spiel-Raum. Darin zu Anfang, weiß auf weiß, ein schlichtes Podest, auf dem schwarz gekleidet Meursaults verstorbene Mutter aufgebahrt liegt. In der Schwimmbadszene wird es im Boden versenkt zum Bad, wo Meursault auf Marie trifft; später reichen ein schlichter weißer Tisch und Stühle bzw. eine ebenfalls weiße Bank für alle weiteren Szenen. Zu keinem Zeitpunkt werden irgendwelche naturalistischen Bühnenillusionen geschaffen. Die in verschiedenen Farben beleuchtete Rückwand dient als Projektionsfläche für den Text, der anders als bei üblicher Opern-Übertitelung nicht parallel die (in französisch) gesungenen Worte übersetzt, sondern eins zu eins aus der deutschen Fassung von Der Fremde übernommen ist. Er erklärt und ergänzt somit das Bühnengeschehen, bzw. bringt den Zuschauer dazu, das Gesehene in eigener Imagination zu ergänzen.
Klingt in dieser Beschreibung alles ein bisschen spröde und gar nicht so sehr nach „sinnlich-intellektuellem Vergnügen“? Aber das ist gerade das Erstaunliche: Wie es dennoch gelingt. Zuvörderst natürlich durch die Musik, für die mir als musikalischer Laie die Mittel angemessener Beschreibung oder gar kompetenter Analyse fehlen. In der Wirkung jedenfalls ist sie ungemein dicht, komplex, spannend, flirrend, verwoben mit Alltagsgeräuschen wie dem Rascheln der Tageszeitung, dem Surren von Ventilatoren oder der Luftschwingung von Fächern, mit denen die Musiker:innen sich in der Gerichtsszene Luft zufächeln und damit zugleich zum Publikum im überhitzten Gerichtssaal werden. So wie einige Musiker in der Beerdigungsszene ihre Plätze verlassen und den Sarg umkreisend zu Spielern werden, die den (imaginären) Trauerzug anführen. Musikalische und szenische Funktionen verschwimmen, Text und Gesang laufen nicht parallel, alles greift ineinander und verzahnt sich, ohne dass das eine das andere einfach nur abbildet. Im Programmheft-Interview zitiert Cecilia Arditto Delsoglio die Aussage Robert Bressons „Gib nicht den Augen, was du den Ohren gibst“ (1). Dieser Maxime folgend gibt die Inszenierung Geist und Sinnen des Zuschauenden und Zuhörenden permanent Futter. Und weiter im Interview: „Wir versuchen, sehr stark das >Inter<- zu erforschen, im Sinne des Zwischenraumes. Damit ist Interaktion zwischen Sänger*innen und Instrumentalist*innen, zwischen Klang und Raum, zwischen Ton und Text gemeint. Wir versuchen, auf allen unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig zu erzählen und nicht einer Ebene die Deutungshoheit zu übertragen“ (2). Das gelingt vortrefflich und macht das Ganze so spannend.
Selbstredend, dass die exzellenten Sängerinnen und Sänger entscheidenden Anteil am gelungenen Ganzen haben. Neben dem schon erwähnten Joachim Goltz/Meursault ist es Amelia Scicolone als Marie, die aussieht, als wäre sie der Graphic Novel von Jacques Ferrandez entsprungen (mithin entzückend) und mit glasklarem, bis in höchste Höhen reichenden Sopran Frische und Unbekümmertheit ihrer Figur ausdrückt. Unsicherheiten gegenüber Meursaults merkwürdigem Verhalten lacht sie mit spitzen, stakkatohaften Koloraturen weg. Patrick Zielke überzeugt mit nuancenreichem Bass im ersten Teil als Heimleiter und windiger Kleinkrimineller Raymond (Meursaults Nachbar) ebenso wie als Untersuchungsrichter in schwarzer Robe und geradezu sich selbst aufblähender Bedeutung im zweiten Teil. Slavica Božić (mit schönem Mezzo) übernimmt verschiedene, zum Teil erzählerische Funktionen und schafft so einen stimmlichen Ausgleich im männerlastigen Kosmos von Der Fremde.
Bei aller Begeisterung und dem völligen Einverständnis mit dem ästhetischen Zugriff auf die Textvorlage – am Ende standen zwei dicke fette Fragezeichen in meinen Augen. Klar ist: Die Umsetzung eines Romans in ein Bühnenwerk erfordert immer Textstreichungen an der ein oder anderen Stelle. Dramaturgische Entscheidungen, bei denen diverse Aspekte eine Rolle spielen. Worauf muss, worauf will man verzichten? Die Aufführungslänge bei einem Stück ohne Pause spielt eine Rolle, die Umsetzbarkeit innerhalb eines Konzepts, braucht man eventuell weitere Darsteller, erfordert etwas zusätzliche Mittel etc. etc. Über weite Strecken habe ich absolut nichts vermisst – die ganze Geschichte ist im Prinzip da. Aber dann – – – fehlt die komplette Szene, in der Meursault in seiner Gefängniszelle Besuch vom Anstaltsgeistlichen bekommt, der ihn zur Reue bewegen will. Eine absolut entscheidende Szene für die Entwicklung dieser Figur Meursault, sein Ausbruch aus der Gleichgültigkeit, die Stunde des Bewusstseins, seine Abrechnung mit dem ganzen bigotten und verlogenen System einer Gesellschaft, die ihn letztlich zum Tode verurteilt, weil er auf der Beerdigung seiner Mutter nicht geweint hat.
Warum diese wichtige Szene weglassen, während man kleinen Nebengeschichten wie dem alten Salamano und seinem Hund oder Meursaults Fund der Tageszeitung mit der Geschichte von Das Missverständnis Raum gelassen hat? Nach der Vorstellung hatte ich Gelegenheit, Cecilia Arditto Delsoglio danach zu fragen. Natürlich hätten die Dramaturgin Annette Müller und sie darüber nachgedacht, und zunächst einmal sei es eine ökonomische Frage bezüglich der Reduzierung der Charaktere und der Textmenge gewesen, erklärt die Komponistin. Vor allem aber hätten sie das große Thema der Religion ausklammern wollen: „We wanted to keep it more universal.“ Die erwähnten kleinen Nebengeschichten dagegen seien so wunderbar und poetisch in ihrer Absurdität und würden dem Ganzen Farbe verleihen, die man in einer Oper eben auch brauche. – Verstehe ich, hätte aber trotzdem gegen ein paar zusätzlich Minuten umwillen der Priester-Szene ganz und gar nichts einzuwenden gehabt.
Mein zweites Fragezeichen: Die eingeblendeten Texte, die elementarer Bestandteil der Inszenierung sind, sind eins zu eins aus der deutschen Übersetzung übernommen (3). Collagehaft zusammengesetzt, aber nicht verändert. „We didn’t change a Komma„, betont die Komponistin, als ich zu meiner Frage ansetze. Ja – aber warum in aller Welt streicht man dann die letzten Worte von Meursault, mit denen der Text endet? Meursault wünscht sich am Ende für seine Hinrichtung nicht einfach „viele Zuschauer“, sondern „viele Zuschauer, die ihn mit Schreien des Hasses empfangen.“ Das ist keine Kleinigkeit.
Dies sei eine Entscheidung der Dramaturgin gewesen, sagt Cecilia, aber die kann ich leider nicht fragen. Ich vermute, dass diese Entscheidung mit der Umschiffung des Themas „Religion“ zusammenhängt, da sich die Aussage Meursaults als Referenz zur Kreuzigung Jesu auslegen lässt. Im Roman kommt dieser Satz aber unvermittelt wie ein mächtiger, dissonanter Schlussakkord daher, der einen in dem Moment völlig unvorbereitet trifft und zunächst mal mit einem großen Rätsel zurücklässt. Mag sein, dass ein solcher Schluss das Opernpublikum noch mehr irritiert hätte als die Leserschaft – aber das Publikum mit einem solchen Rätsel nach Hause zu schicken, an dem man noch lange herumknabbern kann, hätte Camus wohl mehr entsprochen. Und mir besser gefallen.
Was der Camus-Spezialistin Fragen aufgibt, muss aber die Opernbesucher, bei denen diese erste Umsetzung von Camus‘ berühmten Roman fürs Musiktheater hervorragend angekommen ist, nicht gleichermaßen interessieren. Deshalb will ich damit auch nicht enden. Ich denke vielmehr an jene Momente gegen Ende des Romans, in denen Meursault in seiner Gefängniszelle bewusst wird, dass er glücklich war und immer noch glücklich ist: Wenn er die Trompete eines Eisverkäufers hört und ihn Erinnerungen überfallen an ein Leben, in dem er die „ärmsten und hartnäckigsten Freuden“ gefunden hatte, oder wenn er in seiner Zelle die aufsteigenden Düfte aus „Nacht, Erde und Salz“ in sich aufsaugt und empfänglich wird für die „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“. Hier mischt Camus‘ in seinen klaren, völlig schnörkellosen Erzählstil von Der Fremde lyrische Töne, die aus seinen literarischen Essays stammen könnten. Cecilia Arditto Delsoglio findet für diesen Kunstgriff die perfekte musikalische Entsprechung mit wunderbaren melodiösen, tonalen, erzählerischen Klängen, die gegenüber der Gesamtkomposition wie ein Fremdkörper wirken. Als Zuhörer ist man hier am Ende ganz nah bei Meursault und teilt seine glücklichen Erinnerungen und seinen Einklang mit der Welt. Und das ist schließlich auch ein sehr schönes Gefühl, mit dem man nach Hause geht.
Wenn ich die Gelegenheit hätte, würde ich mir diese Inszenierung sofort noch einmal anschauen – und sicherlich noch viel mehr darin entdecken.
BESETZUNG: Komposition und Co-Regie: Cecilia Arditto Delsoglio. Musikalische Leitung: Pierre-Alain Monot. Regie und Bühne: Annette Müller. Kostüme: Oliver Kostecka. Dramaturgie: Daniel Joshua Busche, Jan Dvořák. Sopran: Amelia Scicolone. Mezzo: Slavica Božić. Bariton: Joachim Goltz. Bass: Patrick Zielke. Orchester des Nationaltheaters Mannheim.
Anmerkungen: (1) Im Gespräch mit Daniel Joshua Busche, Programmheft zur Uraufführung am Nationaltheater Mannheim am 30.6.2024, S. 21; (2) ebd. S. 22; (3) In neuer Übersetzung von Uli Aumüller, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek b. Hamburg 2024
Es ist Fußball-Europameisterschaft, und das heißt: Albert Camus rückt auf der Liste der meistverwendeten Zitate (mal wieder) ganz nach oben:
„… alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball …“ (1)
Auch die Albert Camus Gesellschaft in Aachen nimmt Camus‘ Fußball-Leidenschaft zum thematischen Anlass für den offenen Gesprächskreis am morgigen Dienstag, 25. Juni 2024. Der Vorsitzende Holger Vanicek sagt aber fast schon entschuldigend: „Es ist naheliegend, ja, beinahe schon kitschig, Albert Camus‘ Leidenschaft für den Fußball als Ausgangspunkt für ein Gespräch, das während einer Fußball-WM oder -EM stattfindet, zu wählen.“
Camus habe bei seinem Ausspruch sicherlich nicht an die großen Fußballverbände, die Funktionäre oder an irgendwelche Hooligans gedacht, denen die Selbstdarstellung wichtiger als das Spiel selbst ist, meint Vanicek. In der Ankündigung zum Jour Fixe fährt er fort: „Wenn 22 Spieler aufeinander treffen, kommen 22 Fähigkeiten, 22 Ideen von denen niemand vorher weiß, ob man sie auch umsetzen kann, zusammen. Eingespielte Strategien zweier Mannschaften hängen letztlich von einer Menge von Zufällen ab, beide wollen dasselbe erreichen, doch jeweils nur für sich selbst. Es entsteht ein Spiel, bei dem man sich körperlich verausgabt, einen Sieg erringt oder eine Niederlage erleidet und das nicht nur gegen den Kontrahenten, sondern vor allem gegen sich selber. Camus wusste
„… dass der Ball nie auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben …“ (2)
Camus‘ Jugendfreund Abel Paul Pitous berichtet in seinem kleinen Buch Mon cher Albert (3) über ein denkwürdiges Spiel von Camus‘ Mannschaft gegen einen gewohnt überlegenen Gegner. Nachdem man überraschend das erste Tor erzielt hatte, errang die Außenseiter-Mannschaft ein zweites, das zur Verwunderung aller Beteiligten aber durch den Schiedsrichter aberkannt wurde. Dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit begegnete Camus‘ mit einer erstaunlichen Geste. Als anschließend ein Gegenspieler mit dem Ball auf sein Tor zulief, stelle Camus sich nicht entgegen, sondern zog wie zum Gruße seine Ballonmütze und ließ ihn ungehindert passieren. Das Spiel war verloren, doch Camus hat die Schmach gegen ihn und seine Mannschaft in einen moralischen Sieg umgekehrt.
Diese Haltung, eine Unterlegenheit in eine andere Form der Überlegenheit umzukehren, erinnert an Camus‘ Aussage „Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.“ (4) Sisyphos hat keinen Einfluss auf das Schicksal, das man ihm auferlegt hat, doch er bestimmt, in welcher Weise er es annimmt. Hätte Camus‘ Mannschaft mit Wut reagiert, wäre die Schmach gegen sie vollendet gewesen. Mit seiner Geste aber hat er die Farce ad absurdum geführt und dadurch das in dieser Situation höchstmögliche Glück für sich und sein Team errungen.“
Es steckt also doch eine ganze Menge in dem schon halb zu Tode gerittenen Zitat, was Stoff für ein schönes Gespräch bieten kann!
Termin: Dienstag, 25. Juni 2024, um 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen (Eintritt frei).
(1) Albert Camus, Was ich dem Fußball verdanke, in: Abel Paul Pitous, Mon cher Albert, Ein Brief an Albert Camus. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Arche Verlag, Zürich 2014, S.84; (2) daselbst S. 81; (3) Es handelte sich um einen Brief, den er 1970, also zehn Jahre nach Camus‘ Tod, an ihn geschrieben hatte, der in seinem Nachlass entdeckt und 2013 dem Verlag Gallimard zur Verfügung gestellt wurde; (4) Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt 2010, S. 158.
Natürlich habe ich das Fußball-Thema auch schon das ein oder andere Mal im Blog aufgegriffen und auch die von Abel Paul Patous wiedergegebene Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählt. Zum Weiterlesen:
Als Adaption fürs Theater hat Albert Camus‘ Roman Der Fremde schon häufig den Weg auf die Bühne gefunden – aber als Oper? Das ist außergewöhnlich. 2019 hatte das Nationaltheater Mannheim einen internationalen Kompositionswettbewerb ausgerufen. „Gesucht werden Konzeptionen, die sich Camus’ Roman auf narrative, philosophische, phantastische oder genreübergreifende Art nähern“, hieß es damals in der Ausschreibung. Alle zeitgenössischen Musikstile von Avantgarde bis Pop waren möglich und erwünscht. Einzige Vorgabe: Das Stück sollte mit den Mitteln der Studiobühne eines Stadttheaters aufführbar sein und als Sängerbesetzung höchstens vier Personen aufweisen, eventuell plus Sprecher, aber keinen Chor.
Bekanntlich legte alsbald ein lästiges Virus das Kulturleben auf längere Zeit lahm, sodass es mit der Umsetzung ein wenig länger gedauert hat als vorgesehen, aber jetzt ist es so weit: Am 30. Juni 2024 feiert Der Fremde erstmals in Form einer Kammeroper Uraufführung auf der Studiobühne des Nationaltheaters Mannheim.
Geschaffen hat sie die 1966 in Buenos Aires geborene Komponistin Cecilia Arditto Delsoglio im Team mit Annette Müller (Libretto) und Bart Brouns (Beratung). Das Team war als Sieger aus dem Wettbewerb hervorgegangen, zu dem knapp 100 Bewerbungen aus aller Welt eingegangen waren. Sechs Finalteams wurden von der Operndramaturgie ausgewählt, welche die Aufgabe gemeistert hatten, eine Szene aus Der Fremde für Piano, Violine und drei Gesangsstimmen zu vertonen.
Eine erste Ahnung dessen, worauf man gespannt sein darf, vermitteln Statements aus der Begründung der Jury: „Ich habe mich für das Team um Cecilia Arditto entschieden, weil mir die Kombination einer klaren Erzählweise dicht am Autor mit einer phantastischen Welt aus Geräuschen, Klängen, Lichtern und Bewegungen spannend und innovativ erschien. Anstelle einer Oper erwarte ich mir ein fremde, poetische Klang-Welt„, erklärte Jurymitglied Jan Dvořák seine Entscheidung (Dramaturg, Komponist und Leiter des Festivals »Mannheimer Sommer«). Und auch dem Komponisten Sidney Corbett gefiel vor allem die „Linearität der Erzählweise“ und die „Sinnlichkeit der musikalischen Sprache“, besonders im Zusammenhang mit vom Text inspirierten Klangobjekten.
In diese Richtung hat sich offenbar die gesamte Oper weiterentwickelt – soviel verrät die Ankündigung des Nationaltheaters Mannheim:
„Eine poetische Welt aus Stimmen, Geräuschen, Instrumentalklängen, Ventilatoren und Wasserschüsseln? Die Komponistin Cecilia Arditto (…) liest Camus’ Schlüsselroman über das Leben im Zeitalter des Absurden als eine Art Partitur, bei der das Eigentliche immer zwischen den Zeilen steht: Die Sonne, die Hitze, die Gerüche, das Meer. „Der, der auf Raymond eingestochen hatte, sah ihn an, ohne etwas zu sagen. Der andere blies auf einer kleinen Flöte und wiederholte, während er uns ansah, unentwegt die drei Töne, die er aus seinem Instrument herausholen konnte. Während dieser ganzen Zeit war da nichts als die Sonne und diese Stille mit dem leisen Murmeln der Quelle und den drei Tönen.“ Cecilia Arditto Delsoglio wird gemeinsam mit Co-Regisseurin Annette Müller die Geschichte des vollkommen gleichgültigen Algerienfranzosen Meursault, seiner Freundin Marie, dem Kleinkriminellen Raymond und einem ganz unbegreiflichen Mord an einem Algerier zu einem intimen Drama der Klänge machen.
Ich hoffe doch sehr, dass ich es zu einer der Vorstellungen schaffen werde… Ich bin schon sehr gespannt darauf und freue mich auf das Erlebnis!
Der Fremde
Kammeroper von Cecilia Arditto Delsoglio und Annette Müller nach Originaltexten aus L’Étranger von Albert Camus. Dauer voraussichtlich ca. 1 Std 30 Min, keine Pause. In deutscher und französischer Sprache mit deutschen Übertiteln.
Termine:
Uraufführung am 30. Juni im Rahmen des Mannheimer Sommer 2024 (ausverkauft). Weitere Vorstellungen am 3., 6. und 13. Juli, 20 Uhr. Kurzeinführung jeweils um 19.40 Uhr.
Rahmenprogramm:
Einführungsmatinée: Am 23. Juni, 2024, 11 Uhr. Die Podiumsdiskussion (Opernintendant Albrecht Puhlmann und das Produktionsteam) mit Live-Musik bietet einen exklusiven Einblick in das Opernkonzept von Der Fremde und geht die großen Fragen rund um die Uraufführung an. Tickets
Film & Oper: Am 26. Juni 2024, 17.30 Uhr, gibt es eine der seltenen Gelegenheiten, die Visconti-Verfilmung von Der Fremde mit Marcello Mastroianni in deutscher Fassung zu sehen (über die hier im Blog schon das ein oder andere Mal zu lesen war, einfach mal Visconti in die Suchmaske eingeben).
Am 2. Juli 2024, 19.30 Uhr: „Journey to Algeria“ – Der Sound Nordafrikas mit der Band Haz’art, Info hier
Und am 4. Juli 2024, 19.30 Uhr: Musiksalon extra / Im Salon mit Cecilia Arditto
Mit dem Begriff „Wüste“ kann man ja die unterschiedlichsten Vorstellungen verbinden. Zum Beispiel sowas wie Ödnis und Dürre, mithin in etwa das, was schon viel zu lange auf diesem Blog herrscht, den der Andrang von Lebensereignissen und Alltagsanforderungen so weit hat austrocknen lassen, dass jetzt sogar schon die Veranstaltungsankündigungen auf den allerletzten Drücker kommen. – Oder man kann an all das denken, was Albert Camus Zeit seines Lebens an der Wüste seiner algerischen Heimat so fasziniert hat. Davon kann man bei einer Veranstaltung der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen mehr erfahren, denn die lädt am morgigen Samstag, 25. Mai 2024, zu Prosatexten von Camus zum Thema und Liedern aus Algerien ein. Passenderweise um 13 Uhr, also zur Mittagsstunde, wenn die Sonne zumindest über der Wüste hoch steht und so unerbittlich brennt, dass sie unter Umständen sogar tödliche Wirkung entfaltet – wie bei Meursault in Der Fremde, der der Sonne die Schuld für den von ihm begangenen Mord zuschreibt. Für Aachen und weitere hiesige Regionen ist für morgen allerdings Regen angesagt, und so bleibt uns nichts anderes übrig, als uns nicht nur mitten im Winter, sondern auch im ziemlich verregneten Frühjahr auf die Suche nach dem unbesiegbaren Sommer in uns zu machen.
Samstag, 25. Mai 2024, 13 Uhr: Albert Camus‘ Heimkehr in die Wüste, im philosophischen Institut LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen (Eintritt frei).
Außerdem noch der Hinweis auf zwei Leseabende bei der Lengfeld’sche Buchhandlung in Köln (Kolpingplatz 1, Nähe Hauptbahnhof), die ebenfalls zum Thema passen:
Am 4. und 5. Juni 2024 liest Helge Heynold jeweils um 19 Uhr aus Albert Camus‘ Novellen Die Stummen und Der Wind in Djemila. Der Eintritt ist frei (Spenden willkommen), aber Platzreservierung ist erforderlich (über die Webseite https://www.lengfeldsche.de/veranstaltungen.html oder telefonisch: 0221/2578403.
Wer es nicht nach Köln schafft: Die Lesung kann zudem unter folgendem Link online verfolgt werden:
„(…) ein einziges Haar dieses Kindes ist mir lieber als der Himmel selbst. Ich mache den Mund auf. Und sei es nur, um dem da zu sagen, dass er nie das Recht auf seiner Seite hatte, denn das Recht, hörst du, Casado, das Recht ist aufseiten derer, die leiden, stöhnen und hoffen. Und es ist nicht, es kann nicht aufseiten derer sein, die rechnen und raffen.“ (1)
Zu meiner schon sehr lange bestehenden Liebe zum Figurentheater habe ich mich hier ja schon des öfteren bekannt. Bei mir hat sich das vom geliebten Kasperletheater als Kind eher in eine kunstvolle Richtung entwickelt, Camus dagegen liebte auch das derbe Puppentheater des Grand-Guignol sehr. „Das ist wahres Theater“, soll er dazu bemerkt haben (2). Was hätte er wohl dazu gesagt, dass ein Figurentheater sein Stück Der Belagerungszustand inszeniert? Ich vermute, er wäre zumindest neugierig gewesen. Genau wie ich, nur findet das Ganze leider mal wieder nicht bei mir um die Ecke statt, sondern im Wendland.
Claudia de Boer vom Figurentheater Blauer Mond hat sich das Stück vorgenommen, bei dem es sich trotz des gemeinsamen Themas der Pest keineswegs bloß um eine Theaterfassung von Camus‘ Roman Die Pest handelt, wie er selbst betont hat. Ein Blick hinein genügt, um festzustellen, dass Camus so ziemlich alle großen Themen hineingepackt hat, die ihm wichtig waren. Darauf nimmt auch die Ankündigung auf der Theaterwebseite Bezug:
„Ich habe nie aufgehört, den ‚Belagerungszustand‘ trotz all seiner Unzulänglichkeiten als das Werk zu betrachten, das mir am meisten entspricht“, so Albert Camus, Antifaschist und radikaler Humanist, über sein metaphorisches Theaterstück. Camus schildert darin, wie ein plötzlich errichtetes tyrannisches System die Menschen und ihre Werte verändert. Der zeitlose Text, der eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft in der Krise zeigt, hat nichts an Brisanz und Aktualität verloren. Er trifft mit einer großen Wucht. In unserer Umsetzung orientieren wir uns an Camus‘ Vorgabe, alle denkbaren Formen des Ausdrucks zu verwenden: Figurenspiel, Schattenspiel, Schauspiel, Hörspielelemente und eine eigens entwickelte Bühnenmusik werden verwoben, um dem vielschichtigen Theaterstück gerecht zu werden.“
Zur Premiere im November 2023 gab es viel Lob. Jetzt stehen weitere Aufführungen an:
TERMINE: Samstag, 20. April 2024, 20.15 und Sonntag, 21. April, 18 Uhr, beim Kulturverein Platenlaase, Jameln, sowie am 9. und 10. Mai, 20 Uhr, in der Zeetzer Mühle in Zeetz im Rahmen der Kulturellen Landpartie Niedersachsen. Mehr Infos hier; Karten unterTelefon 05865/ 9883373.
Der Belagerungszustand (L’État de Siège) wurde 1948 am Théâtre Marigny in Paris uraufgeführt. Regie führte Jean-Louis Barrault, das Bühnenbild stammte von Balthus und die Bühnenmusik von Arthur Honegger. In der Inszenierung von Claudia de Boer, die auch die Figuren gebaut hat, sorgt Johannes Gahl für Live-Musik am Klavier.
.
.
(1) in: Sämtliche Dramen. Erweiterte Neuausgabe. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 2013, S. 214. (2) vergl. Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 783.
„Schließlich glaube ich (wie man sagt: ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde), daß die Freiheit und die freie Gegenüberstellung der Verschiedenheiten die unerläßliche Bedingung intellektueller Schöpfung und historischer Gerechtigkeit bilden. Ohne Freiheit keine Kunst; die Kunst lebt nur von den Beschränkungen, die sich sich selbst auferlegt, an den anderen geht sie zugrunde. Aber ohne Freiheit auch kein Sozialismus, es sei denn der Sozialismus der Galgen.“ (1)
Der Jour fixe der Albert Camus Gesellschaft in Aachen am kommenden Dienstag 12. März 2024, rückt unter dem Titel Camus‘ Sozialismus – und Sozialismus heute den politischen Camus in den Mittelpunkt.
Ich weiß nicht, ob das Thema der Freiheit der Kunst dabei auch Thema sein wird, aber bei der Suche nach einem schönen Zitat, um die Ankündigung auszuschmücken, wie ich es gern tue, stieß ich auf den oben zitierten Schluss des Interviews, welches Albert Camus 1956 im Zusammenhang mit dem Aufstand in Ungarn gegeben hat. Auf eine Umfrage der von Iganzio Silone und Nicola Chiaromonte geleiteten italienischen Zeitschrift Tempo presente hatte er die Antworten gegeben, die er anschließend für die französischen Leser von Demain näher ausgeführt hat. Deutsch findet man es unter dem Titel Der Sozialismus der Galgen in der Sammlung Fragen der Zeit. Ob nun im Zusammenhang mit dem Sozialismus oder davon vollkommen lösgelöst scheint es mir einerseits von zeitloser Gültigkeit und andererseits heute angesichts ausufernder Debatten über das, was im Bereich der Kunst und Kultur von immer mehr mit- bzw. gegeneinander ringenden Interessengruppen gerade alles als nicht mehr statthaft angesehen wird, so dringlich und aktuell wie schon lange nicht mehr.
Holger Vanicek schreibt in der Ankündigung für den Jour fixe:
„Der Sozialismus hatte in seinem Ursprung noch konkrete Leitgedanken, anhand derer man zumindest gewisse Eckpunkte in seiner Auslegung definieren konnte. Doch bald schon entwickelten sich vielfältige Strömungen der linken Bewegung, die sich zum Teil auch untereinander bekämpften. Albert Camus stand dem Sozialismus immer sehr nahe, vor dem Krieg war er kurzzeitig Mitglied in der kommunistischen Partei, danach hatte er enge Kontakte zu sozialistischen Politikern, die sich um den Wiederaufbau der französischen Republik mühten, schließlich zog es ihn hin zu den Anarcho-Syndikalisten. Sozialismus heute zu definieren, fällt insbesondere schwer, da sich neben Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten die Bewegung in immer neue Strömungen auffächert, die sich eher im Hinblick auf das politische Tagesgeschäft als durch ihre ursprünglichen Intentionen unterscheiden.
Was steckt hinter der sozialistischen Idee, wie sie etwa Camus‘ Verständnis entspricht? Diese Fragestellung dürfte auch im Hinblick auf die anstehende Europawahl interessante Aspekte hervorbringen.
Nach einer kleinen Einführung in das Thema, wollen wir mit Euch/ Ihnen darüber ins Gespräch kommen. Die Teilnahme ist (wie immer) offen für alle Interessierten, kostenlos und ohne Anmeldung möglich. Ein Vorwissen ist nicht erforderlich, Neugier hingegen förderlich.
Termin: Dienstag, 12. März 2024 um 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen.
***
(1) Albert Camus, Der Sozialismus der Galgen, in: Fragen der Zeit, Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Hamburg 1960, S. 188)