Ein Eifel-Spaziergang mit Albert Camus

Spazierengehen mit Camus geht nicht nur im Luberon! Das Foto stammt von einem Spaziergang im Westerwald, am 26. August geht’s mit Camus auf Eifelwanderung. ©Anne-Kathrin Reif

„Denn schon nach wenigen Schritten überwältigt uns der Duft der Wermutbüsche. Ihre graue Wolle bedeckt die Ruinen, so weit das Auge reicht. Ihr Saft gärt in der Hitze und verbreitet über das ganze Land einen Duftäther, der zur Sonne steigt und den Himmel schwanken macht. Wir gehen der Liebe und der Lust entgegen. Wir suchen weder Belehrung noch die bittere Weisheit der Größe. Sonne, Küsse und erregende Düfte – alles Übrige kommt uns nichtssagend vor.“ *

Dieses schöne Zitat aus Hochzeit des Lichts stellt die Aachener Albert-Camus-Gesellschaft ihrer Einladung zur nächsten Veranstaltung voran: einem literarischen Spaziergang zum Thema „Natur“ am 26. August rund um das Eifelstädtchen Nideggen mit anschließender Einkehr. Ob man dabei Sonne erwarten kann, lässt sich zwar heute noch nicht sagen, und auch auf Küsse und erregende Düfte sollte man vielleicht keine allzu großen Hoffnungen setzen… Erwarten darf man aber gewiss einen schönen Tag in wunderschöner Eifellandschaft, inspirierende Texte von Albert Camus und weiteren Autorinnen und Autoren und einen anregenden Austausch mit netten Menschen. Was für eine schöne Idee! Schließlich kann man überall mit Camus spazieren gehen, nicht nur im Luberon.

Eingeladen sind alle, die Lust dazu haben, Mitgliedschaft in der AC-Gesellschaft ist keine Voraussetzung!

ABLAUF:
26. August 2023: Treffpunkt 12 Uhr am Bahnhof Nideggen-Abenden, Conzenstraße. Zunächst lädt Ronja Forbrig von der Albert Camus Gesellschaft zu einem Aperitif ein (Auf dem Hilkenrath 36 in Abenden). Anschließend geht es zu ausgesuchten Orten in der Natur der Umgebung. An Felsen, am Wasser, im Tal und auf den Höhen werden Textpassagen vorgelesen und sich darüber ausgetauscht – gerne können alle Teilnehmenden dafür kurze Texte mitbringen und vorlesen. Einkehr mit gemeinsamem Essen ist im Anschluss wiederum bei Ronja Forbrig.

LOGISTISCHES:
Von Aachen aus bietet die AC-Gesellschaft Fahrgemeinschaften an. Wer eine Mitfahrgelegenheit sucht oder anbietet, melde sich bitte per Mail bei Holger Vanicek: ho.vanicek@gmail.com

Anmeldungen zur besseren Planung bis zum 21. August 2023 bitte per Mail ebenfalls an diese Adresse.

Wer nicht gut zu Fuß ist, kann ab 16 Uhr gerne zum gemeinsamen Beisammensein hinzukommen (Auf dem Hilkenrath 36, Nideggen-Abenden). Sollte das Wetter an diesem Tag nicht zum Besten sein, wird der Spaziergang kürzer gestaltet. Angepasste Kleidung und eventuell eine Sitzunterlage sind gleichwohl zu empfehlen. Für das gemeinsame Essen wird gebeten, eine Kleinigkeit mitzubringen. Wer keine Gelegenheit hat, etwas vorzubereiten, darf gerne etwas in das Sparschwein tun. Für Getränke wird gesorgt.

*Albert Camus, Hochzeit des Lichts, Arche Literatur Verlag 2019, S.10f 

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Vom flüchtigen Geschmack unverdienten Glücks

Ein kleiner Nachschlag zum letzten Beitrag über die Ausstellung La Postérité du soleil bei der Fotostiftung Schweiz in Winterthur: Von poetischer Dichte sind die kleinen Texte, die Albert Camus zu den Aufnahmen der Schweizer Fotografin Henriette Grindat von Streifzügen im Luberon gemacht hat – ein Ton, wie er sich in seinem Werk nicht oft findet. Für die Ausstellung wurden die Texte erstmals umfassend auf deutsch übersetzt. Ein schönes Beispiel hat die Presseabteilung der Fotostiftung mitgeschickt:

Le taureau enfonce ses quatre pattes dans le sable de l’arène. L’église du Thor ne bouge plus, force de pierre. Mais qu’elle se mire dans la Sorgue claire, la force s’épure et devient intelligence. Elle encorne le ciel en même temps qu’elle s’enfonce dans un lit de cailloux, vers le ventre de la terre. Sur le pont du Thor, j’ai senti parfois le goût vert et fugitif d’un bonheur immérité. Ciel et terre étaient alors réconciliés.

Der Stier stemmt seine Hufe in den Sand der Arena. Die Kirche von Le Thor bewegt sich nicht mehr, Kraft des Steins. Aber wenn sie sich in der klaren Sorgue spiegelt, verfeinert sich die Kraft und wird Klugheit. Sie nimmt den Himmel auf die Hörner, während sie sich in ein Bett von Kieseln stemmt, gegen den Bauch der Erde. Auf der Brücke von Le Thor habe ich manchmal den grünen und flüchtigen Geschmack unverdienten Glücks empfunden. Himmel und Erde waren dann versöhnt.

Henriette Grindat, Le Thor, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz

AUSSTELLUNG
La Postérité du soleil, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, CH–8400 Winterthur, 8. Juni bis 6. August 2023. www.fotostiftung.ch

Mehr dazu im vorigen Beitrag Unterwegs mit den Nachkommen der Sonne
Ein lesenswerter Beitrag mit zahlreichen Bild/Text-Beispielen aus der Ausstellung hier im Schweizer Tagblatt.

Und hier noch einmal der Hinweis von Blog-Leser Michael Löwe auf einen Youtube-Beitrag über Henriette Grindat. Vielen Dank!

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Unterwegs mit den Nachkommen der Sonne

Eine Foto-Ausstellung in Winterthur nimmt uns mit auf einen Spaziergang im Luberon
mit Albert Camus, René Char und Henriette Grindat: La Postérité du soleil.

Henriette Grindat, Peupliers et tournesols, route de Velleron, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz

Die Rubrik „Ausstellungen“ ist gewiss jene, die in diesem seit zehn Jahren geführten Blog am wenigsten gefüllt ist. Nun aber sorgt die Fotostiftung Schweiz in Winterthur für einen schönen Anlass zu einem Eintrag: Noch bis zum 8. August 2023 ist dort die Foto-Ausstellung Henriette Grindat / Albert Camus / René Char – La Postérité du soleil zu sehen. Camus-Freundinnen und -Freunde kennen vielleicht den Bildband gleichen Titels, der lange nur noch antiquarisch zu haben war, 2009 aber von Gallimard in einer großformatigen Ausgabe neu herausgebracht wurde. Er beinhaltet Fotografien von Henriette Grindat, zu denen Albert Camus kleine poetische Texte verfasst hat, und sein Dichterfreund René Char das Vorwort schrieb. Aber wie kam es dazu? Ich war dieser Geschichte bisher nicht nachgegangen und freue mich nun, dass die detaillierten Informationen zur Ausstellung darüber Auskunft geben (1): 

Henriette Grindat, Platane en hiver, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz

Demnach suchte Henriette Grindat (geb. 1923 in Lausanne/Schweiz) nach ihrer Ausbildung an der Fotoschule von Gertrude Fehr in Lausanne und Vevey den Austausch mit Künstlern und Literatinnen (und umgekehrt), zwischenzeitlich auch in Paris. Dort begegnet sie 1949 ihrem späteren Ehemann, dem Schweizer Radierer Albert-Edgar Yersin (1905-1984), und lernt den 1907 geborenen französischen Dichter René Char kennen, dessen Texte sie bewundert. Zu diesem Zeitpunkt verband Char und Camus schon eine enge Freundschaft. Bekanntlich besuchte Camus seinen Freund mehrfach in dessen Heimatort L’Isle-sur-la-Sorgue in der Provence, wo jener nach dem Krieg einen Wohnsitz hat, und mietet dort zeitweise ein Landhaus. Schon 1947 bat Camus Char, ihm bei der Suche nach einem Haus in der Nähe behilflich zu sein (2). Die beiden verband nicht nur die gemeinsame Erfahrung in der Résistance, sondern auch die Liebe zur südfranzösischen Landschaft.

Henriette Grindat, Les toits des maisons à l‘Isle-sur-Sorgue, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz

Char, der in den 1930er-Jahren selbst zum weiteren Kreis der Surrealisten zählte, war beeindruckt von Grindats Fotografien, die sich durch eine sehr subjektive, vom Surrealismus geprägte Bildsprache auszeichnen. Es entsteht der Plan, mit Fotografien und Texten die Stimmung dieser so geliebten Landschaft wiederzugeben. 1950 unternimmt Henriette Grindat in Begleitung von Char Streifzüge in und um L’Isle-sur-la-Sorgue. Sie fotografiert intuitiv, tastet Oberflächen von Vegetation, Topografie und Bauwerken ab, findet stille Szenen, die sich von Zeit und Ort loszulösen scheinen. 1952 verfasst Camus zu 30 ihrer Aufnahmen kurze poetische Texte, die subtilste Details reflektieren. Das Zusammenspiel ist außergewöhnlich: Die Sprache wächst aus den Bildern und erschließt in ihnen eine neue Dimension. Dennoch lässt sich für dieses Gemeinschaftswerk mit dem Titel La Postérité du soleil (dt.: Die Nachkommen der Sonne) zunächst kein Verlag finden. Erst nach dem Tod von Camus im Jahr 1960 regt sich Interesse an dem unveröffentlichten Werk. 1965 produziert der Genfer Verleger Edwin Engelberts ein luxuriöses großformatiges Portfolio mit Silbergelatine-Abzügen von Grindats Fotografien, Camus‘ Texten und einem Vorwort von Char. Als Buch erscheint La Postérité du soleil erst 1986, im Jahr, in dem Henriette Grindat sich das Leben nimmt, und zwei Jahre vor dem Tod von René Char 1988.

Geboren wurde Henriette Grindat 1923 in Lausanne. Ihr einhundertster Geburtstag am 3. Juli 2023 gibt den Anlass für diese Ausstellung und würdigt Grindat als eine der „herausragenden Schweizer Fotograf:innen des 20. Jahrhunderts, die mit ihrer subjektiven fotografischen Poesie Künstler:innen und Literat:innen begeisterte“, wie es im Pressetext der Fotostiftung heißt. In der Ausstellung La Postérité du soleil in der Fotostiftung Winterthur sind die Blätter des Portfolios von 1965 zu sehen. Die dazugehörigen französischen Originaltexte von Albert Camus wurden dafür erstmals umfassend auf deutsch übersetzt. Die Ausstellung wurde kuratiert von Teresa Gruber, Kuratorin Fotostiftung Schweiz.

AUSSTELLUNG
La Postérité du soleil, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, CH–8400 Winterthur, 8. Juni bis 6. August 2023. www.fotostiftung.ch

(1) Der folgende Text basiert in großen Teilen auf der Pressemitteilung der Fotostiftung Schweiz. (2) Albert Camus in einem Brief vom 30. Juni 1947 an René Char.

VERWANDTE BEITRÄGE:
L’Isle: Die letzten Spuren von Camus im Moment ihres Verschwindens
Von glücklichen Sommertagen und dummen Schwalben

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Am heutigen „Albert-Schweitzer-Tag“ eine kleine Gedankenreise mit Camus nach Le Chambon

Blick über die Hochebene bei Le Chambon-sur-Lignon. Foto: Anne-Kathrin Reif

Es ist nun wirklich nicht so, dass es für einen Blog-Beitrag zu Camus eines bestimmten Anlasses bedürfte. Aber mir rutscht der Blog gerade im freiberuflichen Alltag so oft so sehr aus dem Blick, dass ich mich manchmal von solchen äußeren Anlässen gerne anstoßen lasse. Heute zum Beispiel ist der weltweite „Albert-Schweitzer-Tag“. Wer hier schon länger mitliest, weiß, dass es zwischen den beiden Alberts eine interessante Verbindungslinie gibt. Ihr Kreuzungspunkt liegt in den kleinen Örtchen Le Chambon-sur-Lignon im französischen Hochland. Hier (bzw. in dem benachbarten kleinen Weiler Le Panelier, wo die Familie seiner Frau Francine ein Ferienhaus besaß) verlebte Albert Camus 1942/43 einen unfreiwillig langen 15monatigen Aufenthalt. Angetreten als eine Art Kuraufenthalt wegen seiner Tuberkuloseerkrankung war ihm wegen des Kriegsgeschehens die geplante Rückkehr nach Oran, wohin Francine bereits abgereist war, verwehrt. Dieses Örtchen Le Chambon mit seiner ganz besonderen hugenottischen Tradition war ein einzigartiger Hort des Widerstands in Frankreich unter der mit Deutschland kollaborierenden Vichy-Regierung. Die große Anzahl aktiver Gemeindemitglieder der reformierten Kirchen und der kleinen katholischen Gemeinden dieser Region bewahrte in gewaltfreiem Widerstand gegen die Nazis und die kollaborierende französische Polizei über 5000 Juden vor der sicheren Deportation. Eine zentrale Figur darin war der in Le Chambon praktizierende Arzt Dr. Roger Le Forestier, bei dem auch Camus wegen seiner Tuberkulose in Behandlung war. Und dieser Dr. Le Forestier war 1934 einige Monate lang als Missionsarzt in Lambarene gewesen, dem berühmten von Schweitzer gegründeten Urwaldkrankenhaus. Camus arbeitete während seines Aufenthaltes in Le Panelier an seinem Roman Die Pest. Findet sich in Dr. Le Forestier vielleicht das reale Vorbild für Camus‘ Dr. Rieux, der im Roman gegen die Seuche kämpft, die bekanntlich (auch) für die „braune Pest“ der Nazidiktatur steht? Diesen Gedanken hat Klaus Stoevesandt vor beinahe zehn Jahren erstmals aufgegriffen, nachdem er zuvor schon der „geistigen“ Verbindung zwischen Albert Schweitzer und Albert Camus nachgegangen war. Bereits 2013 veröffentlichte er die kleine Schrift „Albert Schweitzer und Albert Camus – Auf der Suche nach Maßen für die Menschlichkeit“ (Bernstein-Verlag) und referierte darüber 2014 bei der Jahrestagung der Internationalen Albert-Schweitzer-Gesellschaft in Königsfeld. Forschungsreisen nach Le Chambon, Korrespondenz und schließlich persönliche Begegnung mit Jean-Philippe Le Forestier, dem Sohn von Dr. Roger Le Forestier, folgten und mündeten schließlich in die kleine Schrift Der Doktor Rieux des Albert Camus – Eine Nachsuche möglicher Vorbilder (Bernstein Verlag 2016). 2019 erschien der von Jean-Paul Sorg herausgegebene Band IV der Albert-Schweitzer-Reflexionen Albert Schweitzer und Albert Camus – Ein gemeinsamer medizinischer Humanismus mit Beiträgen von Klaus Stoevesandt.

Begegnet sind sich die beiden Nobelpreisträger Albert Schweitzer (1875-1965) und Albert Camus (1913-1960) mit größter Wahrscheinlichkeit nie. Weder wissen wir, inwieweit sie sich mit dem Gedankengut des anderen auseinander gesetzt haben, noch lässt sich die Verbindung von Dr. Le Forestier zur Figur des Dr. Rieux zweifelsfrei belegen. Aber die Forschungen von Klaus Stoevesandt, die auch bestätigt haben, dass Albert Camus und Doktor Le Forestier bei Behandlungen mehrfach miteinander gesprochen haben müssen, machen eine Verbindung zumindest plausibel. Und zeigen einmal mehr, dass die Leidenschaft für ein Thema zu schönen Geschichten im richtigen Leben führen kann.

Wir haben im Blog Klaus Stoevesandt gewissermaßen auf seinem Weg begleitet. Der heutige Albert-Schweitzer-Tag ist ein schöner Anlass, das noch einmal nachzuverfolgen:

Bedingungslose Humanität: Albert Camus trifft Albert Schweitzer (Interview mit Klaus Stoevesandt 2014)

Auf den Spuren des „echten“ Dr. Rieux in Le Chambon (2017)

Albert Camus, Albert Schweitzer und Roger Le Forestier – oder wie aus einer Randbemerkung eine lange Geschichte wird (2017)

Mehr zu Klaus Stoevesandt und seinen beiden Publikationen im Bernstein-Verlag hier

Zur Homepage des Deutschen Albert-Schweitzer-Zentrums hier.

In Le Chambon gibt es das interessante kleines Museum Lieu de Memoire du Chambon, das die Geschichte des Widerstandes im Ort erzählt.

Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden, Blog-Lesern und Camus-Freundinnen noch einen schönen Tag und à bientôt, wann immer!

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Camus im Mai: „Belagerungszustand“ in Witten, „Denker der Freiheit – Albert Camus“ in Frankfurt und als Stream

Szene aus „Der Belagerungszustand“ des Wittener Ensembles 180Grad. ©Foto: Ensembles 180Grad

Das neu gegründete Wittener Theater-Ensemble 180Grad° hat sich zur Aufgabe gemacht, künstlerischen Ausdruck mit der Frage nach der Lebendigkeit in Kreativität und Alltag zu verbinden: Was braucht es, um das Feuer der eigenen Existenz neu zu entfachen?“ – So heißt es in der Selbstdarstellung des Ensembles. Mit dieser Aufgabenstellung kann es gewiss nicht verkehrt sein, sich an Albert Camus zu wenden. Und so ist eines der ersten Projekte der Truppe Der Belagerungszustand – Premiere bereits am kommenden Sonntag. Das am 27. Oktober 1948 im Théatre Marigny in Paris uraufgeführte Stück von Camus wird häufig als Dramatisierung seines eigenen Romans Die Pest angesehen, da der Plot einige Ähnlichkeiten aufweist – tatsächlich kann man es aber als durchaus eigenes Werk mit eigenen Fragen verstehen. Hier die Inhaltsangabe des Theaters:

Über der südspanischen Stadt Cadiz erscheint mitten im Sommer ein Komet am Himmel, der nichts Gutes verheisst. Wenig später bricht eine Seuche unter den Bewohnern aus, und es erscheinen zwei merkwürdige Gestalten auf dem Marktplatz, die die Macht über die Stadt an sich reißen wollen. Wie es sich herausstellt, handelt es sich bei den Beiden um alte Bekannte der Menschheit: die Pest und den Tod. Die Bevölkerung unterwirft sich dem scheinbar Unvermeidlichen und verfällt in Agonie und Apathie. Diego, ein junger Arzt, und seine Verlobte Victoria sind die letzten in Cadiz, die noch Widerstand leisten. Werden sie es schaffen, die Stadt zu befreien? In dem Theaterstück „Der Belagerungszustand“ geht der französische Existentialist Albert Camus eingehend der Frage nach, was den Menschen zur Freiheit befähigt, und was es braucht, dass sich die Vielen gegen die Herrschaft der Wenigen zur Wehr setzen. Ist es die Liebe, der Mut, die Leidenschaft oder ist es die Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod, welche die Menschen befähigt, ihre Freiheit zu ergreifen? Camus gewinnt der Hamlet-Frage „Sein oder Nicht Sein“ eine moderne Perspektive ab. Der Held des Stückes steht vor der Entscheidung zu gehen oder zu bleiben und zu kämpfen. Und seine Entscheidung besiegelt das Schicksal aller Stadtbewohner.

Darsteller: Diego – Sven Möller, Victoria – Sylvia Guse, Pest – Stefan Schroll, Tod – Aniko Tothpal, Nada – Ciro Quattroventi, Fischer – Martin Blumenroth, Richter – Marcus Diedrich, Seine Frau – Kerstin Tessarek, Gouverneur – Moritz Hommel, Frauen aus Cadiz – Kateryna Kilovata, Kerstin Tessarek, Alkalde – Marcus Diedrich, Wachen – Sven Möller, Stefan Schroll, Herold – Moritz Hommel. Regie: Hans-Ulrich Ender.

Termin: Premiere am Sonntag, 14. Mai 2023, 19 Uhr, Saalbau Witten. VVK-Hinweis bei Theater Intern hier

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Gelebtes Leben. Denker der Freiheit im Porträt – Albert Camus

Im Literaturhaus Frankfurt widmen sich Martin Meyer, langjähriger Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung und Autor der Camus-Biografie Albert Camus: Die Freiheit leben, und der Philosoph Viet Anh Nguyen Duc, Kenner des französischen Existentialismus, Albert Camus als „Denker der Freiheit“. So lautet der Titel einer Gesprächsreihe, die von dem Frankfurter Publizisten Rainer Hank (FAZ) kuratiert und moderiert wird. Veranstaltet wird sie von Karl-Hermann-Flach-Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung. Auf der dortigen Webseite ist zu lesen, die Reihe porträtiere „beispielhaft herausragende Gestalten des Liberalismus“ und weiter: „Eingebunden in ihre Zeit, ausgesetzt den vielfältigen Versuchungen der Unfreiheit, kann gelebtes Leben anschaulich werden. Die Leitfrage der Reihe lautet: Können wir heute mit den Ahnen des Liberalismus noch etwas anfangen? Und falls ja, was denn eigentlich?“

Unzweifelhaft ist, dass die Frage nach der Freiheit eine zentrale im Werk von Albert Camus ist. Darüber, ob man ihn (der enge Beziehungen zur Szene des gewaltfreien Anarchismus gepflegt hat, wie Lou Marin profund nachgewiesen hat) zu Recht als „Ahnen des Liberalismus“ bezeichnen kann, lässt sich wahrscheinlich streiten. Die Protagonisten des Abends sind dafür gewiss versierte Ansprechpartner.

Termin: 23. Mai 2023, 19.30 Uhr, Literaturhaus Frankfurt, Schöne Aussicht 2, Frankfurt/Main. Die Veranstaltung findet als Hybridveranstaltung statt. 
Saalticket 9/6 Euro, Streamingticket 5 Euro. Tickets hier.

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Und auch noch gleich eine kleine Vorschau auf Juni 2023:

Am 8. Juni läuft im Staatstheater Wiesbaden (Kleines Haus) wieder Die Pest mit Darsteller Matze Vogel (Inszenierung: Sebastian Sommer), von der Frankfurter Rundschau als „Eindrucksvolle Ein-Mann-Schau“ gewürdigt. Seit der Premiere im Oktober 2020 wird das Stück dort (abgesehen von der Corona-Pause) mit großem Erfolg gespielt. Unter dem Link oben gelangt man zu Infos und einem Trailer.

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Wie immer: Wenn ihr einen Termin wahrgenommen habt, teilt doch eure Eindrücke hier im Blog, indem ihr einen Kommentar schreibt! Das freut sicher nicht nur mich (sehr), sondern auch die anderen Blogleser und -Leserinnen.

Ich wünsche allen ein schönes Wochenende!

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Kleiner Nachschlag zu „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“

Ausdruck aus dem Veranstaltungsprogramm 1962/63 des „Deutscher Jugend-Veranstaltungsdienst e.V.“ zur Aufführung von Picassos Theaterstück „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“.

Ich freu mich ja immer, wenn ein Blogbeitrag von mir weitere Kreise zieht… Wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. So berichtet gestern im Kommentar Blog-Leser Dieter Fränzel im Anschluss an den Beitrag über die Uraufführungslesung von Picassos Theaterstück „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“ in Paris von der deutschsprachigen Uraufführung 1961 an der Kunstakademie Düsseldorf. Heute gab’s noch dieses historische Zeitdokument dazu. Darin heißt es:

„Die Theater-Exercise an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf hat dieses absurd-geniale, von scheinbaren Clownerien durchsetzte und doch in seiner Aussoge tief dramatische Bühnenwerk kürzlich anlässlich des 80. Geburtstages Picassos zum ersten Male in deutscher Sprache zur Aufführung gebracht. Ausgezeichnete Kritiken würdigten dieses schwierige Unterfangen, das unter der Leitung des Regisseurs Heinz Balthes ein voller Erfolg wurde.“

Herzlichen Dank an Dieter Fränzel!

Als Hörspielversion aus dem Jahr 1980 von Ulrich Raschke, Matthias Spahlinger und Claus Villingen findet man es übrigens auf YouTube. Hier ist auch das schon erwähnte Foto von der Uraufführungslesung mit Camus und Picasso-Hund Kazbek zu sehen:

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Wie Camus und Picasso die Wünsche beim Schwanz packten – zum 50. Todestag von Pablo Picasso

Manche Dinge muss man ja nicht immer wieder neu erfinden… Und da der ein oder die andere hier vor zehn Jahren sicher noch gar nicht mitgelesen hat, erlaube ich mir, aus aktuellem Anlass den seinerzeit zum 40. Todestag von Pablo Picasso verfassten Beitrag heute gewissermaßen zu recyclen.

Picasso im Jahr 1962. Foto: Argentina. Revista Vea y Lea, wikicommons

Der Jahrhundertkünstler Pablo Ruiz Picasso, geboren am 25. Oktober 1881 im spanischen Málaga, verstarb am 8. April 1973 im Alter von 91 Jahren im südfranzösischen Mougins. Beigesetzt wurde er im Garten seines Schlosses Vauvenargues bei Aix-en-Provence, unweit von Camus’ letztem Wohnort Lourmarin. Ganz abgesehen davon, dass es in den Künstler- und Intellektuellenzirkeln der 1940er-Jahre, als Picasso und Camus sich beide in Paris aufhielten, sowieso alle möglichen Überschneidungen gab und man sich in den selben Nachtlokalen und Cafés begegnete, wo die neuesten Werke der jeweils anderen diskutiert wurden, gibt es mindestens eine ganz direkte Verbindung zwischen Camus und Picasso: Bei der Uraufführungslesung von Picassos Theaterstück Le Désir attrapé par la Queue (Wie man Wünsche beim Schwanz packt) führte Albert Camus Regie. 

Was für eine illustre Runde kam da zusammen in der Wohnung des Schriftstellers und Ethnologen Michel Leiris am 19. März 1944, eine private Zusammenkunft im besetzten Paris: unter den Zuschauern Jean-Louis Barrault, Georges Braque, Henri Michaux und weitere Künstler und Intellektuelle, erzählt der Camus-Biograf Olivier Todd (1). Und dann erst die Besetzung! Camus verteilt die Rollen: Leiris ist Der Plumpfuß, Sartre Das Klümpchen, Simone de Beauvoir Die Kusine, Picassos Muse Dora Maar ist  Die magere Angst und Raymond Queneau Die Zwiebel. Weitere Protagonisten: Die Torte, Die fette Angst, Das Schweigen, Die beiden Wauwaus. Wie man schon unschwer an den Rollen erkennt, handelt es sich nicht um ein konventionelles Drama, sondern eher um ein surrealistisch-dadaistisches Stück, allerdings auch mit realististischen Elementen. Picasso nutzte dabei die surrealistische Technik des automatischen, assoziativen Schreibens im Sinne der von André Breton adaptierten écriture automatique. Die Lesung begann um 17 Uhr und endete um 23 Uhr, eine Stunde vor Beginn der Ausgangssperre. Einige Wochen später, am 16. Juni 1944, lud Picasso die ganze Runde in sein Atelier in die Rue des Grands-Augustins Nr. 7 ein, wo der Fotograf Brassaï sie im Bild festhielt (wohl deshalb kann man gelegentlich lesen, Uraufführung des Stücks sei am 16. Juni gewesen).

Das Foto würde ich hier natürlich gerne zeigen, aber da ich nicht über die Bildrechte verfüge, muss ich auf diejenigen verweisen, die sich darum nicht kümmern (einfach „Camus und Picasso“ googlen) – oder hier auf den im Prinzip lesenswerten Artikel zu dem Ereignis in der NZZ (der allerdings Camus allzu flapsig als „Hobbyregisseur“ bezeichnet). Jedenfalls sieht man auf dem Foto (von links nach rechts): Jacques Lacan (für den sich angeblich Simone de Beauvoir besonders interessierte), Cécile Eluard, Pierre Reverdy, Louise Leiris, Zanie Aubier, Picasso mit verschränkten Armen in der Mitte, Valentine Hugo und Simone de Beauvoir; davor sitzend, mit Pfeife, Jean-Paul Sartre, Michel Leiris, Jean Aubier und auf dem Boden hockend in der Mitte Camus. Alle schauen mehr oder weniger konzentriert in die Kamera des Fotografen, nur Camus scheint Kazbek interessanter zu finden, den großen wuscheligen Hund Picassos, der in der Mitte der Runde auf einem kleinen Teppich sitzt. Gut möglich, dass Brassaï deshalb noch ein paar Mal mehr auf den Auslöser drückte, denn es gibt auch noch eine Version ohne Hund, und jetzt schaut auch Camus in die Kamera. Bemerkenswert ist die Zusammenkunft bei der Uraufführung auch noch aus einem anderen Grund: Unter den Zuschauern befand sich auch eine sehr attraktive junge Schauspielerin, die 22jährige Maria Casarès – die erste Begegnung zwischen Camus und seiner späteren lebenslangen Geliebten (1). 1948, als die beiden längst ein Paar waren, spielte Maria Casarès die Victoria in Alberts Theaterstück Der Belagerungszustand (Regie führte Jean-Louis Barrault). Bei der Premiere am 27. Oktober 1948 im Théatre Marigny saß auch Pablo Picasso im Publikum (2).

Seine Erstaufführung auf der Bühne erlebte Wie man Wünsche beim Schwanz packt übrigens 1950 im Londoner Watergate Theatre, die deutschsprachige Erstaufführung in der Übersetzung von Paul Celan fand 1956 im Kleintheater Bern unter der Regie von Daniel Spoerri und der Mitwirkung unter anderem von Meret Oppenheim (Bühnenbild und Kostüme) statt. Und wieder einmal stelle ich fest, wieviel Stoff es noch für mein lange nicht mehr gespieltes „Immer nur einen Schritt bis zu Camus“-Spiel gibt… Das Spiel habe ich übrigens genau zu Ostern 2013 erfunden: Sisyphos trifft Christus auf dem Blumenkübel – oder: Immer nur ein Schritt bis zu Camus

Allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden, Camus-Freundinnen und Blog-Lesern wünsche ich schöne Ostertage!

P.S. Tipp für verregnete Feiertage: arte TV hat Picasso vorab zum 50. Todestag am 2. April einen ganzen Thementag mit zehn Stunden Programm gewidmet. Die Beiträge sind noch in der Mediathek abrufbar.

(1)  vgl. Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 371. Im Artikel in der NZZ heißt es, Casarès sei bei dem Ereignis als „Assistentin“ dabei gewesen. Bislang habe ich dafür allerdings noch keinen Beleg gefunden. (2) siehe Fußnote in Albert Camus – Maria Casarès, Schreib ohne Furcht und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959, Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021, S. 109.
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Von Sisyphos gleicher Rückkehr zur Normalität und zum Camus-Gespräch in Aachen

Ich habe einen Jahrestag knapp verpasst: Am 21. März 2020, also vor fast genau drei Jahren, habe ich hier im Blog das Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch begonnen. Ich beschloss seinerzeit (wie so viele andere Menschen), noch einmal Die Pest zu lesen, und schrieb: „Auf jeden Fall denke ich jetzt schon gern an das Ende von Camus‘ Roman und hoffe, dass es auch für uns so sein wird, und dass es bis dahin nicht allzu lange dauern wird: Irgendwann ist der Spuk vorbei, die Menschen fallen sich voller Freude in die Arme und feiern in den Straßen. Jedenfalls die, die überlebt haben und die keinen geliebten Menschen verloren haben. Das ist der bittere Beigeschmack, der auch uns nicht erspart bleiben wird.“  

Das „nicht allzu lange“ dauert jetzt schon drei Jahre. Viele, sehr viele haben einen oder gar mehr als einen lieben Menschen verloren. Und dass der Spuk vorbei ist, sieht nur so aus, weil die Regierung (so wie in der Pest auch) das Ganze für beendet erklärt hat. Dabei hat der Spuk durch Impfstoff und Aufbau von Immunität nur etwas seinen Schrecken verloren, und wir haben gelernt, mit ihm zu leben – oder bemühen uns zumindest darum. Das große Freudenfest auf den Straßen, mit dem Camus die Pest (und den Krieg) enden lässt, wird bei uns nicht stattfinden. Es gibt schlicht keinen Grund dazu. Und genauso, wie es kein großes, befreiendes Finale für uns gibt, so bleibt auch Camus‘ hoffnungsvolle Bilanz für uns in der Schwebe: nämlich, dass uns die Heimsuchungen lehren würden, dass es am Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt. Zahllose Menschen haben Großartiges geleistet und tun es noch, haben geholfen, haben Solidarität gelebt. Aber die Menschen vom Schlage Cottards, die Pest-Profiteure und Rücksichtslosen waren beileibe auch keine Einzelfälle. Die Chancen und Hoffnungen, die sich zu Beginn trotz allen Schreckens in der Heimsuchung entdecken ließen – auf ein Näherzusammenrücken, mehr gegenseitige Wertschätzung, Aufwertung von Pflege(berufen), auf Innehalten, Besinnen, Verlangsamen und manches mehr – sie sind verpufft. Stattdessen stehen wir als Gesellschaft müde und erschöpft vor all den anderen gigantischen Herausforderungen und Bedrohungen, die ich hier jetzt nicht aufzähle, denn eigentlich wollte ich gar nicht so einen trübsinnigen Beitrag schreiben.

Kehren wir also zur „Normalität“ zurück. Aber es gibt verschiedene Arten, das zu tun: Das „möglichst schnell alles vergessen“ und „so tun als wär‘ gar nix gewesen“. Oder das „nicht vergessen und trotzdem weitermachen“ bzw. „wieder neu starten“. Immer und immer wieder. Und dabei das Glück nicht vergessen. Da sind wir dann wieder bei Camus und beim glücklichen Sisyphos. Und beim Frühling, der jetzt doch mal endlich kommt. Wenn auch bei uns nicht mit Mimosen und blühenden Mastixbüschen wie in Camus‘ Tipasa, dann aber doch mit Forsythien, Magnolien und Kirschblüten.

Zurück ist auch die Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen, die nach der langen Pandemie-Pause ihre regelmäßigen Gesprächskreise wieder aufnimmt. Zukünftig gibt es also wieder einmal im Monat jeweils an einem Dienstag um 19.30 Uhr im Aachener Logoi, Jakobstraße 25a, in lockerer Runde bei einem Glas Wein oder Erfrischungsgetränk und kleinen Snacks die Gelegenheit zum Sich-Anregen-Lassen, zum Austausch und zum Vermehren von Kenntnissen über Albert Camus und zum Vermehren von Erkenntnissen im Allgemeinen. Der erste Termin ist am kommenden Dienstag, 28. März 2023. Gelesen werden ausgesuchte Textstellen aus Camus‘  Roman Der Fall, um anschließend darüber zu sprechen und Eindrücke und davon inspirierte Ideen zu teilen. Weitere Termine sollen möglichst wieder im Monatsrhythmus folgen. Die Teilnahme ist kostenlos, und die Mitgliedschaft bei der AC-Gesellschaft nicht Voraussetzung. Für den 18. April hat übrigens der Rowohlt-Verlag eine Neuauflage von Der Fall in neuer Übersetzung von Grete Osterwald angekündigt. Da kann man sich schon auf vergleichendes Lesen freuen!

Einen weiteren Termin in Assoziation zur Albert-Camus-Gesellschaft gibt es am 20. April 2023, 19 Uhr: Dann stellt Holger Vanicek, Vorsitzender der AC-Gesellschaft, im Rahmen der Philosophischen Gespräche auf der Burg Frankenberg in Aachen erstmals offiziell sein Buch Die Zerrissenheit – Albert Camus‘ Tanz unter dem Schwervor und lädt zur Diskussion darüber ein. Mehr Infos hier.

Ich wünsche allen Blog-Lesern und Camus-Freundinnen, Camus-Freunden und Blog-Leserinnen ein schönes, frühlingshaftes Wochenende – und: Bleiben Sie zuversichtlich!

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Superman Sisyphos – ein Camus-Abend mit Witz und Tiefgang

Martin Bretschneider als Sisyphos im Superman-T-Shirt. ©Fotos: Julian Jakobsmeyer

Ein Albert-Camus-Abend, der Textpassagen aus seiner Nobelpreisrede, aus dem philosophischen Essay Der Mythos von Sisyphos, dem Theaterstück Caligula, dem Roman Die Pest und dem literarischen Essay Hochzeit in Tipasa miteinander verbindet– und für den man als Zuschauer völlig ohne Vorkenntnisse der Gedankenwelt Camus‘ auskommt. Der außerdem Lebensgeschichten von Geflüchteten thematisiert und die schwierige Situation der zunehmend kriminalisierten Seenotrettung im Mittelmeer. Und der einen dennoch nicht mit gedankenlastiger Schwere niederdrückt, sondern packend und, ja, unterhaltsam und voller witziger Momente ist. Dieses Kunststück gelingt Martin Bretschneider und seinen Mitspielern Aeham Ahmad und Atdhe Ramadani mit dem Stück A Mission for Sisyphos, das am vergangenen Samstag im ostwestfälischen Hövelriege Premiere feierte.

Doch von vorn. Ein Mann dreht mit einem Akkuschrauber Bretter im Bühnenboden fest, Zuschauer vermuten irritiert, das könne ja wohl noch nicht zum Stück gehören. Doch, tut es: In Albert Camus‘ Wohnung sind die Handwerker zugange. Camus (Martin Bretschneider) probt derweil seine Rede zur bevorstehenden Entgegennahme des Literaturnobelpreises. Es will ihm nicht recht gelingen, viel zu sehr hadert er mit dem Preis, er meint, ihn nicht verdient zu haben. Seine Verzweiflung beschreibt er, Ekel in der Stimme, überaus anschaulich: Dass man meine, die Verzweiflung sei eine Krankheit der Seele, doch dass es vielmehr der Körper ist, der leidet: „Meine Haut tut mir weh, meine Brust, meine Glieder. Mein Kopf ist hohl, und mir ist übel. Und das Schrecklichste ist dieser Geschmack im Mund.“  – Bretschneider hat, nur für Eingeweihte kenntlich, Camus die Worte Caligulas in den Mund gelegt. – Nicht ungern lässt sich Camus bei seiner frustrierenden Arbeit an der Nobelpreisrede von einem der Handwerker (Aeham Ahmad) unterbrechen, der fragt, ob er mal auf dem schönen Klavier spielen dürfe – und wird von dessen unerwartet virtuosem Spiel aus seinen trüben Gedanken gerissen.

Aeham Ahmad – Pianist und Tischler. ©Fotos: Julian Jakobsmeyer

Der Kollege (Atdhe Ramadani) kommt hinzu – „wir sind dann für heute fertig, Herr Professor“ –, aber Camus lässt die beiden nicht gehen und lädt sie auf ein Bier ein, er will wissen, warum dieser offenkundig begnadete Pianist als Tischler arbeitet, interessiert sich für die beiden. Und die sich wiederum für ihn, vor allem dafür, warum der „Herr Professor“ so unglücklich ist. Was dieser mit einem Exkurs über das Absurde beantwortet. „Klarer Fall von Midlife-Crisis“, diagnostizieren die beiden, womit keinesfalls die Ernsthaftigkeit und Gedankentiefe Camus‘ ins Lächerliche gezogen wird – aber auf höchst erfrischende Weise vom richtigen Leben konterkariert wird. Und während man beim mit witzigen Wendungen gespickten Feierabendbiergespräch der drei gerade noch dachte, das sei ja wohl der unterhaltsamste Camus-Abend, der sich denken ließe, wird man unversehens von den realen Lebensgeschichten dieser beiden gut gelaunten Handwerker kalt erwischt und in eine existenzielle Ernsthaftigkeit geradezu hineinkatapultiert.

Atdhe Ramadani als Kriegsgott Ares

Collagehaft werden verschiedene Szenen ganz unterschiedlicher Art zusammengesetzt, finden aber immer einen sinnvollen dramaturgischen Übergang. Etwa wenn Camus, der gerade noch über den Sisyphos theoretisiert hat, sich seines Jacketts entledigt und sich in den antiken Helden im Superman-T-Shirt verwandelt. Da wird Sisyphos lebendig: wie er die Götter überlistet, ihnen entwischt, wie er das Leben „am leuchtenden Meer, auf der lächelnden Erde“ mit einer schwärmerischen Passage aus Hochzeit in Tipasa preist und feiert, wie er sich mit Kriegsgott Ares (großartig: Atdhe Ramadani) anlegt, in dessen Worten man wiederum Caligula wiedererkennt.

Bretschneider gelingt es mit dem von ihm konzipierten Stück, den Tiefenraum zwischen Ernsthaftigkeit und Witz nahezu während des gesamten Abends zu halten und immer wieder neu auszuloten. Einzig eine vielleicht etwas lang geratene Passage mit appellativem Charakter über die Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum und den Umgang der reichen westlichen Länder damit erscheint zunächst als das Spielgeschehen unterbrechender Fremdkörper – fügt sich dann aber doch ein als Brücke zum Camus-Thema der Revolte mit Textpassagen aus der Pest. Vor allem aber macht sie auf eindringliche Weise deutlich, dass wir es beim Eintauchen in die Gedankenwelt von Albert Camus nicht mit zeitlich und thematisch fernen abstrakten philosophischen Diskursen zu tun haben. Sondern dass wir ganz alltäglich und immer wieder neu mit Spielarten des Absurden konfrontiert sind, die uns herausfordern und verlangen, uns dazu zu verhalten.

Beim Premieren-„Heimspiel“ in Hövelriege wurden die Spieler von Seiten des sehr heterogenen und altersgemischten Publikums im an den dortigen Sport- und Jugendclub angegliederten Interkulturellen Zentrum mit lang anhaltenden „standing ovations“ bedacht. Die Anbindung an den SJC mit seiner aktiven interkulturellen Arbeit war für diese Produktion zweifellos ideal. Es ist aber unbedingt zu wünschen, dass A Mission for Sisyphos noch weitere Spielorte finden wird, idealer Weise in Kooperation mit Flüchtlingsinitiativen oder Interkulturzentren und mit Schulen, denn lebendiger kann man (nicht nur) Jugendlichen Camus wohl kaum nahebringen.

Glücklich nach der erfolgreichen Premiere: Martin Bretschneider, Aeham Ahmad, Atdhe Ramadani. ©Foto: A. Reif

Vorerst letzte Gelegenheit, das Stück zu sehen, ist allerdings am morgigen Samstag, 4. Februar, 19.30 Uhr, im SJC Hövelriege, Alte Poststraße 142, 33161 Hövelhof. Tickets per E-Mail über felix@sjcmagazin.de.

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Aeham Ahmad hat über seine Geschichte ein Buch geschrieben:
Und die Vögel werden singen. Ich, der Pianist aus den Trümmern. Verlag S. Fischer 2019, 368 Seiten, TB 13 Euro
(ISBN: 978-3-596-70421-7).

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„A Mission for Sisyphos“ – Martin Bretschneider bringt einen Camus-Abend auf die Bühne

„Der französische Philosoph Albert Camus, der syrische Pianist Aeham Ahmad, der kosovarische Geflüchtete Atdhe Ramadani, der griechische Held Sisyphos und der algerische Arzt Bernard Rieux treffen aufeinander und unterhalten sich über die Absurdität des Daseins, den Hass auf den Tod, die Verachtung der Götter und die Liebe zum Leben.“

Das ist, laut Programmzettel kurz zusammengefasst, der Inhalt von A Mission for Sisyphos – ein Theaterabend, den der Schauspieler Martin Bretschneider gemeinsam mit Aeham Ahmad und Atdhe Ramadani erarbeitet hat, und der am kommenden Samstag, 28. Januar 2023, im Interkulturellen Zentrum in Hövelriege Premiere feiern wird.

Das klingt erstmal nach einer ziemlich wilden Mischung, die Fragen aufwirft. Wie kommen diese Protagonisten überhaupt zusammen? Was verbindet sie? Und wieso findet das ausgerechnet in einem an einen Jugend- und Fußballclub angegliederten Kulturzentrum in Hövelriege statt? Wo ist das überhaupt? Am besten, wir fragen einfach mal Martin Bretschneider.

Martin Bretschneider. © Sven Serkis 

Martin, nochmal ganz von vorn: Welche Idee liegt A Mission for Sisyphos zugrunde, was ist das Kernthema? Und wie kommt es zur Zusammenarbeit mit Aeham Ahmad und Atdhe Ramadani?

Martin Bretschneider: Die Arbeit mit Geflüchteten ist ja ein Thema meines ehrenamtlichen Engagements in Hövelriege, wo es jetzt ein interkulturelles Zentrum gibt, das sich um die Teilhabe von Menschen mit Zuwanderungshintergrund kümmert. Das Thema der Seenotrettung, die jetzt immer mehr kriminalisiert wird, interessiert mich ebenso… Deshalb war ich in Berlin bei einer Lesung von SOS-Humanity, die hieß Tatort Mittelmeer. Tatort-Stars lasen Berichte von Flüchtenden auf dem Mittelmeer, und Aeham spielte Klavier. Da haben wir uns kennengelernt, und ich war begeistert von seiner Persönlichkeit und seiner Gesprächsenergie. Wir haben uns einige Zeit später in Hövelriege getroffen und beschlossen, ein gemeinsames Projekt zu machen. Atdhe kenne ich schon seit vielen Jahren aus meiner ehrenamtlichen Jugendarbeit im SJC Hövelriege. Er kam schon als Fünfjähriger aus dem Kosovo zu uns, hat schon als Kind hier Fußball und Theater gespielt und ist inzwischen Theaterpädagoge und Schauspieler. Unterstützung für A Misson vor Sisyphos haben wir vom Landesbüro Darstellende Künste NRW bekommen, die die Projektidee toll fanden. Der Abend wird das Thema der Flucht mit dem Sisyphos-Motiv und Stücken aus den Schriften und der Gedankenwelt von Albert Camus verbinden.

Es ist kurz vor der Premiere – wie läuft die Probenarbeit bislang?

Organisatorisch war es ziemlich kompliziert, vor allem, weil Aeham inzwischen einen festen Job als Tischler angenommen hat. Nach der Arbeit auf der Baustelle kommt er zu den Proben, dazu spielt er ja noch Konzerte und hat Plattenaufnahmen… Ein verrückter Typ, im besten Sinne. Seine Energie ist sensationell. Was das Stück angeht: Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, das zu erzählen, was wir erzählen wollten.

Du sprichst von einem „Stück“ – es wird also nicht etwa eine Lesung mit verschiedenen Camus-Texten und Musik…

Genau. Es gibt eine szenische Rahmenhandlung, die alles zusammenhält. Da kommen Aeham und Athde mit Albert Camus ins Gespräch. Die Textfassung stammt von mir – wobei man das natürlich gar nicht alleine machen kann, denn wir erzählen ja auch aus Atdhes und Aehams Leben, von ihrer Flucht, von tragischen, von schrecklichen Momenten und vom Glück, endlich angekommen zu sein… Wo eine gewisse Stufe von Sicherheit erreicht ist – aber die Absurditäten trotzdem nicht aufhören.

Als Mitarbeiter des interkulturellen Zentrums in Hövelriege interessiert mich natürlich auch das Gefühl des „Gegen-Windmühlen-Ankämpfens“ von Leuten, die sich für Geflüchtete engagieren. Etwa, wenn jemand über Jahre im Status der „Duldung“ lebt, deutsch gelernt und Freunde gefunden hat, und man schafft es sogar, ihm einen Ausbildungsplatz zu vermitteln – und dann kommt die Abschiebung… Diese Sinnlosigkeitserfahrung wollte ich ebenfalls thematisieren.

Es ist aber nicht nur die Gleichung, dass jede Art Absurdität oder Vergeblichkeit sich mit dem Sisyphos-Mythos verbinden lässt, was die Verbindung zu Camus herstellt, oder? Sonst hättest du dich gewiss nicht so tief in die Philosophie von Camus eingearbeitet… Wieviel Camus kommt also ins Spiel – und wie?

Natürlich würde ich so einen Abend nie machen, nur um traurige Fakten aufzuzählen. Im Gegenteil, es geht auch um die Möglichkeiten der „Revolte“, wie Camus sagt. Oder um die Frage: Wie schafft man es, sich selbst so zu konditionieren, dass man das Engagement für bessere Zustände und den Kampf gegen Unrecht durchhält, dass man nicht irgendwann verzweifelt und zusammenbricht? In dem Zusammenhang ist für mein Lebensgefühl Die Pest unglaublich wichtig. Dr. Rieux und die Figuren um ihn herum in ihrem Kampf gegen dieses scheinbar unüberwindliche Grundübel, das hat mich total fasziniert und inspiriert. Wie bringt man sich – nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen – in eine Energie, um weiterzumachen.

Die Figur des Sisyphos interessiert mich auch schon vor der Strafe – seine Verachtung der Götter, seine Liebe zum Leben, sein Hass auf den Tod. Da kommen dann auch Caligula, Hochzeit in Tipasa und andere Texte ins Spiel. Tatsächlich glaube ich, dass der Abend auch gut geeignet ist als eine Art Einführung in das Denken von Albert Camus.

Es gibt ja leider bislang nur die drei Termine in Hövelriege – gibt es schon die Aussicht auf weitere Spielorte?

Im Moment bin ich noch nicht so viel dazu gekommen, aber wir strecken natürlich die Fühler aus und hoffen, dass sich über unsere vielen verschiedenen Kontakte weitere Möglichkeiten ergeben werden. Denn wir möchten natürlich, dass das Stück gesehen wird!

Martin, ich bin sehr gespannt auf den Abend! Toi toi toi für die Premiere!

Termine: 28., 29. Januar und 4. Februar, 19.30 Uhr, im Interkulturellen Zentrum Hövelriege. Karten per E-Mail über felix@sjcmagazin.de

P.S.: Hövelriege liegt übrigens in Ostwestfalen zwischen Bielefeld und Paderborn.

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Martin Bretschneider wurde 2013 für seine grenzüberschreitende Jugendtheaterarbeit mit dem Sport- und Jugendclub Hövelriege mit dem Julius-Hirsch-Preis ausgezeichnet. Mehr dazu, zu seiner Person und zu seiner Beziehung zu Albert Camus hier im Blog:
Von Fußball, Völkerverständigung und die Traumbesetzung für die „Suite-Camus“. Zur Webseite von Martin Bretschneider hier, und weitere Infos (Filmographie/Showreel) hier und hier.

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„Man muss Werther sein oder nichts“ – oder: Von der geheimen Verwandtschaft zwischen Goethes Werther und Camus‘ Caligula

Aeham Ahmad wurde als „Pianist aus den Trümmern“ bekannt. Eine beeindruckende Begegnung war für mich sein Auftritt 2018 in Wuppertal, den ich schon damals in Verbindung mit Camus gebracht hatte:
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