Um Leben zu retten, dem Hass widerstehen

Gedenktafel für den Arzt Dr. Roger Le Forestier an seinem ehemaligen Haus in Le Chambon-sur-Lignon. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Manchmal wirft man einen kleinen Stein in ein großes Gewässer, und die Kreise, die sich auf der Wasseroberfläche ausbreiten, wachsen sich immer weiter aus. So ein kleiner Stein war die Anfrage von Klaus Stoevesandt, die mich vor nunmehr fast zehn Jahren erreichte: Ob ich wohl etwas über eine mögliche Verbindung zwischen Albert Camus und Albert Schweitzer sagen könne? Das einzige, was ich dazu beitragen konnte, war ein Hinweis auf eine Stelle in der Camus-Biographie von Olivier Todd: Dieser erwähnt einen Arzt namens Dr. Roger Le Forestier, der einerseits Albert Camus als Tubekulosepatient während dessen Zeit auf dem Hochplateau Vivrais-Lignon behandelt hatte, und der andererseits auch vier Monate für Albert Schweitzer in dessen „Urwaldkrankenhaus“ Lambarene gearbeitet hatte.

Klaus Stoevesandt hatte seinerzeit diese Spur aufgenommen und hat sie seitdem immer weiter verfolgt (worüber hier im Blog schon mehrfach zu lesen war). Es entspann sich ein umfangreicher Briefwechsel mit Jean-Philippe Le Forestier, dem Sohn des Dr. Roger Le Forestier, gefolgt von zwei persönlichen Begegnungen mit ihm in Chambon-sur-Lignon. In seiner im Bernsteinverlag erschienenen Schrift Der Dr. Rieux des Albert Camus berichtet er davon und führt seine These aus, dass Le Forestier das real existierende Vorbild für Camus‘ Dr. Bernard Rieux aus Die Pest gewesen sein könnte. Und wie das so ist, wenn man einmal den Faden einer Geschichte aufnimmt: Er spinnt sich weiter und verknüpft sich mit weiteren Geschichten. Und auch wenn sie von Camus wegführen, bleiben sie doch mit ihm verbunden. Deshalb stelle ich Klaus Stoevesandt als Gast heute gerne den Blog zur Verfügung, um davon zu erzählen.

Um Leben zu retten, dem Hass widerstehen

Das Schicksal von zwei französischen Ärzten, die aus Lambarene kamen

Es war 1944 gegen Ende der Besatzung Frankreichs, die man auch die braune Pest genannt hatte. Zwei französische Ärzte des Hospitals von Lambarene, Dr. Roger Le Forestier und Dr. Victor Nessmann fielen dem brutalen Vorgehen der Gestapo zum Opfer. So wie beide zuvor in der Ärzteliste von Lambarene aus der Zeit zwischen den Weltkriegen erwähnt wurden, ist nur für den Kundigen ein bezeichnendes sehr unterschiedliches Merkmal zu erkennen. Eingetragen ist: „Dr. Nessmann 1924-1926 Medecin à Sarlat Décédé“. Für Dr. Le Forestier ist nur ein Ankunftsdatum 13.6.34 vermerkt. Nessmann, von Schweitzer hoch verehrt, Le Forestier leider verschwiegen und vergessen, weil er eigenmächtig vorzeitig nach vier Monaten aus Lambarene abgereist war. Die Tragik des Scheiterns von Dr. Le Forestier dort, der ohne Anleitung Schweitzers innerhalb dieser meist deutsch und elsässisch sprechenden „Mannschaft von Lambarene“ zurechtkommen sollte, hatte ich in dem kleinen Buch Der Dr. Rieux des Albert Camus dargestellt.

Die Association Francaise des Amis d‘Albert Schweitzer (AFAAS) veröffentlichte im Herbst 2019 die umfangreiche Schrift „L‘aventure de Lambaréné“. Als Chefredakteur berichtet Jean-Paul Sorg ausführlich über die zehn französischen Ärzte von Lambarene, von denen vier in der Vorkriegszeit von 1924 an für Albert Schweitzer in Lambarene gearbeitet hatten. Nur ein einziger von ihnen war kein Elsässer, sondern ein Südfranzose aus Montpellier: Es war der von Schweitzer nicht mehr erwähnte Dr. Roger Le Forestier. „Es ist ein besonderer Fall“, beginnt der Text über seine Beziehungen zu Albert Schweitzer. Der dokumentierbare Briefwechsel zu diesem Fall umfasst 19 Briefe auf 15 engbedruckten Seiten und beginnt mit dem 8.8.1932. Nur die zwei letzten Briefe geben einen dramatische Sinneswandel Le Forestiers und auch Schweitzers zu erkennen. So endet die sonst herzliche Beziehung zu Schweitzer unwiderruflich am 6.4.1935. In diesem letzten Brief antwortet Schweitzer auf Le Forestiers klagende Frage, warum er nicht wie früher schreibe: „Ja leider, die Traurigkeit über alles, was passiert ist, hindert mich …“.

Le Forestier und Nessmann waren aktive Mitglieder im Widerstand gegen das deutsche Besatzungsregime und seine französischen Kollobarateure unabhängig voneinander an verschiedenen Orten im besetzten Frankreich. Beide wurden schließlich zu unterschiedlichen Zeiten von der Gestapo verhaftet und erlitten dann in Gefangenschaft einen grausamen Tod. Dr. Nessmann erlag schon am 4. oder 5. Januar 1944 in Limoges einer brutalen Foltermethode und Dr. Le Forestier am 20. August 1944 in Saint-Genis-Laval einem Massaker in den letzten Tagen der Besatzung. Beide Familien, in zynischer Weise völlig im Ungewissen gelassen, konnten erst nach mühseligen eigenen Erkundigungen nach dem Ende des Krieges davon erfahren, was die Väter hatten erleiden müssen.

Zwei Söhne, verbunden durch das Schicksal ihrer Väter

Ein dreiviertel Jahrhundert nach diesen schrecklichen Ereignissen und nach den umfangreichen Recherchen konnten nun Erinnerungen wachgerufen werden. Denn Dr. Roger Le Forestier wäre tatsächlich ein Vergessener geblieben ohne jene Entdeckung, die sich aus dem Namensvermerk in Olivier Todds Camusbiographie ergab. Den umfangreichen Abschnitt über diesen vierten einzigen südfranzösischen Arzt hätte Jean-Paul Sorg dann wohl nicht mehr so schreiben können. Genauso auch mein zusätzliches Kapitel „Erinnerung an einen vergessenen Arzt von Lambarene“, den Sorg übersetzt in „L‘aventure de Lambaréné“ übernommen hatte. Schließlich wurde es Jean-Paul Sorg auch möglich, einen Kontakt zwischen den Söhnen der beiden Ärzte zu vermitteln. Für beide, denen ein gleiches Schicksal in ihrer frühen Kindheit die Väter raubte, wäre es doch wert, sich noch kennen zu lernen.

Jean-Daniel Nessmann und Jean-Philippe Le Forestier tauschten im Jahr 2019 Schriften über ihre Väter aus. Ein weites Feld über die waltenden Umstände und Bedingungen jener Zeit könnte ihnen vielleicht auf diese Weise deutlicher und verständlicher werden. Leider verstarb Jean-Philippe Le Forestier im Dezember 2019. Was sie gegenseitig voneinander erfahren konnten, ist daher nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Doch die hier genannten Voraussetzungen für diese späte Begegnung der Söhne, deren Väter einer menschenverachtenden Gewalt zum Opfer fielen, sollten hier ihre Beachtung finden können.

Aus diesem Grund stellte mir Jean-Paul Sorg auch eine Schrift von Jean-Daniel Nessmann zur Verfügung, die dieser nach dem Austausch der Erinnerungen mit Jean-Philippe Le Forestier verfasst hatte. Einige Aussagen daraus, die das in Lambarene und später in Frankreich Geschehene erweitern und aus einer anderen Perspektive darstellen, seien hier angeführt.

Wir hören dort von einem Missionar Soubeyran, den Le Forestier in Dieulefit in seiner theologischen Ausbildung erlebte, den aber auch Nessmann schon 1924 auf seiner Reise nach Lambarene getroffen und später sogar in Lambarene versorgt habe. Dieser Missionar soll Le Forestier den Weg zu Albert Schweitzer nach Günsbach gewiesen haben. So ist wohl das Treffen zustande gekommen, auf das der erste Brief Schweitzers vom August 1932 an Le Forestier antwortete. Hier fragt heute der Sohn von Victor Nessmann, ob Le Forestier vielleicht danach auch mit seinem Vater in Kontakt gekommen sein könnte. Dr. Nessmann, der schon Erfahrungen aus Lambarene hätte mitteilen können, diente ja während jener Zeit in Mulhouse als Arzt ganz in der Nähe von Günsbach.

Trotz aller guten Vorbereitungen in den darauf folgenden Briefen von Schweitzer bleibt der bedrückend tragische Tatbestand, dass Le Forestier die persönliche Anwesenheit Schweitzers zunehmend schmerzlich vermisste. War er doch der einzige Arzt, der die vielen deutsch-elsässischen Gespräche des europäischen Personals von Lambarene nicht verstand. Im Umgang mit den Patienten war natürlich die französische Sprache notwendiges Bindeglied zu den Dialekten der Einheimischen. Wie er an Schweitzer über sich selbst schrieb, habe er ein zu Scherzen aufgelegtes, fröhliches Gemüt und so wurde er, wenn auch ungewollt von manchem der europäischen Mitarbeiter, „als ein Neuankömmling, als sorglos und kindisch betrachtet“, wie es im Text von J.-D. Nessmann heißt. Sicher fühlte er sich zunehmend isoliert. Schweitzer hätte vermutlich erklärend und ausgleichend wirken können. Auch in dieser genannten Schrift taucht der schwerwiegende Satz auf, der auch den tragischen Brief Forestiers vom 30.10.34 markiert: „Sie hätten mich nicht alleine kommen lassen sollen. Alles wäre in Ordnung gewesen, wenn Sie dabei gewesen wären.“

Ein weiterer Hinweis auf die Inspiration für Camus‘ Dr. Rieux

Über seine Rückkehr nach Frankreich aus dem Kamerun, das er 1935 schwer erkrankt hatte verlassen müssen, seine Genesung in dem ihm vertrauten Ort Dieulefit und seine dort entworfene eindrucksvolle Schrift Über das Leiden ist an anderer Stelle geschrieben worden. Doch aus den Erinnerungen, die der Sohn des Widerstandskämpfers Victor Nessmann noch mit Jean-Philippe Le Forestier austauschen konnte, erfahren wir noch eine wichtige Bestätigung: Der Arzt Le Forestier galt als engagierter, gewaltloser Widerstandskämpfer von Le Chambon-sur-Lignon. Zur gleichen Zeit arbeitete Albert Camus in der Nähe an seinem Roman Die Pest. Nessmann: „Seine Persönlichkeit scheint Albert Camus inspiriert zu haben, den er 1943 wegen Tuberkulose behandelte und mit dem er lange Gespräche führte. In dem Roman Die Pest finden wir die Atmosphäre der Zeit der Nazi-Besetzung in Frankreich (die braune Pest) und die Persönlichkeit von Doktor Rieux im Mittelpunkt des Kampfes gegen die Krankheit.“ So gestaltete Albert Camus den in Lambarene nicht mehr erwähnten Roger Le Forestier zum Leitbild für seinen Doktor Rieux. Im Gegensatz zu dieser zentralen Romanfigur endete Roger Le Forestier jedoch mit vielen anderen Häftlingen im Kugelhagel mordender SS-Soldaten unter dem Kommando des berüchtigten Klaus Barbie.

Albert Camus (1944):
Und sogar, wenn wir morgen wie so viele andere sterben müssten, würden wir keinen Hass empfinden. Wir können nicht gewährleisten, dass wir keine Angst hätten, wir würden nur versuchen uns zu beherrschen. Aber wir können gewährleisten, nichts zu hassen. Mit dem einzigen auf Erden, das ich heute hassen könnte sind wir im reinen, ich wiederhole es; wir wollen euch in eurer Macht vernichten, ohne eure Seele zu verstümmeln.“ (1)

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Jean-Daniel Nessmann dem Sohn von Roger Le Forestier von seiner Geschichte einer schwierigen Begegnung erzählt haben. Er hatte hierzu bewusst eingeladen, als sich eine solche Gelegenheit bot. Es ging um Guy, ein Sohn jenes kollaborierenden elsässischen Gestapomannes, der Victor Nessmann zu Tode gefoltert hatte. „Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen,“ war der Grundgedanke zu dieser, seiner Geste der Versöhnung. Als Freunde haben sie Verbindung gehalten. Auch dieser späte Freund war nach der Zeit der Kriegswirren ohne Vater in Grenoble aufgewachsen. Seine Geschichte wurde in einem französischen Internetbeitrag dargestellt.

Victor Nessmann (1940):
Um fest in unserem Glauben zu bleiben, bedarf es der Gesinnung eines Märtyrers. Es geht im Augenblick darum, sich vor dem Hass zu hüten, der unsere eigene Seele verwüsten würde, und gleichzeitig eine immer größere Festigkeit zu bewahren um das Böse da, wo es sich findet, zu brandmarken.“ (2)

Roger Le Forestier (1936):
Ich habe das menschliche Elend kennengelernt, den Niedergang des Menschen, die Hässlichkeit des Menschen. Ich habe mich geweigert, in den Krankheiten, die uns befallen, die Niederlage des Menschen zu sehen, und ich habe gepflegt, ich habe beruhigt, ich habe getröstet, ich habe geheilt. […] Da wir Menschen sind, die für das Mitleid empfänglich sind, können wir nicht umhin, unsere Mitmenschen zu trösten. […] Das Fleisch heilen, das Leben respektieren, den Schmerz nehmen und unseren Mitmenschen trösten, diese vier Prinzipien sind nicht immer einfach zu vereinigen.“ (3)

Aus der Weigerung von Dr. Le Forestier, Niedergang und Hässlichkeit des Menschen hinzunehmen und so zur Niederlage beizutragen, erwächst seine Fähigkeit zum Mitleid. Unter dem Eindruck der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht schrieb Dr. Nessmann am 23. Mai 1940 aus dem Sanitätsdienst in Sarrebourg an seine Frau von den Gefährdungen durch aufkommenden Hass, „der unsere Seelen verwüsten würde.“ Genauso hält dies Camus für ein zu vermeidendes Übel, das ihn 1944 zu Aufrufen gegen rächende Lynchjustiz veranlasste. Über Gesten der Versöhnung in Gerechtigkeit können bessere und tragfähige Wege in die Zukunft gefunden werden.

Es wurden über sechs Jahre hinweg Wege durch die Lebensgeschichten der hier beschriebenen Menschen in vielen Einzelschritten aufgedeckt. In beeindruckenden Beispielen leuchtete die befreiende und befriedende Kraft des Mitleids auf, im Vergleich mit der Gedankenwelt Albert Schweitzers zu der konkreten Hilfe aus der Not ohne große Worte. Deutlicher noch trat dies hervor im Gegenüber zur destruktiven Macht des nationalen und völkischen Hasses jener Zeit. Scheint es nicht auch heute, nach über 70 Jahren, dringend notwendig, wieder einmal daran zu erinnern?

Klaus Stoevesandt

(1) Albert Camus, Briefe an einen deutschen Freund, in Fragen der Zeit, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997 S. 31f.
(2) Jean-Daniel Nessmann, La Cassure, Mulhouse 1997, S. 41 – ein eindrucksvolles Buch über das Erleben der Familie Dr. Nessmanns während der deutschen Okkupation Frankreichs.
(3) Victor Nessmann, aus seiner unveröffentlichten Schrift Über das Leiden.

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2 Antworten zu Um Leben zu retten, dem Hass widerstehen

  1. PIERRE SCHOTT sagt:

    Chers tous,
    Comme il m’est agréable de lire ce texte, sur ce lien tissé par la grande Histoire entre Camus et Schweitzer (deux prix Nobel), deux références dans ma vision de l’humanisme, deux „médecins“ à leur façon…
    Soleilleuse pensée de Manosque,
    Pétrus

  2. Ruth Schlette sagt:

    Klaus Stoevesandts Suche nach den verschütteten Lebenswegen des Arztes Le Forestier öffnet hoch aktuelle Perspektiven auf den NS-Terror im besetzten Frankreich – und auf den hohen Preis des Widerstands. Ein wichtiger Beitrag!

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