Von Licht und Schatten und dem Mut, zwischen beidem nicht zu wählen

Ein Nachtrag zur Liste der bevorzugten Wörter erreichte mich noch gestern Abend. Blog-Leser Koray notiert: „Der Ekel, das Melancholische, das Trübe, der Mensch, der Regen, das Gehirn, die Musik, die Unfähigkeit, die Täuschung, die Grenzen.” Interessante Liste nach all den schönen Dingen, finde ich. Waren es zu viele? Gibt es vielleicht eine Überdosis an Gutem, Schönen, Wahren? „All diese Reichtümer, und sie kosten nichts!” Ja, und doch gibt es Lebenssituationen und existenzielle Gestimmtheiten, in denen diese Güter gleichwohl unerreichbar erscheinen. Nicht Sisyphos, Thantalos ist das Urbild dieser Qual,  wenn all das, was die Seele nähren würde, stets vor Augen aber immer auf Armeslänge entfernt und der Hunger ewig ungestillt bleibt. Thantalos kommt bei Camus nicht vor, und Sisyphos müssen wir uns, wir wissen es, als glücklichen Menschen vorstellen. Aber der Weg zu diesem Glück ist auch bei Camus in der Tat lang, und mit einem „Schaut her, ist das Leben nicht eigentlich herrlich!” ist es gewiss nicht getan.

„Es gibt keine Liebe zum Leben ohne Verzweiflung am Leben”, schreibt Camus, und dieser Satz findet sich nicht zufällig in dem Essay mit dem Titel Liebe zum Leben (1). Den Blick auf die guten, schönen, wahren und kostenlosen Güter dieser Welt zu richten, hilft zweifellos dabei, auch gut, schön und wahr (wenn auch leider nicht kostenlos) zu leben. Aber auch die Schattenseite dieser Dinge gehört zur Wahrheit dieses Lebens, und wer sie verleugnet, liebt das Leben nicht. „Zwischen dieser Licht- und dieser Schattenseite der Welt will ich nicht wählen”, schreibt Camus, und die Erklärung folgt wenig später: „Denn ich liebe es nicht, dass man mogelt. Der wahre Mut besteht immer noch darin, die Augen weder vor dem Licht noch vor dem Tod zu verschließen” (2). Die Kunst liegt im weder noch. Auch im Leid kann man baden, auch in der Schattenwelt kann man es sich bequem machen. Der ausschließliche Blick ins Licht aber blendet und täuscht. Auch ich will, wie Camus, zwischen der Lichtseite und der Schattenseite nicht wählen.

(1) Albert Camus, Liebe zum Leben, in Literarische Essays, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 68; (2) Licht und Schatten, in Literarische Essays, a.a.O., S. 73/74.
Dieser Beitrag wurde unter Camus und ich, Zitat des Tages abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Von Licht und Schatten und dem Mut, zwischen beidem nicht zu wählen

  1. Coppius sagt:

    Habe Sie heute entdeckt.
    Bin absolut begeistert.
    Stichwort Camus und das Licht.
    Mir war so, als ob Camus dazu verfasst hat.
    Und siehe da, entdecke ich obiges Essay auf
    Ihrer Seite.

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Coppius, und ich bin begeistert, wenn interessierte Menschen nach so langer Zeit noch meinen Blog entdecken! Das Licht spielt für Camus natürlich insgesamt eine herausragende Rolle. Sehr bezeichnend dafür auch sein Vorwort zu „Licht und Schatten“: „Die Armut, um zuerst von ihr zu sprechen, habe ich nie als Unglück empfunden, denn das Licht breitete seine Schätze über sie aus. Selbst meine Auflehnung wurde davon erhellt.“ Mit herzlichem Gruß, Anne-Kathrin Reif

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.