Superman Sisyphos – ein Camus-Abend mit Witz und Tiefgang

Martin Bretschneider als Sisyphos im Superman-T-Shirt. ©Fotos: Julian Jakobsmeyer

Ein Albert-Camus-Abend, der Textpassagen aus seiner Nobelpreisrede, aus dem philosophischen Essay Der Mythos von Sisyphos, dem Theaterstück Caligula, dem Roman Die Pest und dem literarischen Essay Hochzeit in Tipasa miteinander verbindet– und für den man als Zuschauer völlig ohne Vorkenntnisse der Gedankenwelt Camus‘ auskommt. Der außerdem Lebensgeschichten von Geflüchteten thematisiert und die schwierige Situation der zunehmend kriminalisierten Seenotrettung im Mittelmeer. Und der einen dennoch nicht mit gedankenlastiger Schwere niederdrückt, sondern packend und, ja, unterhaltsam und voller witziger Momente ist. Dieses Kunststück gelingt Martin Bretschneider und seinen Mitspielern Aeham Ahmad und Atdhe Ramadani mit dem Stück A Mission for Sisyphos, das am vergangenen Samstag im ostwestfälischen Hövelriege Premiere feierte.

Doch von vorn. Ein Mann dreht mit einem Akkuschrauber Bretter im Bühnenboden fest, Zuschauer vermuten irritiert, das könne ja wohl noch nicht zum Stück gehören. Doch, tut es: In Albert Camus‘ Wohnung sind die Handwerker zugange. Camus (Martin Bretschneider) probt derweil seine Rede zur bevorstehenden Entgegennahme des Literaturnobelpreises. Es will ihm nicht recht gelingen, viel zu sehr hadert er mit dem Preis, er meint, ihn nicht verdient zu haben. Seine Verzweiflung beschreibt er, Ekel in der Stimme, überaus anschaulich: Dass man meine, die Verzweiflung sei eine Krankheit der Seele, doch dass es vielmehr der Körper ist, der leidet: „Meine Haut tut mir weh, meine Brust, meine Glieder. Mein Kopf ist hohl, und mir ist übel. Und das Schrecklichste ist dieser Geschmack im Mund.“  – Bretschneider hat, nur für Eingeweihte kenntlich, Camus die Worte Caligulas in den Mund gelegt. – Nicht ungern lässt sich Camus bei seiner frustrierenden Arbeit an der Nobelpreisrede von einem der Handwerker (Aeham Ahmad) unterbrechen, der fragt, ob er mal auf dem schönen Klavier spielen dürfe – und wird von dessen unerwartet virtuosem Spiel aus seinen trüben Gedanken gerissen.

Aeham Ahmad – Pianist und Tischler. ©Fotos: Julian Jakobsmeyer

Der Kollege (Atdhe Ramadani) kommt hinzu – „wir sind dann für heute fertig, Herr Professor“ –, aber Camus lässt die beiden nicht gehen und lädt sie auf ein Bier ein, er will wissen, warum dieser offenkundig begnadete Pianist als Tischler arbeitet, interessiert sich für die beiden. Und die sich wiederum für ihn, vor allem dafür, warum der „Herr Professor“ so unglücklich ist. Was dieser mit einem Exkurs über das Absurde beantwortet. „Klarer Fall von Midlife-Crisis“, diagnostizieren die beiden, womit keinesfalls die Ernsthaftigkeit und Gedankentiefe Camus‘ ins Lächerliche gezogen wird – aber auf höchst erfrischende Weise vom richtigen Leben konterkariert wird. Und während man beim mit witzigen Wendungen gespickten Feierabendbiergespräch der drei gerade noch dachte, das sei ja wohl der unterhaltsamste Camus-Abend, der sich denken ließe, wird man unversehens von den realen Lebensgeschichten dieser beiden gut gelaunten Handwerker kalt erwischt und in eine existenzielle Ernsthaftigkeit geradezu hineinkatapultiert.

Atdhe Ramadani als Kriegsgott Ares

Collagehaft werden verschiedene Szenen ganz unterschiedlicher Art zusammengesetzt, finden aber immer einen sinnvollen dramaturgischen Übergang. Etwa wenn Camus, der gerade noch über den Sisyphos theoretisiert hat, sich seines Jacketts entledigt und sich in den antiken Helden im Superman-T-Shirt verwandelt. Da wird Sisyphos lebendig: wie er die Götter überlistet, ihnen entwischt, wie er das Leben „am leuchtenden Meer, auf der lächelnden Erde“ mit einer schwärmerischen Passage aus Hochzeit in Tipasa preist und feiert, wie er sich mit Kriegsgott Ares (großartig: Atdhe Ramadani) anlegt, in dessen Worten man wiederum Caligula wiedererkennt.

Bretschneider gelingt es mit dem von ihm konzipierten Stück, den Tiefenraum zwischen Ernsthaftigkeit und Witz nahezu während des gesamten Abends zu halten und immer wieder neu auszuloten. Einzig eine vielleicht etwas lang geratene Passage mit appellativem Charakter über die Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum und den Umgang der reichen westlichen Länder damit erscheint zunächst als das Spielgeschehen unterbrechender Fremdkörper – fügt sich dann aber doch ein als Brücke zum Camus-Thema der Revolte mit Textpassagen aus der Pest. Vor allem aber macht sie auf eindringliche Weise deutlich, dass wir es beim Eintauchen in die Gedankenwelt von Albert Camus nicht mit zeitlich und thematisch fernen abstrakten philosophischen Diskursen zu tun haben. Sondern dass wir ganz alltäglich und immer wieder neu mit Spielarten des Absurden konfrontiert sind, die uns herausfordern und verlangen, uns dazu zu verhalten.

Beim Premieren-„Heimspiel“ in Hövelriege wurden die Spieler von Seiten des sehr heterogenen und altersgemischten Publikums im an den dortigen Sport- und Jugendclub angegliederten Interkulturellen Zentrum mit lang anhaltenden „standing ovations“ bedacht. Die Anbindung an den SJC mit seiner aktiven interkulturellen Arbeit war für diese Produktion zweifellos ideal. Es ist aber unbedingt zu wünschen, dass A Mission for Sisyphos noch weitere Spielorte finden wird, idealer Weise in Kooperation mit Flüchtlingsinitiativen oder Interkulturzentren und mit Schulen, denn lebendiger kann man (nicht nur) Jugendlichen Camus wohl kaum nahebringen.

Glücklich nach der erfolgreichen Premiere: Martin Bretschneider, Aeham Ahmad, Atdhe Ramadani. ©Foto: A. Reif

Vorerst letzte Gelegenheit, das Stück zu sehen, ist allerdings am morgigen Samstag, 4. Februar, 19.30 Uhr, im SJC Hövelriege, Alte Poststraße 142, 33161 Hövelhof. Tickets per E-Mail über felix@sjcmagazin.de.

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Aeham Ahmad hat über seine Geschichte ein Buch geschrieben:
Und die Vögel werden singen. Ich, der Pianist aus den Trümmern. Verlag S. Fischer 2019, 368 Seiten, TB 13 Euro
(ISBN: 978-3-596-70421-7).

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„A Mission for Sisyphos“ – Martin Bretschneider bringt einen Camus-Abend auf die Bühne

„Der französische Philosoph Albert Camus, der syrische Pianist Aeham Ahmad, der kosovarische Geflüchtete Atdhe Ramadani, der griechische Held Sisyphos und der algerische Arzt Bernard Rieux treffen aufeinander und unterhalten sich über die Absurdität des Daseins, den Hass auf den Tod, die Verachtung der Götter und die Liebe zum Leben.“

Das ist, laut Programmzettel kurz zusammengefasst, der Inhalt von A Mission for Sisyphos – ein Theaterabend, den der Schauspieler Martin Bretschneider gemeinsam mit Aeham Ahmad und Atdhe Ramadani erarbeitet hat, und der am kommenden Samstag, 28. Januar 2023, im Interkulturellen Zentrum in Hövelriege Premiere feiern wird.

Das klingt erstmal nach einer ziemlich wilden Mischung, die Fragen aufwirft. Wie kommen diese Protagonisten überhaupt zusammen? Was verbindet sie? Und wieso findet das ausgerechnet in einem an einen Jugend- und Fußballclub angegliederten Kulturzentrum in Hövelriege statt? Wo ist das überhaupt? Am besten, wir fragen einfach mal Martin Bretschneider.

Martin Bretschneider. © Sven Serkis 

Martin, nochmal ganz von vorn: Welche Idee liegt A Mission for Sisyphos zugrunde, was ist das Kernthema? Und wie kommt es zur Zusammenarbeit mit Aeham Ahmad und Atdhe Ramadani?

Martin Bretschneider: Die Arbeit mit Geflüchteten ist ja ein Thema meines ehrenamtlichen Engagements in Hövelriege, wo es jetzt ein interkulturelles Zentrum gibt, das sich um die Teilhabe von Menschen mit Zuwanderungshintergrund kümmert. Das Thema der Seenotrettung, die jetzt immer mehr kriminalisiert wird, interessiert mich ebenso… Deshalb war ich in Berlin bei einer Lesung von SOS-Humanity, die hieß Tatort Mittelmeer. Tatort-Stars lasen Berichte von Flüchtenden auf dem Mittelmeer, und Aeham spielte Klavier. Da haben wir uns kennengelernt, und ich war begeistert von seiner Persönlichkeit und seiner Gesprächsenergie. Wir haben uns einige Zeit später in Hövelriege getroffen und beschlossen, ein gemeinsames Projekt zu machen. Atdhe kenne ich schon seit vielen Jahren aus meiner ehrenamtlichen Jugendarbeit im SJC Hövelriege. Er kam schon als Fünfjähriger aus dem Kosovo zu uns, hat schon als Kind hier Fußball und Theater gespielt und ist inzwischen Theaterpädagoge und Schauspieler. Unterstützung für A Misson vor Sisyphos haben wir vom Landesbüro Darstellende Künste NRW bekommen, die die Projektidee toll fanden. Der Abend wird das Thema der Flucht mit dem Sisyphos-Motiv und Stücken aus den Schriften und der Gedankenwelt von Albert Camus verbinden.

Es ist kurz vor der Premiere – wie läuft die Probenarbeit bislang?

Organisatorisch war es ziemlich kompliziert, vor allem, weil Aeham inzwischen einen festen Job als Tischler angenommen hat. Nach der Arbeit auf der Baustelle kommt er zu den Proben, dazu spielt er ja noch Konzerte und hat Plattenaufnahmen… Ein verrückter Typ, im besten Sinne. Seine Energie ist sensationell. Was das Stück angeht: Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, das zu erzählen, was wir erzählen wollten.

Du sprichst von einem „Stück“ – es wird also nicht etwa eine Lesung mit verschiedenen Camus-Texten und Musik…

Genau. Es gibt eine szenische Rahmenhandlung, die alles zusammenhält. Da kommen Aeham und Athde mit Albert Camus ins Gespräch. Die Textfassung stammt von mir – wobei man das natürlich gar nicht alleine machen kann, denn wir erzählen ja auch aus Atdhes und Aehams Leben, von ihrer Flucht, von tragischen, von schrecklichen Momenten und vom Glück, endlich angekommen zu sein… Wo eine gewisse Stufe von Sicherheit erreicht ist – aber die Absurditäten trotzdem nicht aufhören.

Als Mitarbeiter des interkulturellen Zentrums in Hövelriege interessiert mich natürlich auch das Gefühl des „Gegen-Windmühlen-Ankämpfens“ von Leuten, die sich für Geflüchtete engagieren. Etwa, wenn jemand über Jahre im Status der „Duldung“ lebt, deutsch gelernt und Freunde gefunden hat, und man schafft es sogar, ihm einen Ausbildungsplatz zu vermitteln – und dann kommt die Abschiebung… Diese Sinnlosigkeitserfahrung wollte ich ebenfalls thematisieren.

Es ist aber nicht nur die Gleichung, dass jede Art Absurdität oder Vergeblichkeit sich mit dem Sisyphos-Mythos verbinden lässt, was die Verbindung zu Camus herstellt, oder? Sonst hättest du dich gewiss nicht so tief in die Philosophie von Camus eingearbeitet… Wieviel Camus kommt also ins Spiel – und wie?

Natürlich würde ich so einen Abend nie machen, nur um traurige Fakten aufzuzählen. Im Gegenteil, es geht auch um die Möglichkeiten der „Revolte“, wie Camus sagt. Oder um die Frage: Wie schafft man es, sich selbst so zu konditionieren, dass man das Engagement für bessere Zustände und den Kampf gegen Unrecht durchhält, dass man nicht irgendwann verzweifelt und zusammenbricht? In dem Zusammenhang ist für mein Lebensgefühl Die Pest unglaublich wichtig. Dr. Rieux und die Figuren um ihn herum in ihrem Kampf gegen dieses scheinbar unüberwindliche Grundübel, das hat mich total fasziniert und inspiriert. Wie bringt man sich – nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen – in eine Energie, um weiterzumachen.

Die Figur des Sisyphos interessiert mich auch schon vor der Strafe – seine Verachtung der Götter, seine Liebe zum Leben, sein Hass auf den Tod. Da kommen dann auch Caligula, Hochzeit in Tipasa und andere Texte ins Spiel. Tatsächlich glaube ich, dass der Abend auch gut geeignet ist als eine Art Einführung in das Denken von Albert Camus.

Es gibt ja leider bislang nur die drei Termine in Hövelriege – gibt es schon die Aussicht auf weitere Spielorte?

Im Moment bin ich noch nicht so viel dazu gekommen, aber wir strecken natürlich die Fühler aus und hoffen, dass sich über unsere vielen verschiedenen Kontakte weitere Möglichkeiten ergeben werden. Denn wir möchten natürlich, dass das Stück gesehen wird!

Martin, ich bin sehr gespannt auf den Abend! Toi toi toi für die Premiere!

Termine: 28., 29. Januar und 4. Februar, 19.30 Uhr, im Interkulturellen Zentrum Hövelriege. Karten per E-Mail über felix@sjcmagazin.de

P.S.: Hövelriege liegt übrigens in Ostwestfalen zwischen Bielefeld und Paderborn.

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Martin Bretschneider wurde 2013 für seine grenzüberschreitende Jugendtheaterarbeit mit dem Sport- und Jugendclub Hövelriege mit dem Julius-Hirsch-Preis ausgezeichnet. Mehr dazu, zu seiner Person und zu seiner Beziehung zu Albert Camus hier im Blog:
Von Fußball, Völkerverständigung und die Traumbesetzung für die „Suite-Camus“. Zur Webseite von Martin Bretschneider hier, und weitere Infos (Filmographie/Showreel) hier und hier.

Caligula – grandioses Theater in der Rottstraße 5
„Man muss Werther sein oder nichts“ – oder: Von der geheimen Verwandtschaft zwischen Goethes Werther und Camus‘ Caligula

Aeham Ahmad wurde als „Pianist aus den Trümmern“ bekannt. Eine beeindruckende Begegnung war für mich sein Auftritt 2018 in Wuppertal, den ich schon damals in Verbindung mit Camus gebracht hatte:
Vom Gesang der Vögel oder Warum Weihnachten in diesem Jahr für mich einen Tag früher kam

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Camus auf diversen Bühnen – von der Verlockung bis zur Trigger-Warnung

Mit Albert Camus‘ „Die Besessenen“ in der Regie von Jette Steckel eröffnen am 25. Januar 2023 die „Lessingtage“ am Thalia-Theater in Hamburg. Foto: Armin Smailovic

Zwischenzeitlich denke ich öfters, es sei in Bezug auf Camus deutlich ruhiger geworden auf den Bühnen im Vergleich zu den vergangenen Jahren – aber dann ploppt doch immer wieder was auf. Nicht, dass man da als Camus-Freund immer gleich hinrasen müsste, aber es ist doch interessant zu sehen, wer sich wo wie mit Camus beschäftigt. Zum Beispiel:

* Am Mittwoch, 18. Januar 2023, 19.30 Uhr, kann man im Theater am Ring in Villingen-Schwenningen Camus‘ Novelle L‘hôte (Der Gast) in einer Bühnenfassung in französischer Sprache erleben. „Die Erzählerin der Bühnenfassung stellt sich ganz in den Dienst der literarischen Vorlage: der Schönheit und Prägnanz von Camus‘ Stil und der Plastizität und Intensität der Schilderung“, heißt es in der Ankündigung (mit Nathalie Cellier, Regie: Peter Steiner). Info/Tickets hier.

* Am 25. Januar 2023, 19 Uhr, werden im Thalia Theater Hamburg die Lessingtage mit Albert Camus‘ Die Besessenen – Camus‘ Bühnenadaption von Dostojewskis Roman Die Dämonen – in der Regie von Jette Steckel eröffnet. Die Lessingtage sind ein internationales Theaterfestival, das dem Aufklärungsgedanken seines Namensgebers Gotthold Ephraim Lessing folgend jährlich aktuelle Produktionen, Diskurse, Lesungen und vieles mehr zu gesellschaftlich relevanten Fragen präsentiert – der Blick auf ein spannendes Programm (25.1. bis 12.2.2023) lohnt sich. Auch die Ankündigung von Die Besessenen liest sich spannend:

„Freiheit braucht Mut. In dieser Erkenntnis trifft sich Albert Camus’ unbeirrbarer Geist mit Dostojewskijs großer Erzählung „Dämonen“. Sie ist Ausgangspunkt für „Die Besessenen“ – einer Geschichte über die Abgründe der menschlichen Psyche und über das Verbrennen an den eigenen Ideen. Um den faszinierenden Nikolai Stawrogin gruppieren sich Nihilisten, Fromme, Gleichgültige, liberale Idealisten und Revolutionäre – ein Clash der Generationen und Überzeugungen. Die Zerrissenheit des Menschen im Kampf mit der Geschichte, in der alles, was nicht mit echter Er­fahrung zu Ende gedacht ist, zur Ideologie verkommt. Albert Camus, Nobelpreisträger und einer der wichtigsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts, hat Dostojewskijs „Dämonen“ unter dem Brennglas der eigenen Existenzphilosophie verdichtet: Welche Haltung kann man der Welt entgegensetzen in Zeiten politischer und ökologischer Krisen – in der Freiheit und Vernunft von den Gegenkräften der Gewalt und des Absurden beherrscht werden? Hausregisseurin Jette Steckel ist eine erfahrene Camus-Interpretin. „Der Fremde“ lief über 10 Jahre sehr erfolgreich im Thalia in der Gaußstraße. Jetzt inszeniert sie Camus’ meisterhafte Dialoge zwischen politischer Debatte, großer Situationskomik und tiefer Tragik. „Die Besessenen“ ist Ausgangspunkt einer modernen Untersuchung des Zustands zwischen Ohnmacht und Tatendrang, Ratlosigkeit und Zersplitterung: ein Hochdruckkessel.“

Nach der Premiere bei den Lessingtagen sind Die Besessenen wieder am 29. Januar, 20. Februar und 5. März im Thalia Theater zu sehen. Info/Tickets hier.

* Im Corona-Jahr 2020 brachte das Staatstheater Wiesbaden (wie so viele) Die Pest in einer Bühnenversion heraus – hier als Solostück mit Matze Vogel in einer Fassung von Sebastian Sommer. Nächster Termin ist am 2. Februar. Zu den Tickets hier. (im Blog schon ausführlicher vorgestellt, einfach mal in die Suchfunktion eingeben).


* Wenn wir hier schon bei den Ankündigungen sind, darf natürlich ein Termin nicht fehlen, zu dem es hier hoffentlich aber in Kürze noch Ausführlicheres zu lesen geben wird: Nämlich Martin Bretschneiders Camus-Abend A Mission For Sisyphos in Hövelriege. Premiere ist am 28. Januar, 19.30 Uhr, weitere Vorstellungen am 29. Januar und 4. Februar.

Achtung, Trigger-Warnung vor Caligula!

Nach den Vorschauen nun noch ein kleiner Rückblick auf die Caligula-Premiere an den Berliner Kammerspielen (u.a. mit Darstellern des Theaters Ramba Zamba) am 17. Dezember 2022, wenn auch nicht aus eigener Anschauung. Was mir nach diesem fulminanten Verriss von Lilja Rupprechts Inszenierung nicht so arg leid tut, auch wenn man sich natürlich immer selbst ein Bild machen sollte. „Wir blicken in eine bühnenbreite Wanne mit verkohlten Schnipseln und ein paar Männern, die am Anfang dunkle Anzüge, dann rote Strümpfe zu schwarzen High Heels und am Schluss neckische Lackkleidchen und keine Hosen tragen. Ähnlich treibt’s Elias Arens als Caligula, nachdem er zuerst in einem Paillettenanzug glänzte. Man haut sich Camus’ Text um die Ohren oder sagt ihn brav auf. Dabei wird gern herumgestanden“, schreibt Irene Bazinger in der FAZ vom 22.12.22 – und meint in Bezug auf die „Trigger-Warnung“ auf der Theater-Webseite: „Unter uns: Das bisschen Blut und Würgen und dezentes Begatten ist im deutschsprachigen Theater 2022 keine besondere Überraschung. Viel eher wäre eine Warnung ganz anderer Art angebracht gewesen: „Diese Inszenierung enthält explizit keine Kunst und weiß nicht genau, warum sie überhaupt gezeigt wird, was Sie möglicherweise verstören kann, wofür wir uns schon einmal entschuldigen möchten, wir wissen es nämlich nicht besser.“ Die ganze Kritik ist hier nachzulesen.

Nun denn. Wer sich nicht abschrecken lässt: Weitere Vorstellungen sind am 25. Januar und 13. Februar 2023. Infos/Tickets hier.

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Ein ZeitZeichen zum Geburtstag von Simone de Beauvoir

115 ist nicht gerade ein runder Geburtstag, aber das braucht es ja auch nicht unbedingt, um an etwas oder jemanden zu erinnern. Dachte sich wohl auch der WDR und sendet am morgigen Montag, 9. Januar 2023, ein ZeitZeichen zum Geburtstag der am 9. Januar 1908 geborenen und 1986 in Paris gestorbenen Simone de Beauvoir. Der Autor Christoph Vormweg hatte bereits im vergangenen Oktober ein ZeitZeichen zu Albert Camus produziert. Sicherlich wird die Beauvoir darin als Autorin und Philosophin, als Ikone der Frauenbewegung und in ihrem Verhältnis zu Sartre im Mittelpunkt stehen, aber mal schauen, vielleicht kommt Camus ja doch am Rande vor. Das eher kühle Verhältnis zwischen Beauvoir und Camus einmal nachzuskizzieren, ist eines der vielen Themen, die noch auf der langen Blog-Liste stehen… Endgültig getrübt war es nach Erscheinen von Beauvoirs Roman Die Mandarins von Paris, der von vielen als „Schlüsselroman“ angesehen wurde und bis heute wird (was die Autorin selbst freilich bestritten hat). 1954 erhielt sie dafür den renommierten Literaturpreis „Prix Goncourt“. Camus ist in dem Roman in der Gestalt des Henri Perron erkennbar, Sartre in der des Robert Dubreuilh.

Am 12. Dezember 1954 notiert Camus während eines Rom-Aufenthaltes in sein Tagebuch:

„12. Dezember. Eine Zeitung fällt mir in die Hände. Die Pariser Komödie, die ich vergessen hatte. Die Posse des Goncourt. Diesmal für Die Mandarins von Paris. Anscheinend bin ich hier die Hauptperson. In Wahrheit der in seiner damaligen Tätigkeit genommene Autor (Leiter einer aus der Widerstandsbewegung hervorgegangenen Zeitung), und alles übrige ist falsch, die Gedanken, die Gefühle und die Handlungen. Mehr noch: Die zweifelhaften Handlungen aus dem Leben Sartres werden mir großzügig aufgehalst. Abgesehen davon Dreck. Aber nicht absichtlich, gewissermaßen wie man atmet. Fühle mich besser. Grauer Tag. Es regnet auf Rom, dessen gründlich gewaschene Kuppeln schwach schimmern. Mittagessen bei F.G. Abend allein, ohne Fieber.“ *

Interessant in diesem Zusammenhang ist eine sehr ausführliche Kritik zur Veröffentlichung des Romans in deutscher Übersetzung im Spiegel 5.12.1955, die man zur Gänze im Netz nachlesen kann mit dem Titel „Fast ein Meisterwerk“.

Das ZeitZeichen wird gesendet am 9. Januar 2023 auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr), SR 2 KulturRadio: (9.05 Uhr) und NDR-Info: (20.15 Uhr). Als Podcast im Anschluss jederzeit nachzuhören unter: wdr.zeitzeichen-geburtstag-simone-de-beauvoir

Herzlichen Dank an Holger Vanicek von der Albert Camus Gesellschaft für den Hinweis auf die bevorstehende Ausstrahlung des dieses ZeitZeichens!

* Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 179
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Zehn Jahre 365-Tage-Camus: Bienvenue 2023!

Zehn Jahre lang bin ich auf dem Blog nicht gealtert… Jetzt ist es soweit! Fotos 2013 und 2023: Anke Dörschlen. ©privat

Herzlich willkommen 2023! Ich begrüße das neue Jahr, ich begrüße alle Blog-Leserinnen und Camus-Freunde (und umgekehrt) – und ganz besonders diejenigen, die hier schon von Anfang an mitlesen. „Von Anfang an“, das bedeutet nämlich heute auf den Tag genau zehn Jahre. Zehn Jahre! Als ich den Blog 2013 im Jahr des 100sten Geburtstags von Albert Camus begann, war der Plan, begrenzt auf ein Jahr jeden Tag etwas zu posten. 365 Tage Camus eben. Daraus wurde nichts – 365 Tage sind es 2013 nicht geworden. Dafür aber genau 551 Beiträge in zehn Jahren. Camus-Inspirationszitate, Ankündigungen und Kritiken von Theateraufführungen, Buchbesprechungen, Hinweise auf Vorträge, Lesungen, Ausstellungen, Neuerscheinungen, Reiseberichte auf den Spuren von Camus, Begegnungen, Tagebucheinträge, verstreute Gedanken…

Zehn Jahre „Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe“. Im Moment ist es leider vergriffen. ©Fotos: privat

Zehn Jahre 365-Tage-Camus wären ein guter Zeitpunkt gewesen, um einen Schlussstrich zu ziehen, nachdem ich in den vergangenen Monaten ohnehin immer weniger Zeit für den Blog aufbringen konnte. Tatsächlich stapeln sich die Bücher und Themen, von denen ich hier erzählen wollte – und es dann doch nicht geschafft habe. Aber genau das ist andererseits auch ein guter Grund, nicht aufzuhören: Themen gibt es noch reichlich. Ein noch besserer Grund ist die Tatsache, dass es ohne den Blog nie diese wunderbaren Begegnungen mit anderen Camus-Freunden gegeben hätte, die ich nicht missen möchte, und die Resonanz, die ich über Sie und Euch, liebe Leserinnen und Leser, erfahre. Und schließlich bringt der Blog mich selbst dazu, Camus nicht über allzu lange Strecken aus den Augen zu verlieren. Schließlich will jede Freundschaft gepflegt werden, wenn sie lebendig bleiben soll. Sie braucht Austausch, Neugier, das offene Gespräch. Das Gespräch, das ich seit Jugendtagen mit Albert Camus führe, will ich nicht missen. Er hat uns noch sehr viel zu sagen.

Ich freue mich sehr, wenn Sie und Ihr weiterhin mit dabei seid und über jede und jeden, der Camus hier neu für sich entdeckt! Allen ein wunderbares neues Jahr 2023, voll mit Liebe, Licht und Zuversicht! In diesem Sinne: Bonne année à tous et à bientôt!

Wer Lust hat, nochmal zum Anfang zurückzukehren: Zum allerersten Blogbeitrag am 1. Januar 2013 geht es hier: 1. Januar 2013: Auf den Spuren von Camus in Paris

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Caligula metzelt in Berlin und singt in Weimar

Premiere an den Kammerspielen des DT in Berlin wird mit
Trigger-Warnung angekündigt. Nationaltheater Weimar nimmt die Oper von Detlev Glanert wieder auf.

Albert Camus‘ „Caligula“ an den DT-Kammerspielen in Berlin. In der Titelrolle: Elias Arens. ©Foto: Arno Declair

Eine Caligula-Premiere ist für den heutigen 17. Dezember zu verzeichnen. Natürlich längst ausverkauft, weshalb es vielleicht verzeihlich ist, dass sie im Blog erst jetzt auftaucht. Menschen in und um Berlin haben aber immerhin die Chance, an der Abendkasse nach Restkarten zu fragen bei den Kammerspielen am Deutschen Theater Berlin, wo das zentrale Theaterstück von Albert Camus aus seinem Werkstadium des Absurden in der Regie von Lilja Rupprecht heute Premiere feiert. Das Besondere hier: Es handelt sich um die vierte Produktion am Deutschen Theater, in der Ensemblemitglieder des DT und Ensemblemitglieder des inklusiven RambaZamba Theaters gemeinsam auf der Bühne stehen. Vermutlich darf man sich darauf gefasst machen, dass die Inszenierung die Textvorlage auf ziemlich drastische Weise umsetzt, denn die Ankündigung auf der Theaterwebseite enthält eine ausdrückliche Trigger-Warnung: Diese Inszenierung enthält explizite Darstellung körperlicher und sexualisierter Gewalt, was belastend oder retraumatisierend wirken kann.“

Unter dem Button digitales Bonusmaterial gibt es einen lesenswerten Beitrag von Ensemblemitglied Manuel Harder über die bisherige Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen von RambaZamba.

Deutsches Theater Berlin, Kammerspiele: Premiere am 17. Dezember 2022. Weitere Vorstellungen. 22. und 29. Dezember 2022 sowie 9., 15. und 25. Januar 2023. Infos und Tickets hier.

„Caligula“ in der Oper von Detlev Glanert frei nach Albert Camus am Deutschen Nationaltheater Weimar. Szenenfoto mit Oleksandr Pushniak (Caligula) und dem Opernchor des DNT Weimar. Foto: Candy Welz

Während sich in jüngster Vergangenheit viele Theaterbühnen des Caligula-Dramas von Albert Camus angenommen haben, ist der Stoff in musikalischer Fassung eher selten zu erleben. Die Gelegenheit dazu gibt es noch drei Mal am Nationaltheater Weimar: Am 27. Dezember steht dort die Wiederaufnahme der Caligula-Oper von Detlev Glanert an (Libretto: Hans-Ulrich Treichel). „Detlev Glanert schrieb seine 2006 uraufgeführte Oper auf Grundlage des gleichnamigen Dramas Albert Camus. Glanert blickt dabei mithilfe der Musik direkt in das in Unwucht geratene Seelenleben Caligulas. Hierbei funktioniert das Orchester selbst als „musikgewordener Körper“ durch den wir in Caligulas Innenwelt blicken und auch die anderen Protagonist*innen durch seine Augen und Ohren wahrnehmen. Dirk Schmeding hat als Regieassistent am DNT seine Theaterlaufbahn begonnen und kehrt nun als international gefragter Regisseur nach Weimar zurück,“ heißt es auf der Theaterwebseite. Es spielt die Staatskapelle Weimar. Einen Beitrag zu Detlev Glanerts Arbeit am DNT sowie 15 Fragen an Regisseur Dirk Schmeding gibt es im Hauseigenen Theater- und Konzertmagazin »SCHAUPLATZ«, das man auf der Webseite als herunterladen kann (hier als PDF). Einen kleinen Einblick bietet ein Videotrailer.

Nationaltheater Weimar, Großes Haus: Wiederaufnahme am 27. Dezember 2022. Weitere Termine: 6. Januar 2023 und 26. Januar (letzte Vorstellung). Infos und Tickets hier.

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Martin Bretschneiders Abschied von Werther – dringende Empfehlung: nicht verpassen!

Eine Tour de Force der Gefühle: Martin Bretschneiders „Werther“ geht unter die Haut. Am 25. November zum letzten Mal. ©Fotos: Oliver Paolo Thomas

Die Platzzahl im kleinen Theater in der Rottstraße 5 in Bochum ist überschaubar, man sollte sich dringend ein Ticket sichern. Denn am 25. November 2022 besteht die letzte Möglichkeit, Martin Bretschneiders fulminanten Soloabend „Werther“ (nach Johann Wolfgang Goethe) zu sehen: Nach zehn Jahren nimmt der Schauspieler Abschied von der Rolle. Warum es ein schwerer Fehler wäre, diesen Theaterabend zu verpassen, habe ich hier im Blog bereits beschrieben. Ebenso, was das Ganze mit Camus zu tun hat (viel). 365tage-camus wollte wissen, warum Martin Bretschneider die Rolle, die er über einen so langen Zeitraum mit so viel Leidenschaft ausgefüllt hat, aufgibt.

Martin, nachdem du den „Werther“ als Solostück zehn Jahre lang mit großem Erfolg immer wieder gespielt hast, steht jetzt am 25. November im Theater an der Rottstraße in Bochum die letzte Vorstellung an. Warum hörst du auf? 

Martin Bretschneider: Werther ist in einer Zeit entstanden, als mir seine Geschichte sehr nahe war. Die Inszenierung hat mir geholfen, über eine unglückliche Liebesgeschichte hinwegzukommen. Dann hat er mich zehn Jahre lang begleitet. Es war bei den Vorstellungen, als würde ich einen jüngeren Bruder, ein jüngeres Alter Ego treffen. Inzwischen bin ich sowohl künstlerisch als auch privat an einem ganz anderen Punkt und denke, es ist Zeit, Abschied zu nehmen.

Oder wird man gar irgendwann zu alt für den so radikal liebenden jugendlichen Werther? Was ist deine persönliche Meinung: Ist eine solch extreme Hingabe an die eigenen Gefühle ein Vorrecht der Jugend? Wie es bei Camus im Sisyphos heißt: „Eine einzige Liebe, und alles ist verschlungen

M.B.: Das glaube ich nicht. Für radikale Liebe ist man nie zu alt, und sie ist schon gar kein Vorrecht der Jugend. Aber man ist allerdings hoffentlich irgendwann zu erwachsen dafür, sich selbst in den eigenen Gefühlen – besonders im eigenen Schmerz – immer wieder zu bespiegeln, sich geradezu darin zu suhlen, wie Werther es tut. Das hat etwas Egoistisches, was meinem heutigen Bild von Liebe nicht mehr entspricht. 

Du hast den Werther jetzt zehn Jahre lang gespielt – hat sich dein Verständnis der Rolle oder dein Verhältnis zur Figur Werther über die Zeit verändert?

M.B.: Nicht mein Verhältnis zu Werther, aber mein Bild von der Liebe hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert, durchaus mehrfach. Zur Zeit der Premiere hatte ich mir geschworen, mich nie wieder so hemmungslos in eine Liebe, eine Beziehung hineinfallen zu lassen. Die ersten Vorstellungen waren damals immer ein Spiel mit dem kaum überwundenen Schmerz. Es war heilsam, mich in dieser Absolutheit und in dieser Sucht, sich den Mitmenschen mitzuteilen, selbst auf die Schippe zu nehmen. Ich würde mich jedoch niemals über ihn lustig machen. Im Gegenteil, ich liebe diesen Werther bis heute. 

Hier im Blog ist schon einiges über die Verbindung Camus-Werther und über die Verbindung Camus-Bretschneider zu lesen… Du arbeitest gerade an einem eigenen Abend zu Camus. Verrätst du schon etwas darüber?

M.B.: Der syrische Pianist Aeham Ahmad und ich bereiten gerade einen Theaterabend unter dem Titel „A Mission For Sisyphos“ vor. Aeham Ahmad hat eine dramatische Flucht aus Damaskus nach Deutschland erlebt. Unsere Performance wird die Absurdität des Umgangs der EU und Deutschlands mit Geflüchteten beleuchten. Die Verzweiflung, das Grauen, das Sterben, aber auch der Kampf und der Mut zum Weitermachen werden im Zentrum stehen. Es geht um die Revolte gegen eine Welt, die so wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen ist. (*)

Ganz herzlichen Dank für die so persönliche Beantwortung der Fragen! Ich wünsche Dir schon jetzt viel Erfolg für A Mission For Sisyphos – und toi toi toi für die Werther-Abschiedsvorstellung!

Termin:
Werther. Nach Johann Wolfgang Goethe in einer Fassung von Hans Dreher und Martin Bretschneider. Freitag, 25. November 2022, 19.30 Uhr, ROTTSTR5 THEATER, Bochum. Tickets hier.

(*) „Die Welt in ihrer jetzigen Gestalt ist nicht zu ertragen.“ Albert Camus, Caligula, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 21.

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Von Empörung, Revolte, Tomatensoße und Laubsaugern

Gedanken in Assoziation zum morgigen Vortrag bei der
Albert Camus Gesellschaft in Aachen zu Albert Camus‘
Drama Die Gerechten

Wer sich nicht beim rechten Anlass zu empören vermag, dem fehlt eine Dimension des Menschseins.“ Ich saß als junge Studentin im Seminar bei Wolfgang Janke, es ging um Albert Camus, und ich höre heute noch den klaren, unaufgeregten aber ungemein entschiedenen Tonfall, mit dem der bewunderte Lehrer diese Sentenz in den Raum stanzte. An der unmittelbaren Regung der Empörung angesichts von Unrecht und untragbaren Zumutungen, auch dann, wenn diese gar nicht die eigene Person betreffen, zeigt sich, in welchem Maße wir zu Mitmenschlichkeit und Solidarität fähig sind. Im Denken von Albert Camus ist die Kategorie der révolte – zunächst im Sinne von Empörung und schließlich im engeren Sinne der Revolte eine der grundlegenden Kategorien der „Philosophie des Absurden“.

Aber wie genau steht es mit der Empörung, die Menschen heute aus den unterschiedlichsten Beweggründen auf die Straße treibt? Die unfassbar mutigen Menschen im Iran, die gerade nicht aufhören, gegen die Unterdrückung durch die Mullahs zu protestieren, die Frauen dort, die sich öffentlich die Kopftücher vom Haar reißen und dabei ihr Leben riskieren. Die lautstark durch die Straßen ziehenden Impfgegnerinnen und -Gegner und Maskenverweigerer während der Hochzeit der Pandemie, die sich in ihrer Freiheit bedroht sahen, in Kauf nehmend, andere Menschen damit zu gefährden. Die Empörung einer Greta Thunberg – „how dare you!“ – und einer ganzen Generation, die in Sorge über ihre Zukunft auf diesem Planeten ist, über das nicht ausreichend entschlossene Handeln im Angesicht des Klimawandels. Die Empörten, die nicht wahrhaben wollten, dass ihr selbstherrlicher Präsident die Wahl verloren hat (genauso wenig wie dieser selbst) … wie leicht ließ sich aus dieser Empörung eine Revolte anzetteln, die in Washington zum Sturm auf das Capitol geführt hat. Die Liste lässt sich fortsetzen…

Wohin führt uns die Empörungsspirale?

Angesichts solch disparater Beispiele heißt es wohl, einzugestehen, dass der Impuls der Empörung, der doch eigentlich unmittelbar aus einem zutiefst verinnerlichten, möglicher Weise sogar angeborenen Sinn für Recht und Unrecht zu entspringen scheint, tatsächlich gar kein solides moralisches Fundament hat. Dass die Empörung genauso aus purem Egoismus entspringen kann, aus Angst, aus Neid, aus der Zumutung, auf etwas verzichten zu sollen.

Wohin bringt uns die Empörung? Und was wird aus einer Gesellschaft, in der die Empörung immer schneller, immer heißer hochkocht? Man schaue nur in die so genannten sozialen Medien: Wieviel Empörung schlägt einem dort unausgesetzt entgegen – von Fahrradfahrern, Autofahrern, Fußgängern, Gendersprache Befürwortern und Gegnern, Kämpfern gegen „kultuelle Aneignung“, Vegetariern, Veganern, Fleischessern (alles jeweils auch die entsprechenden *innen), ach, es ist endlos; und jeder dieser Posts ruft wieder eine empörte Antwort hervor, immer schneller dreht sich die Empörungsspirale, immer gehässiger und verbal gewalttätiger werden die Erwiderungen, und jeder glaubt die Moralität auf seiner Seite zu haben, egal, ob es um die „höhere Sache“ oder nur um die Verteidigung ureigenster Interessen geht.

Je me révolte, donc nous sommes“ – ich empöre mich, also sind wir – sagt Camus, und das klingt, als würde die révolte immer schon in eins das „Wir“ mit konstituieren, als handele sie immer sogleich im Namen aller und nicht im partikularen Interesse. Dass es so einfach nicht ist, weiß Camus aber auch. In seinem Drama Die Gerechten geht es eben darum. Auch die kleine Gruppe russischer Revolutionäre, die den Anschlag auf den Großfürsten plant, ist überzeugt davon, im Namen des unterdrückten Volkes, ja im Namen aller Menschen zu handeln. Für Stepan, den radikalsten von ihnen, gilt gar „Die Freiheit ist ein Gefängnis, solange ein einziger Mensch auf Erden geknechtet ist.“ *

Wie weit darf die Revolte gehen?

Aber wie weit darf die Revolte gehen? Stepan ist überzeugt davon, dass das Ziel den Einsatz blutiger Gewalt rechtfertigt, auch wenn dabei Unschuldige (in dem Fall Kinder) sterben. Aber die Gruppe ist gespalten.

Wie weit darf die Revolte gehen? Was ist der rechte Ausdruck für berechtigte Empörung? Heiligt der Zweck die Mittel? Die Fragen, die im Mittelpunkt des Dramas Die Gerechten stehen, sind keineswegs abstrakt. Und sie sind nicht historisch fern, denn sie stellen sich jeden Tag neu. Heute zum Beispiel in Anbetracht von blockierten Autobahnen und Kunstwerken, die mit Kartoffelbrei und Tomatensoße attackiert werden, womit Aktivisten auf das drängende Thema des Klimawandels aufmerksam machen und zum Handeln aufrufen wollen. Auch wenn die Frage nicht von gleicher Tragweite ist wie die nach der Bombe auf die Kutsche des Zaren – es geht im Kern um die gleichen Fragen: Wie weit darf man gehen? Ist das Begehen von Unrecht zu rechfertigen, wenn damit größeres Unrecht verhindert werden kann? Wie viel Tomatensoße muss noch auf Bilder geworfen werden, damit auch die ordentliche Hausfrau, deren Schotterweg vor dem Einfamilienhaus am Waldesrand so picobello aussieht wie der frisch gesaugte Wohnzimmerteppich, versteht, dass tägliches Hantieren mit dem Laubsauger im Herbst mitten in der Energiekrise ein kleines Teilchen im großen Problemmosaik ist? Oder verhindert Tomatensoße auf Bildern vielleicht sogar an vielen Stellen das Einsetzen eines Erkenntnisprozesses und löst nur einen Abwehrreflex aus?

Bei Camus lernen wir, dass und warum die Empörung/Revolte unbedingt der Ergänzung durch die Kategorie der Solidarität bedarf – und dass auch dies die Widersprüche nicht auflöst. Die Gerechten sind immer wieder ein guter Anlass, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.

Gelegenheit dazu gibt es am morgigen Dienstag bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen. Holger Vanicek, Vorsitzender der Gesellschaft, hält einen Impulsvortrag zum Drama Die Gerechten und lädt zum anschließenden Gespräch ein. „Was macht Sinn? – Was ist erlaubt und wozu bin ich verpflichtet? Würde ich mein Leben für eine kollektive Gerechtigkeit hergeben? Gibt es eine höhere Wahrheit? Es mag spielerisch erscheinen, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, weil das abstrakte Gedanken sind – doch in Wahrheit betreffen sie uns ständig, wenngleich in den meisten Fällen unbewusst“, sagt Vanicek dazu.

Ich bedanke mich herzlich, dass die AC-Gesellschaft damit mal wieder meinen Blog aufgeweckt hat!

Termin: 8. November 2022, 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Der Eintritt ist frei, da es sich um eine Kooperationsveranstaltung mit der VHS-Aachen handelt, wird aber um Anmeldung bei der VHS gebeten. Spontane Besucherinnen und Besucher sind aber auch willkommen.

(*) Albert Camus, Die Gerechten, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 189.

P.S. Beinahe vergessen… Heute ist ja ein besonderer Tag… Bonne anniversaire, cher Albert Camus! Es wäre sein 109ter. Das habe ich im Beitrag zwar nicht ausdrücklich gewürdigt – aber kann es ein schöneres Geschenk geben als die Gewissheit, dass die eigenen Gedanken noch so lange nachwirken?

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Morgen ein Zeitzeichen: Albert Camus wird mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet

Am morgigen 17. Oktober 2022 wird auf verschiedenen Sendern ein „ZeitZeichen“ von Christoph Vormweg zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Albert Camus am 17. Oktober 1957 ausgestrahlt. In der Sendung kommt auch der Vorsitzende der Albert Camus Gesellschaft in Aachen, Holger Vanicek/Sebastian Ybbs zu Wort. Hier die Ankündigung vom SR (Saarländischen Rundfunk – das ZeitZeichen ist eine Kooperation von SR 2 KulturRadio mit dem Westdeutschen Rundfunk):

Albert Camus  (Foto: IMAGO / Leemage)

Freude über einen Nobelpreis? Nichts für Albert Camus! Ein „eigenartiges Gefühl der Niedergeschlagenheit“ befiel den Schriftsteller, als er von der Ehrung hörte. Denn die Nobelpreis-Akademie pflegte Lebenswerke zu würdigen. Er aber wollte den Neuanfang. Die Nachricht von der Verleihung erreichte Albert Camus, den Chronisten des Absurden, in einer tiefen Schreibkrise. Schon länger lästerte man im Pariser Literaturbetrieb, der Autor des Weltbestsellers „Der Fremde“ sei ausgeschrieben und maßlos überschätzt. Auch seine Zerrissenheit als Algerienfranzose lastete auf ihm: wegen des Krieges in seiner Heimat gegen die französische Kolonialmacht. Den blutigen Terror der Befreiungsfront wollte Albert Camus jedenfalls nicht gutheißen. Mit 43 Jahren war Albert Camus der zweitjüngste Preisträger überhaupt. Würde ihn der Literaturnobelpreis lähmen oder inspirieren? Was er nicht wusste: Ihm blieben nur noch gut zwei Jahre, um sich als Schriftsteller zu beweisen. Denn er starb Anfang 1960 bei einem Autounfall. Was würde sich im Nachlass finden? Das Bild ganz oben zeigt Albert Camus (IMAGO / Leemage).

Ausstrahlung Montag 17.10.2022
SR 2 KulturRadio: 9.05 bis 9.20 Uhr
WDR 5: 9.45 bis 10 Uhr
WDR 3: 17.45 bis 18 Uhr
NDR-Info: 20.15 bis 20.30 Uhr.

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„Mama, noch nie hast du mir so gefehlt“


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„Lo straniero“ – Visconti-Verfilmung von „Der Fremde“ läuft in der Originalversion in Berlin

Im Gefängnis: Marcello Mastroianni als Meursault in Viscontis Verfilmung von „Der Fremde“. ©Editions Gallimard

Ganz auf die Schnelle ein Hinweis für alle Camus-Freunde und -Freundinnen in und um Berlin: Das Arsenal Institut für Film- und Videokunst zeigt am 11. Oktober die selten zu sehende Verfilmung von Albert Camus‘ Roman Der Fremde von Lucchino Visconti in der Originalversion mit englischen Untertiteln. Auf der Ankündigungsseite heißt es:

„Luchino Viscontis verkanntester Film, eine bei ihrem Erscheinen – trotz erstaunlicher Werktreue – sehr gemischt aufgenommene, seither kaum gezeigte Adaption von Albert Camus’ ,Der Fremde‘. Das angeblich Unverzeihliche: Die Schattenwelt, die existentielle Leere, die den gleichgültigen Protagonisten des Buchs umgibt, wird von Visconti mit gewohnt sorgfältig rekonstruierter, realistischer Detailfülle versehen, der ebenso ungreifbare existentialistische Anti-Held mit Psychologie und der Star-Präsenz von Marcello Mastroianni. Das Portrait absoluter Entfremdung, die Geschichte eines sinnlosen Mordes und seiner Folgen, muss sich hier – in typischer Visconti-Manier – den Platz mit einem Gesellschaftsportrait teilen. Viscontis Fremde: Algier in den 1930er Jahren, durchwirkt von Rassismus und Spannungen zwischen den einheimischen Kolonisierten und den französischen Kolonisatoren.“ (Christoph Huber).

Lo straniero. Regie: Luchino Visconti. Italien, Frankreich / 1967 (104 Min. / 35 mm / OmE)

Termin: Dienstag, 11. Oktober 2022, 20 Uhr. Arsenal 1, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin.

Danke an Mark Tykwer für den Tipp!

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