Camus und Hölderlin – verwandte Seelen, zum klaren Tag geboren

Heute vor 175 Jahren, am 7. Juni 1843, starb in Tübingen der Dichter Friedrich Hölderlin.

Doch du, du bist zum klaren Tag geboren.“

„Mais toi, tu es né pour un jour limpide…“

Den Satz aus Hölderlins Tragödie Der Tod des Empedokles hat Camus seiner Essaysammlung L’Été (dt.: Hochzeit des Lichts) als Epigraph vorangestellt.¹ Jedesmal, wenn ich über diesen Satz stolpere, bleibe ich daran hängen und kann es immer neu nicht fassen: Wie kann denn bloß so ein kleiner Satz so ein Gewicht haben? Wie kann ein so kleiner Satz von der Tiefe eines Meeres sein und einen ganzen Sehnsuchtshorizont aufreißen?

Den Hölderlin-Satz hatte Camus 1951 schon in sein Tagebuch notiert, eingebettet in zwei weitere Stellen aus der selben Quelle, die ihn vielleicht noch heller strahlen lassen:

«[O lass uns scheiden…] Und eines bleiben, die zu rechten Zeit / Aus eigner Kraft die Trennungsstunde wählten.» (…) «Vor dem / In todesfroher Stund am heilgen Tage / Das Göttliche den Schleier abgeworfen.»²

Camus kannte fürwahr die Nachtseite des Lebens, aber das Licht, unter dem er geboren wurde, das Licht seiner algerischen Heimat hat ihn immer geleitet. „Man kann sein Leben nicht verfehlen, wenn man es ins Licht stellt“, schrieb er 1936 in sein Tagebuch³. Wie und warum es einem Menschen dennoch unversehens abhanden kommen kann, dieses Lebenslicht, sodass es für ihn auch bei schönstem Sonnenschein kalt und dunkel bleibt, wie es angehen kann, dass ausgerechnet diese schöne Seele, die diesen lichtvollen Satz hervorbrachte, sein Leben in jahrzehntelanger Umnachtung im Turm zu Ende bringen musste, und ob wir alle am Ende eingehen in dunkle Nacht oder ein neues Licht sich auftun wird wie ein klarer Tag  – das gehört zu den großen Rätseln, die nicht aufzulösen sind und die es, in Treue zur Erde, anzunehmen gilt.  Auch seinem Essay Der Mensch in der Revolte stellte Camus einen Vers aus Hölderlins Tod des Empedokles als Epigraph voran:

Und offen gab mein Herz wie du der ernsten Erde sich
der Leidenden und oft in heilger Nacht
Gelobt ich’s ihr, bis in den Tod
die schicksalsvolle furchtlos treu zu lieben
und ihrer Rätsel keines zu verschmähn.
So knüpft ich meinen Todesbund mit ihr.

Seelenverwandtschaft, über die Jahrhunderte hinweg. Auch ein Rätsel  – aber ein schönes. Eines, dessen Unauflösbarkeit nicht Unruhe stiftet oder Angst, sondern Staunen und Dankbarkeit.

* * *

¹ Fehlt leider in den (mir bekannten) deutschen Ausgaben. Im Original: Albert Camus, Oeuvre complètes III, 1949-1956, édition publiée sous la direction de Raymond Gay-Crosier, Gallimard, Paris 2008, Bibliothèque de la Pléiade. p. 565.
² Albert Camus, Tagebücher 1951-1959, Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 14, Eintrag ca. Juni 1951.
³Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. © 1963, 1967 Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, S. 20. Eintrag von Mai 1936.
Foto: Friedrich Hölderlin, Pastell von Franz Karl Hiemer, 1792 (wikicommons)

Zu Leben und Werk Friedrich Hölderlins bei Wikipedia

Verwandte Beiträge:
Hölderlin, Camus und ich spazieren über den Philosophenweg
Von lächelnder Verzweiflung und Trunkenheit beim bloßen Anblick eines Hügels in der Abendluft

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Kalenderblatt, Leben und Werk abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu Camus und Hölderlin – verwandte Seelen, zum klaren Tag geboren

  1. Willy Stucky sagt:

    Dass nur noch vereinzelte Erdenbürger den bedeutendsten Hymnen-Dichter deutscher Sprache, Friedrich Hölderlin, verschämt im stillen Kämmerlein lesen, liegt wohl auf der Hand. Wer kann heutzutage denn noch folgende Zeilen ernstnehmen, die den noch ganz jungen Rhein zwischen den gleissenden Schneebergen beschreiben?

    Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch
    Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn
    Wie du anfingst, wirst du bleiben,
    So viel auch wirket die Not
    Und die Zucht, das meiste nämlich
    Vermag die Geburt,
    Und der Lichtstrahl, der
    Dem Neugebornen begegnet.

    Diese Zeilen entstammen bekanntlich der Rhein-Hymne von Friedrich Hölderlin, d.h. einem längeren philosophischen Gedicht, das an unseren Universitäten in puncto Bedeutung weit hinter der Frage nach dem Geburtenrückgang der Insekten steht – wiewohl zu Unrecht, wie die folgenden Zeilen belegen könnten:

    Wer war es, der zuerst
    Die Liebesbande verderbt
    Und Stricke von ihnen gemacht hat?
    Dann haben des eigenen Rechts
    Und gewiß des himmlischen Feuers
    Gespottet die Trotzigen, dann erst
    Die sterblichen Pfade verachtend
    Verwegnes erwählt
    Und den Göttern gleich zu werden getrachtet.

    Wann das „Spotten“ gegen die äussere Natur sowie gegen die innere Natur des Menschen begann, kann der Dichter nicht sagen. Er weiss aber, dass er zusammen mit seinen Jugendfreunden Schelling und Hegel selbst an diesem Prozess beteiligt gewesen war. Immerhin galt er als der „Erfinder“ des dialektischen Denkens und somit der „deutschen Philosophie“ schlechthin, einer Philosophie, die im heute noch deutungsmächtigen Marxismus gipfelte.
    Als Camus sich auf die Niederschrift seines „L’homme révolté“ vorbereitete, hat er sich mit eben dieser „Philosophie allemande“ auseinandergesetzt – alles in französischer Sprache selbstverständlich. Dabei hat er aufgrund einiger (ins Französische übertragener) Hölderlin-Zitaten offensichtlich schnell gemerkt, dass dieser eigenartige deutsche Dichter zum späteren Hegel und dessen Schüler Marx ja eigentlich in Opposition stand, in einer Opposition, die ihm, Camus, selbst alles andere als unbekannt war, war er doch als junger Mann nach kurzer Mitgliedschaft aus der marxistischen Partei Frankreichs wieder ausgetreten: Ein Sakrileg in den Augen der französischen Linke, die nach dem Erscheinen des „L’homme révolté“ ihre Vermutung bestätigt fand, dass Camus nichts anderes als eine „schöne Seele“ sei, die nicht nur einen lächerlichen mediterranen Licht- und Freiheits-Mythos geschaffen habe, sondern obendrein partout nicht habe begreifen wollen, dass um der Gerechtigkeit willen halt manchmal auch Blut fliesse.
    Zwar sind solche Seelenverwandtschaften über Zeit und Raum hinweg, wie Frau Dr. Anne-Kathrin Reif zu Recht betont, letztlich immer rätselhaft, aber sie sind nachweisbar, und dies oft bis in die Details zweier verglichener Werke hinein.
    Was aber die grossen Linien anbelangt, so könnten sie in diesem Fall mittels der Begriffe „Licht“, „Freiheit“, „Mass“ und „Demut“ umrissen werden.

  2. Sabine Reif sagt:

    …einfach unendlich schön…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.