Auf ein Gedicht und ein Glas Wein mit Camus

Immer, wenn der Blog unter den diversen Beanspruchungen des Alltagslebens länger mal im Schattendasein vor sich hindämmert, freue ich mich besonders, wenn jemand kommt und ihn aufweckt. In diesem Fall gilt mein Dank dem Autor Tuncay Gary aus Berlin. Er schreibt:

„Immer wieder schaue ich gerne in Ihren Blog ,365 Tage Camus‘. Mein neuer Gedichtband, erschienen im KLAK Verlag, trägt den Titel Camus trinkt ein Glas Wein. Sehr gerne sende ich Ihnen das Titelgebende Gedicht und auch das Umschlagbild des Buches. Vielleicht möchten Sie beides in Ihren Blog aufnehmen.“

Was ich hiermit gerne tue. Machen wir uns also zur Lektüre gleichmal eine Flasche Rotwein auf und trinken gemeinsam mit Camus ein Glas! In diesem Sinne: Ein schönes Restwochenende und santé!

Tuncay Gary ist Schauspieler & Dichter, Regisseur & Dramaturg, Literatur- & Theaterpädagoge und lebt in Berlin. Camus trinkt ein Glas Wein ist sein sechster Gedichtband und erscheint am 1. Januar 2022 im KLAK Verlag Berlin (ISBN: 978-3-948156-41-1;
15 Euro). www.tuncay-gary.de

Camus trinkt ein Glas Wein
steigt in sein Auto
fährt los
ohne Gallimard
die Landstraße entlang

Ruhig ist es auf
der Straße
leer und ohne Hindernis

Paris liegt weit
die Fensterscheiben
heruntergekurbelt
fährt er und fährt

Plötzlich bremst er
bleibt stehen
steigt aus
und beobachtet
einen Baum
ein Baum
wie jeder andere
aber dennoch
steht er davor
und ist erstarrt
für eine Weile

Ewigkeiten vergehen
oder einige Sekunden

Er steigt ein
in das Auto
fährt und fährt
nach Paris
weit weg von
Lourmarin
an diesem Novembertag

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Camus und ich gratulieren Dostojewski zum Geburtstag

„Man muss das Leben lieben, ehe man seinen Sinn liebt, sagt Dostojewski. Gewiss, und wenn die Liebe zum Leben verschwindet, tröstet uns kein Sinn darüber hinweg.“

Büste am Dostojewski-Haus in Baden-Baden. © Foto: akr

Eine meiner Lieblingsnotizen aus dem Tagebuch von Albert Camus, aus dem September 1949 (und deshalb auch schon mehrfach hier im Blog zitiert…). Heute ist aber ein schöner Anlass, um das Zitat nochmal hervorzuholen, denn Fjodor Dostojewski wurde am heutigen 11. November vor 200 Jahren in Moskau geboren (und ist am 9. Februar 1881 in Sankt Petersburg gestorben).

Eingebaut hat Camus diesen Gedanken in seine Dramatisierung von Dostojewskis Roman Die Dämonen, die unter dem Titel Die Besessenen am 30. Januar 1959  im Théâtre Antoine in Paris uraufgeführt wurde. Dort lässt Camus Stawrogin fragen: „Sie glauben an das ewige Leben in der anderen Welt?“ und Kirillow antwortet: „Nein, aber an das ewige Leben in dieser.“

In diesem Sinne: Einen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag an Fjodor Dostojewski!

In der Süddeutschen Zeitung stellt Deniz Utlu heute aus diesem Anlass die Verbindung zwischen Camus und Dostojewski her, eben mit dem obigen Zitat. Zum Artikel geht’s hier.

Mehr zu Camus und Dostojewski im Blog:
Auflehnung im Absurden
Albert Camus spricht über „Die Besessenen“
Von zerrissenen und toten Seelen
Sisyphos trifft Christus auf dem Blumenkübel – oder: Immer nur ein Schritt bis zu Camus

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Geballtes Camus-Programm beim Festival-Sonntag in Aachen

Ein so dichtes und abwechslungsreiches Programm zu Camus wie am kommenden Sonntag beim Festival in Aachen bekommt man nur selten geboten. Sicher kann man sich je nach Interesse den ein oder anderen Programmpunkt herauspicken – oder sich auf einen langen Tag auf Burg Frankenberg einstellen. Denn zweifellos wäre es schade um jeden davon. Trotzdem muss ich gestehen, dass ich mich auf einen davon besonders freue: Nämlich auf das Gespräch zwischen Heinz Robert Schlette und Oliver Victor (12 Uhr). Nicht alle Tage gibt es die Gelegenheit, einen 90-Jährigen und einen 30-Jährigen, die beide dieselbe intensive Leidenschaft verbindet, im Gespräch zu erleben. Beide von großer Sachkenntnis zu Camus (der eine freilich mit einem Vorsprung von 60 Jahren), dürfte es spannend sein, welche gemeinsamen oder verschiedenen Perspektiven auf das Werk von Camus deutlich werden.

Spannend sicher auch der Filmbeitrag Les vies d’Albert Camus (14 Uhr) mit seltenen Filmaufnahmen und Originalbildern aus der Welt von Camus und mit ihm. Bei dem Kurzfilm Der Fremde von Julian Withalm (17.30 Uhr) handelt es sich gar um eine Weltpremiere. Um die Frage, was Camus mit anderen Denkern verbindet und wie er sich wieder von ihnen abgrenzt, geht es in den Vorträgen von Lou Marin (15.30 Uhr) und Bernd Oei (19 Uhr). Mit einer literarisch-musikalischen Soirée klingt der lange Tag aus – aber zum Glück ist ja der Montag ein Feiertag! Und da geht es um 11 Uhr dann noch einmal weiter mit einem Vortrag von Christoph Vormweg über Albert Camus und Heinrich Böll, bevor das Festival bei einem „verre de l’amitié“ ausklingt.

Das gesamte Programm mit allen Punkten findet sich auf der Festival-Webseite. Dort sind auch die Vorverkaufsstellen in Aachen gelistet. Außerdem gibt es die Bestellhotline +49 1575 2878898 (Di, Do und Fr 11-19 Uhr). Tickets für einzelne Programmpunkte kosten 5,– / 3,– Euro,  Tageskarten 15,– / 10,– Euro und die Festivalkarte mit Eintritt zu allen Veranstaltungen 40,– / 25,– Euro. 

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Vorträge, Film, Lyrik und Gesprächsrunde – ein vollgepackter Samstag beim Albert-Camus-Festival in Aachen

Der kommende Samstag, 30. Oktober 2021, wird ohne Zweifel der intensivste Tag beim Albert-Camus-Festival in Aachen. Bereits vormittags geht es los mit der Präsentation und der Prämierung der Arbeiten aus dem Jugendwettbewerb (mehr dazu bereits im Blog). Dann werden bis zum Abend ganz verschiedene Facetten des Werks von Albert Camus aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Mitteln beleuchtet:

Mit Jürgen Kippenhan und Rudolf Lüthe sind zwei bekannte Aachener Philosophen zu Gast. Ersterer wird um 13 Uhr den für Camus zentralen Begriff des „Absurden“ unter die Lupe nehmen, der zweite richtet um 16 Uhr unter dem Titel „Vom rechten Maß“ den Blick auf Camus‘ Beitrag nach einem gelingenden, ja glücklichen Leben gerade im Angesicht der Absurdität. Dazwischen nimmt Dieter Hans das Publikum mit „Frankreichgedichten“ mit auf eine literarische Exkursion (14.30 Uhr). Sehr spannend wird sicherlich auch um 17.30 Uhr die Präsentation des Kurzfilms „Die Gerechten“ mit anschließendem Gespräch – wobei sich der junge Filmemacher Antoine Schweitzer speziell den vierten Akt des Dramas vorgenommen hat (in dem die Witwe des getöteten Großfürsten den Attentäter Ivan Kaliajew im Gefängnis besucht und dieser seine Begnadigung ablehnt). Schließlich beendet eine hochkarätig besetzte Podiumsrunde den vollgepackten Tag mit einem Gespräch über die Freiheit der Presse.

Alle Veranstaltungen des Samstags auf Burg Frankenberg, Goffartstraße 45, Aachen.

Das Programm mit allen Punkten findet sich auf der Festival-Webseite. Dort sind auch die Vorverkaufsstellen in Aachen gelistet. Außerdem gibt es die Bestellhotline +49 1575 2878898 (Di, Do und Fr 11-19 Uhr). Tickets für einzelne Programmpunkte kosten 5,– / 3,– Euro,  Tageskarten 15,– / 10,– Euro und die Festivalkarte mit Eintritt zu allen Veranstaltungen 40,– / 25,– Euro. 

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„Revolte heute“ – Podiumsdiskussion mit Aktivisten beim Camus-Festival in Aachen

Die „Revolte“ ist eines der zentralen Themen überhaupt im Gedankenkosmos von Albert Camus. In seinem Gesamtwerk stellen die von ihm selbst so zugeordneten „Werke der Revolte“ den zweiten großen Werkkomplex nach den „Werken des Absurden“ dar. Immer wieder haben sich Aktivisten in ihrem Engagement auf Ideen von Camus berufen – wie zum Beispiel der Menschenrechtsaktivist und Gründer der „Grünhelme“ Rupert Neudeck. 
Lassen sich auch bei heutigen Bewegungen, die für eine Sache streiten und bei denen der Protest gegen herrschende Verhältnisse immanent ist, Berührungspunkte zu Camus‘ Revolte-Verständnis ausmachen? Die Initiatoren des Camus-Festivals in Aachen suchen das Gespräch. 

„Die Podiumsdiskussion Revolte heute steht ganz besonders im Zeichen unserer Festival-Überschrift Der Gegenwart alles geben„, sagt Holger Vanicek, (Mit-)Organisator des Festivals. „Mit vor allem jungen Menschen wollen wir darüber diskutieren, was die heutigen (Jugend-) Bewegungen ausmachen, welche Chancen sich bieten, wie radikal sie sich gebärden sollten und was sie von anderen Bewegungen unterscheidet.“

Holger Vanicek und Jürgen Kippenhan von der Albert-Camus-Gesellschaft diskutieren mit: Niklas Schinerl (Greenpeace DE), Lina Gobbelé (Fridays for Future DE) und Florian Ötztürk (Anti-Braunkohle Aktivist).

Termin: Freitag, 29. Oktober, 19.30 Uhr im Haus der evangelischen Kirche, Frère-Roger-Straße 8-10, Aachen. Der Eintritt ist frei. Platzgarantie gibt’s mit einer (kostenlosen) Karte bei den Vorverkaufsstellen. Ansonsten Einlass ab 19 Uhr solange Plätze frei sind. 

Das Programm mit allen Punkten findet sich auf der Festival-Webseite. Dort sind auch die Vorverkaufsstellen in Aachen gelistet. Außerdem gibt es die Bestellhotline +49 1575 2878898 (Di, Do und Fr 11-19 Uhr). Tickets für einzelne Programmpunkte kosten 5,– / 3,– Euro,  Tageskarten 15,– / 10,– Euro und die Festivalkarte mit Eintritt zu allen Veranstaltungen 40,– / 25,– Euro. 

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„Soirée camusienne“ beim Festival in Aachen: Ein Abend für viele Sinne

„Ein starker Abend erwartet uns am Festival-Donnerstag bei unserer Soirée Camusienne“, verspricht Holger Vanicek, Vorsitzender der Albert-Camus-Geselleschaft und (Mit)-Organisator des Camus-Festivals vom 26. Oktober bis 1. November 2021 in Aachen. 
Denn stark seien sie, die Positionen, die junge Menschen zu der im Rahmen des Festivals ausgeschriebenen Challenge eingereicht haben. Das Festival-Team hatte Jugendliche der Region dazu aufgerufen, sich mit Albert Camus und/oder seinen literarischen, philosophischen oder politischen Themen auseinanderzusetzen. 

«Wie gehst Du mit den Widersprüchen des Lebens um?» «Woran orientierst Du Dich?» «Was ist Deine Revolte?» 

… so lauteten die leitenden Fragen. In welcher Art die Jugendlichen ihre Bearbeitungen präsentieren wollen, blieb ihnen überlassen. Die Ergebnisse sind vielfältig: Filme, Projektionen und Beiträge aus der bildenden Kunst werden am Donnerstagabend bei der Soiree zu sehen sein und ebenso am Samstagvormittag, 30. Oktober, 11 Uhr, auf Burg Frankenberg, Goffartstraße 45 in Aachen.

Ein spannender (und starker) Ansatz der Auseinandersetzung junger Menschen mit Camus war auch das Projekt „Camus4solidarity“ an der Uni Bremen. Unter der Leitung der Philosophin Swantje Guinnebert haben Studierende aus der Lektüre von Camus‘ Roman Die Pest u.a. eine Plakataktion durchgeführt, um Camus‘ Ideen in die Öffentlichkeit zu tragen (365tage-camus hat darüber berichtet). Bei der Soirée berichten Anna Maria Stock und Gina Sophie Franke im Gespräch von ihren Erfahrungen.

Poetry Slam und Multimediaperformance zu Caligula

Und dann gibt es noch zwei spannende künstlerische Beiträge an diesem Abend: Florian Stein präsentiert „Lyrik mit Camus“ in der ganz speziellen Weise der jungen Kunstform des Poetry Slams. Und unter dem Titel „Albert Camus‘ Caligula“ ist eine Bearbeitung des Dramas von Holger Vanicek als Multimedia-Performance zu erleben. 

Alles in allem: Ein Abend für viele Sinne. 

Termin: 
Donnerstag, 28. Oktober 2021, 18-22 Uhr (Einlass 17.30 bis 20 Uhr), Aula Carolina, Pontstraße 7, Aachen. 

Das Programm mit allen Punkten findet sich auf der Festival-Webseite. Dort sind auch die Vorverkaufsstellen in Aachen gelistet. Außerdem gibt es die Bestellhotline +49 1575 2878898 (Di, Do und Fr 11-19 Uhr). Tickets für einzelne Programmpunktekosten 5,– / 3,– Euro,  Tageskarten15,– / 10,– Euro und die Festivalkartemit Eintritt zu allen Veranstaltungen 40,– / 25,– Euro. 

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Camus-Festival Aachen: Die Liebe und die Pest machen den Auftakt – Vortrag, Lesung und Musik

Wie angekündigt ab heute nun einige Hinweise auf ausgewählte Programmpunkte des Albert-Camus-Festivals, das vom 26. Oktober bis 1. November in Aachen stattfindet. Dass ich ausgerechnet mit meinem eigenen Vortrag beginne, ist nicht der puren Eitelkeit geschuldet – er ist nun mal schlicht der Eröffnungsvortrag, worüber ich mich sehr freue. Das Festival wird schlaglichtartig viele unterschiedliche Aspekte von Camus‘ Denken und Schaffen beleuchten, und so scheint es mir nicht verkehrt, zu Beginn einen Überblick über die großen, auf einander folgenden „Stadien“ seines Gesamtwerkes zu geben – das immer noch allzu oft auf die beiden Schlagwörter des Absurden und der Revolte reduziert wird. Wie das gesamte Festival ist aber auch dieser Vortrag nicht an ein universitäres Spezialistenpublikum gerichtet, sondern will dazu einladen, Camus in seiner ganzen Fülle (neu oder wieder) zu entdecken und eigene Fragen im anschließenden Gespräch zu vertiefen. Hier der Ankündigungstext aus dem Programmheft: 

Die Welt bietet keine Wahrheiten sondern Liebesmöglichkeiten

Bis heute wird das Denken von Albert Camus mit den Begriffen des Absurden und der Revolte identifiziert. Camus hat sein Werk jedoch auf drei „Stadien“ hin angelegt: Das dritte sollte das der Liebe sein. Sein früher Unfalltod im Jahr 1960 verhinderte die Ausarbeitung dieses abschließenden Werkstadiums. Was lässt sich trotzdem darüber sagen? Und sollte uns die Liebe tatsächlich vor dem Absurden „retten“ können, wie es eine frühe Notiz von Camus nahelegt? In ihrem Vortrag geht Anne-Kathrin Reif der Spur der Liebe im Werk von Camus nach und überprüft das, was nach romantischer Ausflucht klingen mag, auf seine Relevanz für die Herausforderung gegenwärtigen Existierens.

Termin: Dienstag, 26. Oktober, 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a, Aachen.

Am nächsten Tag, Mittwoch, 27. Oktober (19.30 Uhr) geht es mit einer schönen literarisch-musikalischen Veranstaltung weiter, die dazu einlädt, Camus in der Originalsprache zu lauschen. Elsa Treppo liest ausgewählte Textauszüge aus Albert Camus‘ Roman Die Pest, der seit der Corona-Pandemie einen regelrechten Boom erlebt hat. Wie soll ich handeln, wer ist schuldig, gehöre ich hier hin, welche Lehren kann ich ziehen …? Fragen, die nicht nur die Protagonisten des Romans umtreiben, sondern nicht nur aber besonders in diesen Zeiten uns alle angehen. Es wird spannend sein zu erleben, wie der Komponist Paul Pankert mit seinen musikalischen Improvisationen auf Inhalt und Atmosphäre der Textpassagen eingeht.

Das Programm mit allen Punkten findet sich auf der Festival-Webseite. Dort sind auch die Vorverkaufsstellen in Aachen gelistet. Außerdem gibt es die Bestellhotline +49 1575 2878898 (Di, Do und Fr 11-19 Uhr). Tickets für einzelne Programmpunktekosten 5,– / 3,– Euro,  Tageskarten15,– / 10,– Euro und die Festivalkartemit Eintritt zu allen Veranstaltungen 40,– / 25,– Euro. 

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Camus-Festival in Aachen startet am 26. Oktober 2021

Ein Riesenprogramm mit zwanzig Programmpunkten an sieben Tagen haben Holger Vanicek und seine Mitstreiter*innen von der Albert- Camus-Gesellschaft in Aachen auf die Beine gestellt: Vorträge, Gespräche, Lesungen, Film und Theater sowie ein Jugendwettbewerb soll Camus‘ Literatur, Philosophie und Lebenshaltung einem interessierten Publikum näher bringen, ihre Relevanz auch für die Fragen unserer Zeit beleuchten und zu Austausch und Diskussion über aktuelle Themen und Herausforderungen einladen. Keine Tagung für Camus-Spezialisten also, sondern eine Woche mit Festivalcharakter, die vielfältige und ganz unterschiedliche Gelegenheiten zur Entdeckung oder Wiederentdeckung von Albert Camus bietet, mit dem viele ältere Menschen hauptsächlich Erinnerungen an ihre Schulzeit verbinden und viele jüngere wenig bis gar nichts. Dazu Holger Vanicek (Vorsitzender der AC-Gesellschaft und auch bekannt unter seinem literarischen Pseudonym Sebastian Ybbs):

Das Festival ist, ausgehend von den Ideen Albert Camus‘, eine Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart, ihren gesellschaftlichen Herausforderungen und den Ambitionen der Menschen, die heute leben. Unsere Veranstaltungen richten sich nicht nur an Geisteswissenschaftler, Literaturbeflissene oder Theaterkenner, wir streben eine Begegnung von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten an, die sich auch unvorbelastet von unseren Angeboten begeistern lassen. Indem wir uns insbesondere an junge Leute wenden, wollen wir das Festival zudem als Begegnung der Generationen begreifen.

Das Festivalmotto Der Gegenwart alles geben ist (natürlich) einem Camus-Zitat entlehnt:

„Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben. Die Revolte beweist dadurch, dass sie die Bewegung des Lebens selbst ist, und dass man sie nicht leugnen kann, ohne auf das Leben zu verzichten. Ihr Aufschrei lässt jedesmal ein Wesen sich erheben.“ (1)

Das Programm mit allen Punkten findet sich auf der Festival-Webseite. Dort sind auch die Vorverkaufsstellen in Aachen gelistet. Außerdem gibt es die Bestellhotline +49 1575 2878898 (Di, Do und Fr 11-19 Uhr). Tickets für einzelne Programmpunkte kosten 5,– / 3,– Euro,  Tageskarten 15,– / 10,– Euro und die Festivalkarte mit Eintritt zu allen Veranstaltungen 40,– / 25,– Euro.

In den nächsten Tagen gibt’s hier im Blog noch ausführlichere Hinweise zu einzelnen Veranstaltungen des Festivals. Und natürlich freue ich mich schon sehr, dass ich das Festival mit einem Vortrag eröffnen darf!

(1) Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Aus dem Französischen übertragen von Justus Streller. Neubearbeitet von Georges Schlocker unter Mitarbeit von Francois Bondy. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1969, S. 246

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„38. Rencontres Méditerranéennes“ in Lourmarin über Albert Camus und den Journalismus

Der Oktober wird ein Camus-Monat: Wer mag und die Möglichkeiten dazu hat, der kann von einem Festival zum nächsten reisen. Da sind zunächst die traditionellen Rencontres Méditerranéennes Albert Camus, die nunmehr zum achtunddreißigsten Mal in Lourmarin stattfinden (vom 21. bis 23. Oktober). Und gleich anschließend geht’s nach Aachen, wo die deutschsprachige Albert-Camus-Gesellschaft vom 26. Oktober bis 1.  November zum Camus-Festival unter dem Titel Der Gegenwart alles geben einlädt. 

Fangen wir mit dem zeitlich näher und räumlich entfernter gelegenen an: Die XXXVIII. Rencontres Méditerranéennes stehen heuer unter dem Thema Albert Camus et le journalisme. Da schmerzt es mein Journalistenherz natürlich besonders, dass ich nicht werde dort sein können, und ich schicke schon jetzt herzlichste Grüße nach Lourmarin!

Viele werden bei dem Stichwort „Journalismus“ in Zusammenhang mit Albert Camus sicher zuerst an seine Tätigkeiten als Herausgeber, Redakteur und Leitartikler für die Widerstandszeitung Combat denken, die er 1943 aufnahm und 1947 beendete. Tatsächlich hat Camus aber seine berufliche Laufbahn überhaupt als Journalist begonnen. Schon 1932, im Alter von 19 Jahren, hatte er erste Veröffentlichungen in Sud, einer Monatszeitschrift für Literatur und Kunst in Algier, und in Presse libre besprach er regelmäßig die neuesten Schallplatten.(1) In der Folgezeit schrieb er für Alger-Étudiant sowie für die Zeitschriften Jeune Méditerranée und Rivage; 1938 dann traf er den Chefredakteur des Alger Républicain Pascal Pia – eine Verbindung, die lebenslang halten sollte – und trat als Redakteur der Zeitung bei. Aufsehen erregte er 1939 mit einer Reportageserie im Alger-Républicain über La misère de la Kabylie, das Elend der Berber in der Kabylei. Pascal Pia war es wiederum, der ihm 1940 in Paris einen Posten als Redaktionssekretär bei Paris Soir vermittelte.

Das alles dürfte viel Stoff hergeben, den man unter die Lupe nehmen kann. In der Ankündigung der Rencontres heißt es sinngemäß:

„Die Referenten werden ihren Ansatz und ihre Lektüre der von Camus in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Artikel vorstellen. Auch Artikel von ausländischen Kollegen, mit denen Albert Camus journalistische Beziehungen unterhielt, werden untersucht. Als Journalist, der immer nah an den menschlichen, sozialen und politischen Realitäten seiner Zeit war, vergaß Camus nie, was er als die Aufgabe eines Journalisten betrachtete: 
– Die Leser so wahrheitsgetreu wie möglich zu informieren,
– Für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit und des Friedens einzutreten, auch wenn dies bedeutete, sich gegen diejenigen zu stellen, die seine politischen Ansichten teilten, aber manchmal auch gegen sie verstießen.
Seine Integrität – zu Lebzeiten anerkannt und ein journalistisches Vorbild für unsere Zeitgenossen – bleibt als Beispiel für eine kompromisslose Ethik bestehen: «Ein einziger Fehltritt und alles geht unter: Praxis und Theorie», schrieb er. Diese Lektion ist auch heute noch aktuell.“

(1) Vgl. Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 61.

Zur Seite der XXXVIII. Rencontres geht es hier.

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Um Leben zu retten, dem Hass widerstehen

Gedenktafel für den Arzt Dr. Roger Le Forestier an seinem ehemaligen Haus in Le Chambon-sur-Lignon. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Manchmal wirft man einen kleinen Stein in ein großes Gewässer, und die Kreise, die sich auf der Wasseroberfläche ausbreiten, wachsen sich immer weiter aus. So ein kleiner Stein war die Anfrage von Klaus Stoevesandt, die mich vor nunmehr fast zehn Jahren erreichte: Ob ich wohl etwas über eine mögliche Verbindung zwischen Albert Camus und Albert Schweitzer sagen könne? Das einzige, was ich dazu beitragen konnte, war ein Hinweis auf eine Stelle in der Camus-Biographie von Olivier Todd: Dieser erwähnt einen Arzt namens Dr. Roger Le Forestier, der einerseits Albert Camus als Tubekulosepatient während dessen Zeit auf dem Hochplateau Vivrais-Lignon behandelt hatte, und der andererseits auch vier Monate für Albert Schweitzer in dessen „Urwaldkrankenhaus“ Lambarene gearbeitet hatte.

Klaus Stoevesandt hatte seinerzeit diese Spur aufgenommen und hat sie seitdem immer weiter verfolgt (worüber hier im Blog schon mehrfach zu lesen war). Es entspann sich ein umfangreicher Briefwechsel mit Jean-Philippe Le Forestier, dem Sohn des Dr. Roger Le Forestier, gefolgt von zwei persönlichen Begegnungen mit ihm in Chambon-sur-Lignon. In seiner im Bernsteinverlag erschienenen Schrift Der Dr. Rieux des Albert Camus berichtet er davon und führt seine These aus, dass Le Forestier das real existierende Vorbild für Camus‘ Dr. Bernard Rieux aus Die Pest gewesen sein könnte. Und wie das so ist, wenn man einmal den Faden einer Geschichte aufnimmt: Er spinnt sich weiter und verknüpft sich mit weiteren Geschichten. Und auch wenn sie von Camus wegführen, bleiben sie doch mit ihm verbunden. Deshalb stelle ich Klaus Stoevesandt als Gast heute gerne den Blog zur Verfügung, um davon zu erzählen.

Um Leben zu retten, dem Hass widerstehen

Das Schicksal von zwei französischen Ärzten, die aus Lambarene kamen

Es war 1944 gegen Ende der Besatzung Frankreichs, die man auch die braune Pest genannt hatte. Zwei französische Ärzte des Hospitals von Lambarene, Dr. Roger Le Forestier und Dr. Victor Nessmann fielen dem brutalen Vorgehen der Gestapo zum Opfer. So wie beide zuvor in der Ärzteliste von Lambarene aus der Zeit zwischen den Weltkriegen erwähnt wurden, ist nur für den Kundigen ein bezeichnendes sehr unterschiedliches Merkmal zu erkennen. Eingetragen ist: „Dr. Nessmann 1924-1926 Medecin à Sarlat Décédé“. Für Dr. Le Forestier ist nur ein Ankunftsdatum 13.6.34 vermerkt. Nessmann, von Schweitzer hoch verehrt, Le Forestier leider verschwiegen und vergessen, weil er eigenmächtig vorzeitig nach vier Monaten aus Lambarene abgereist war. Die Tragik des Scheiterns von Dr. Le Forestier dort, der ohne Anleitung Schweitzers innerhalb dieser meist deutsch und elsässisch sprechenden „Mannschaft von Lambarene“ zurechtkommen sollte, hatte ich in dem kleinen Buch Der Dr. Rieux des Albert Camus dargestellt.

Die Association Francaise des Amis d‘Albert Schweitzer (AFAAS) veröffentlichte im Herbst 2019 die umfangreiche Schrift „L‘aventure de Lambaréné“. Als Chefredakteur berichtet Jean-Paul Sorg ausführlich über die zehn französischen Ärzte von Lambarene, von denen vier in der Vorkriegszeit von 1924 an für Albert Schweitzer in Lambarene gearbeitet hatten. Nur ein einziger von ihnen war kein Elsässer, sondern ein Südfranzose aus Montpellier: Es war der von Schweitzer nicht mehr erwähnte Dr. Roger Le Forestier. „Es ist ein besonderer Fall“, beginnt der Text über seine Beziehungen zu Albert Schweitzer. Der dokumentierbare Briefwechsel zu diesem Fall umfasst 19 Briefe auf 15 engbedruckten Seiten und beginnt mit dem 8.8.1932. Nur die zwei letzten Briefe geben einen dramatische Sinneswandel Le Forestiers und auch Schweitzers zu erkennen. So endet die sonst herzliche Beziehung zu Schweitzer unwiderruflich am 6.4.1935. In diesem letzten Brief antwortet Schweitzer auf Le Forestiers klagende Frage, warum er nicht wie früher schreibe: „Ja leider, die Traurigkeit über alles, was passiert ist, hindert mich …“.

Le Forestier und Nessmann waren aktive Mitglieder im Widerstand gegen das deutsche Besatzungsregime und seine französischen Kollobarateure unabhängig voneinander an verschiedenen Orten im besetzten Frankreich. Beide wurden schließlich zu unterschiedlichen Zeiten von der Gestapo verhaftet und erlitten dann in Gefangenschaft einen grausamen Tod. Dr. Nessmann erlag schon am 4. oder 5. Januar 1944 in Limoges einer brutalen Foltermethode und Dr. Le Forestier am 20. August 1944 in Saint-Genis-Laval einem Massaker in den letzten Tagen der Besatzung. Beide Familien, in zynischer Weise völlig im Ungewissen gelassen, konnten erst nach mühseligen eigenen Erkundigungen nach dem Ende des Krieges davon erfahren, was die Väter hatten erleiden müssen.

Zwei Söhne, verbunden durch das Schicksal ihrer Väter

Ein dreiviertel Jahrhundert nach diesen schrecklichen Ereignissen und nach den umfangreichen Recherchen konnten nun Erinnerungen wachgerufen werden. Denn Dr. Roger Le Forestier wäre tatsächlich ein Vergessener geblieben ohne jene Entdeckung, die sich aus dem Namensvermerk in Olivier Todds Camusbiographie ergab. Den umfangreichen Abschnitt über diesen vierten einzigen südfranzösischen Arzt hätte Jean-Paul Sorg dann wohl nicht mehr so schreiben können. Genauso auch mein zusätzliches Kapitel „Erinnerung an einen vergessenen Arzt von Lambarene“, den Sorg übersetzt in „L‘aventure de Lambaréné“ übernommen hatte. Schließlich wurde es Jean-Paul Sorg auch möglich, einen Kontakt zwischen den Söhnen der beiden Ärzte zu vermitteln. Für beide, denen ein gleiches Schicksal in ihrer frühen Kindheit die Väter raubte, wäre es doch wert, sich noch kennen zu lernen.

Jean-Daniel Nessmann und Jean-Philippe Le Forestier tauschten im Jahr 2019 Schriften über ihre Väter aus. Ein weites Feld über die waltenden Umstände und Bedingungen jener Zeit könnte ihnen vielleicht auf diese Weise deutlicher und verständlicher werden. Leider verstarb Jean-Philippe Le Forestier im Dezember 2019. Was sie gegenseitig voneinander erfahren konnten, ist daher nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Doch die hier genannten Voraussetzungen für diese späte Begegnung der Söhne, deren Väter einer menschenverachtenden Gewalt zum Opfer fielen, sollten hier ihre Beachtung finden können.

Aus diesem Grund stellte mir Jean-Paul Sorg auch eine Schrift von Jean-Daniel Nessmann zur Verfügung, die dieser nach dem Austausch der Erinnerungen mit Jean-Philippe Le Forestier verfasst hatte. Einige Aussagen daraus, die das in Lambarene und später in Frankreich Geschehene erweitern und aus einer anderen Perspektive darstellen, seien hier angeführt.

Wir hören dort von einem Missionar Soubeyran, den Le Forestier in Dieulefit in seiner theologischen Ausbildung erlebte, den aber auch Nessmann schon 1924 auf seiner Reise nach Lambarene getroffen und später sogar in Lambarene versorgt habe. Dieser Missionar soll Le Forestier den Weg zu Albert Schweitzer nach Günsbach gewiesen haben. So ist wohl das Treffen zustande gekommen, auf das der erste Brief Schweitzers vom August 1932 an Le Forestier antwortete. Hier fragt heute der Sohn von Victor Nessmann, ob Le Forestier vielleicht danach auch mit seinem Vater in Kontakt gekommen sein könnte. Dr. Nessmann, der schon Erfahrungen aus Lambarene hätte mitteilen können, diente ja während jener Zeit in Mulhouse als Arzt ganz in der Nähe von Günsbach.

Trotz aller guten Vorbereitungen in den darauf folgenden Briefen von Schweitzer bleibt der bedrückend tragische Tatbestand, dass Le Forestier die persönliche Anwesenheit Schweitzers zunehmend schmerzlich vermisste. War er doch der einzige Arzt, der die vielen deutsch-elsässischen Gespräche des europäischen Personals von Lambarene nicht verstand. Im Umgang mit den Patienten war natürlich die französische Sprache notwendiges Bindeglied zu den Dialekten der Einheimischen. Wie er an Schweitzer über sich selbst schrieb, habe er ein zu Scherzen aufgelegtes, fröhliches Gemüt und so wurde er, wenn auch ungewollt von manchem der europäischen Mitarbeiter, „als ein Neuankömmling, als sorglos und kindisch betrachtet“, wie es im Text von J.-D. Nessmann heißt. Sicher fühlte er sich zunehmend isoliert. Schweitzer hätte vermutlich erklärend und ausgleichend wirken können. Auch in dieser genannten Schrift taucht der schwerwiegende Satz auf, der auch den tragischen Brief Forestiers vom 30.10.34 markiert: „Sie hätten mich nicht alleine kommen lassen sollen. Alles wäre in Ordnung gewesen, wenn Sie dabei gewesen wären.“

Ein weiterer Hinweis auf die Inspiration für Camus‘ Dr. Rieux

Über seine Rückkehr nach Frankreich aus dem Kamerun, das er 1935 schwer erkrankt hatte verlassen müssen, seine Genesung in dem ihm vertrauten Ort Dieulefit und seine dort entworfene eindrucksvolle Schrift Über das Leiden ist an anderer Stelle geschrieben worden. Doch aus den Erinnerungen, die der Sohn des Widerstandskämpfers Victor Nessmann noch mit Jean-Philippe Le Forestier austauschen konnte, erfahren wir noch eine wichtige Bestätigung: Der Arzt Le Forestier galt als engagierter, gewaltloser Widerstandskämpfer von Le Chambon-sur-Lignon. Zur gleichen Zeit arbeitete Albert Camus in der Nähe an seinem Roman Die Pest. Nessmann: „Seine Persönlichkeit scheint Albert Camus inspiriert zu haben, den er 1943 wegen Tuberkulose behandelte und mit dem er lange Gespräche führte. In dem Roman Die Pest finden wir die Atmosphäre der Zeit der Nazi-Besetzung in Frankreich (die braune Pest) und die Persönlichkeit von Doktor Rieux im Mittelpunkt des Kampfes gegen die Krankheit.“ So gestaltete Albert Camus den in Lambarene nicht mehr erwähnten Roger Le Forestier zum Leitbild für seinen Doktor Rieux. Im Gegensatz zu dieser zentralen Romanfigur endete Roger Le Forestier jedoch mit vielen anderen Häftlingen im Kugelhagel mordender SS-Soldaten unter dem Kommando des berüchtigten Klaus Barbie.

Albert Camus (1944):
Und sogar, wenn wir morgen wie so viele andere sterben müssten, würden wir keinen Hass empfinden. Wir können nicht gewährleisten, dass wir keine Angst hätten, wir würden nur versuchen uns zu beherrschen. Aber wir können gewährleisten, nichts zu hassen. Mit dem einzigen auf Erden, das ich heute hassen könnte sind wir im reinen, ich wiederhole es; wir wollen euch in eurer Macht vernichten, ohne eure Seele zu verstümmeln.“ (1)

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Jean-Daniel Nessmann dem Sohn von Roger Le Forestier von seiner Geschichte einer schwierigen Begegnung erzählt haben. Er hatte hierzu bewusst eingeladen, als sich eine solche Gelegenheit bot. Es ging um Guy, ein Sohn jenes kollaborierenden elsässischen Gestapomannes, der Victor Nessmann zu Tode gefoltert hatte. „Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen,“ war der Grundgedanke zu dieser, seiner Geste der Versöhnung. Als Freunde haben sie Verbindung gehalten. Auch dieser späte Freund war nach der Zeit der Kriegswirren ohne Vater in Grenoble aufgewachsen. Seine Geschichte wurde in einem französischen Internetbeitrag dargestellt.

Victor Nessmann (1940):
Um fest in unserem Glauben zu bleiben, bedarf es der Gesinnung eines Märtyrers. Es geht im Augenblick darum, sich vor dem Hass zu hüten, der unsere eigene Seele verwüsten würde, und gleichzeitig eine immer größere Festigkeit zu bewahren um das Böse da, wo es sich findet, zu brandmarken.“ (2)

Roger Le Forestier (1936):
Ich habe das menschliche Elend kennengelernt, den Niedergang des Menschen, die Hässlichkeit des Menschen. Ich habe mich geweigert, in den Krankheiten, die uns befallen, die Niederlage des Menschen zu sehen, und ich habe gepflegt, ich habe beruhigt, ich habe getröstet, ich habe geheilt. […] Da wir Menschen sind, die für das Mitleid empfänglich sind, können wir nicht umhin, unsere Mitmenschen zu trösten. […] Das Fleisch heilen, das Leben respektieren, den Schmerz nehmen und unseren Mitmenschen trösten, diese vier Prinzipien sind nicht immer einfach zu vereinigen.“ (3)

Aus der Weigerung von Dr. Le Forestier, Niedergang und Hässlichkeit des Menschen hinzunehmen und so zur Niederlage beizutragen, erwächst seine Fähigkeit zum Mitleid. Unter dem Eindruck der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht schrieb Dr. Nessmann am 23. Mai 1940 aus dem Sanitätsdienst in Sarrebourg an seine Frau von den Gefährdungen durch aufkommenden Hass, „der unsere Seelen verwüsten würde.“ Genauso hält dies Camus für ein zu vermeidendes Übel, das ihn 1944 zu Aufrufen gegen rächende Lynchjustiz veranlasste. Über Gesten der Versöhnung in Gerechtigkeit können bessere und tragfähige Wege in die Zukunft gefunden werden.

Es wurden über sechs Jahre hinweg Wege durch die Lebensgeschichten der hier beschriebenen Menschen in vielen Einzelschritten aufgedeckt. In beeindruckenden Beispielen leuchtete die befreiende und befriedende Kraft des Mitleids auf, im Vergleich mit der Gedankenwelt Albert Schweitzers zu der konkreten Hilfe aus der Not ohne große Worte. Deutlicher noch trat dies hervor im Gegenüber zur destruktiven Macht des nationalen und völkischen Hasses jener Zeit. Scheint es nicht auch heute, nach über 70 Jahren, dringend notwendig, wieder einmal daran zu erinnern?

Klaus Stoevesandt

(1) Albert Camus, Briefe an einen deutschen Freund, in Fragen der Zeit, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997 S. 31f.
(2) Jean-Daniel Nessmann, La Cassure, Mulhouse 1997, S. 41 – ein eindrucksvolles Buch über das Erleben der Familie Dr. Nessmanns während der deutschen Okkupation Frankreichs.
(3) Victor Nessmann, aus seiner unveröffentlichten Schrift Über das Leiden.

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