„Albert Camus und die Juden“ – Ein differenzierter Blick von Heinz Robert Schlette

Heinz-Robert Schlette, Nestor der deutschen Camus-Forschung, wirft einen erhellenden und differenzierten Blick auf das Thema „Albert Camus und die Juden“. Ein Rückblick auf seinen Vortrag in der Buchhandlung Böttger in Bonn – und Vorblick auf den Vortrag am morgigen Sonntag in Aachen.

„Albert Camus und die Juden“ –  ist das überhaupt ein Thema? In der kaum noch zu überschauenden Literatur zu Camus kommt es, wenn überhaupt, allenfalls am Rande vor. Camus selbst hat sich weder dezidiert zur jüdischen Religion noch zur Judenverfolgung und Vernichtung schriftlich geäußert. Aber ist es vielleicht heute gerade deshalb ein Thema? Camus, die „moralische Instanz“ seiner Zeit, bezieht keine Stellung zu Auschwitz und streicht das Kapitel über den Juden Franz Kafka aus seinem Mythos des Sisyphos, damit sein Essay über das Absurde 1942 bei Gallimard unter deutscher Besatzung erscheinen kann?

Schlette betont gleich zu Beginn, dass sein ins Auge gefasstes Thema historisch, politisch, philosophisch, kulturell und religiös bzw. theologisch mit zahlreichen schwierigen Fragen verbunden ist. Dennoch lässt er keinen Zweifel daran, dass er solche latenten Vorwürfe, wie sie etwa Iris Radisch in ihrer Biografie Albert Camus. Das Ideal der Einfachheit (Rowohlt 2013) erhebt, für blanken Unsinn hält.

In seinem Vortrag am 19. April 2018 in der voll besetzten Buchhandlung Böttger in Bonn dröselte Schlette minutiös zwei Stränge der Betrachtung auseinander:  In einem ersten Teil nimmt Heinz Robert Schlette die Person Camus in den Blick und stellt sein Verhältnis zu Juden und dem Judentum in dessen Leben heraus. In einem zweiten Teil geht er auf Camus‘ philosophische und theologische Sicht des Judentums und der jüdischen Religion ein.

Eine Fülle von fragmentarischen Details

Für beide Bereiche hat Schlette eine erstaunliche Fülle von fragmentarischen Details zusammengetragen, aus denen sich am Ende doch so etwas wie ein Gesamtbild abzeichnet. Er hat nicht nur die bekannten großen Biografien von Herbert Lottmann und Oliver Todd durchforstet sondern schöpft auch aus Quellen wie einem Vortrag des bedeutenden französischen Camus-Kenners und -Freundes Jean Daniel 1998 in Jerusalem oder der kurzen, aber wichtigen Korrespondenz zwischen Camus und dem jüdischen Philosophen Martin Buber.

Schlette geht diesen Quellen mit professionellem Spürsinn nach, erfreulicher Weise ohne dabei in einen Rechtfertigungsmodus zu verfallen. Die Tatsache, dass Camus schon in seiner Jugendzeit in Algerien ebenso wie später in seinem Leben zahlreiche jüdische Freunde und Bekannte hatte, sei für diesen offenbar eine Selbstverständlichkeit gewesen – weshalb Schlette davon absieht, eigens Namen zu nennen. Die Art der Kommunikation Camus‘ mit den zahlreichen Menschen, mit denen er Kontakt pflegte, war immun gegen dubiose, unbegründbare Abgrenzungen – würden wir heute bestimmte Namen aufzählen, so führten wir eine befremdliche Trennung ein, mit der Camus nichts zu tun hatte, befindet Schlette.

„Man muss Partei ergreifen, Widerstand leisten“

Vor diesem Hintergrund führt er sodann einige biografische Eckpunkte Camus‘ zum Thema aus: So beteiligte sich Camus in Oran als Lehrer für Französisch an einer Privatschule, die der jüdische Lehrer André Benichou und andere gegründetet hatten, als dort unter dem Vichy-Regime jüdische Kinder und Lehrer aus den staatlichen Schulen ausgeschlossen wurden. Eine längere Ausführung widmet Schlette der Zeit von August 1942 bis Herbst 1943, als sich Camus aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung bei Chambon-sur-Lignon in französischen Hochland aufhielt, wo er an seinem Roman Die Pest arbeitete. Alles spricht dafür, so Schlette, dass Camus von den Rettungsaktionen der überwiegend hugenottischen Bevölkerung in dieser Gegend, die mehrere tausend Juden dem Zugriff der Vichy-Leute und der Deutschen entzogen, Kenntnis hatte und sie unterstützte – u.a. über seinen behandelnden Arzt Dr. Roger Le Forestier, einen der federführenden Aktivisten. – Ein Kapitel, das der Autor Klaus Stoevesandt insbesondere im Hinblick auf die Verbindung Albert Schweitzer – Le Forestier – Camus in zwei Schriften nachgegangen ist, wovon hier im Blog schon mehrfach berichtet wurde.

In diese Zeit fällt auch ein Treffen von Camus mit einer alten Bekannten aus Algerien im nicht weit entfernten St. Etienne, die ihn nach den Gerüchten fragte, die über die Juden im Umlauf waren  – Olivier Todd berichtet davon: „Deportationen? Ja, es stimmt, sagt Camus. Man muss Partei ergreifen, Widerstand leisten.“

Bald nach dem Ende des Krieges habe Camus von dem ganzen Ausmaß der deutschen Judenvernichtung erfahren. Insbesondere kannte er das Buch L’Univers concentrationnaire des Schriftstellers und Widerstandskämpfers David Rousset von 1946, in dem das KZ Buchenwald eine besondere Rolle spielt. In seinem L’homme révolté (1951) spricht Camus von sieben Millionen ermordeter Juden. In seinen Carnets nennt er an verschiedenen Stellen die Konzentrationslager Bergen-Belsen, Birkenau, Buchenwald, Dachau, Majdanek und Ravensbrück. Nicht Auschwitz sondern Buchenwald sei seinerzeit in Frankreich das Symbolwort für den nationalsozialistischen Terror gewesen, betont Schlette unter Berufung auf Jean-Yves Guérin, Herausgeber des bedeutenden Camus-Lexikons – weshalb es eben „nebenbei bemerkt“ eine große Dummheit sei, zu bemängeln, Camus habe Auschwitz nicht erwähnt.

Der erste Teil des Vortrags endet mit einem Hinweis auf den kurzen aber wichtigen Briefwechsel Camus‘ mit dem jüdischen Philosophen Martin Buber im Jahr 1952, der überraschender Weise weder bei Lottmann noch bei Todd erwähnt wird, und den Schlette in der dreibändigen deutschen Ausgabe der Korrespondenz von Martin Buber aufspürte. Buber hatte Kenntnis von Camus‘ L’homme révolté und setzte sich für die Übersetzung ins Hebräische und Veröffentlichung beim nationalen Verlag Israels ein. Allerdings fände sich ein Satz im L’Homme révolté, den er „ungerecht“ fände und der ihn ganz besonders störe, kritisiert Buber. Camus spricht darin vom „unerbittlichen Himmel“ des Alten Testamentes. Buber wirft Camus vor, er habe das jüdische Gottesbild falsch verstanden.

Die Erben Kains und die metaphysische Revolte

Die Ausführungen dazu leiten unmittelbar über zum zweiten Teil des Vortrags, in dem Prof. Schlette auf Camus‘ Sicht der jüdischen Religion eingeht. Es bestehe kein Zweifel daran, so Schlette, dass Camus trotz seiner Sympathien für die Juden seiner Zeit mit den Grundpositionen des Judentums als Theorie bzw. als Religion nicht einverstanden war. Schlette findet Aussagen von Camus dazu schon in dessen Examensschrift Christliche Metaphysik und Neoplatonismus (wenn auch nicht als zentrales Thema) und schließlich vor allem in dem Kapitel Die metaphysische Revolte in L’Homme révolté. Zentrale Themen, die Schlette herausstellt, sind auf der einen Seite das im Christentum weitergeführte lineare jüdische Geschichtsdenken, das sich bis zu Hegel und Marx fortsetze und an dessen Ende nach Camus Geschichte und Macht als zerstörerische Kräfte übrigbleiben – wogegen Camus die Erneuerung der griechisch-antiken Werte beschwört. Und zum anderen Camus‘ Verständnis des biblischen Gottes als des unerbittlichen, launischen und strafenden Gottes, wie es im Abschnitt Die Söhne Kains im Kapitel Die metaphysische Revolte zum Ausdruck kommt. Hier ist allerdings festzuhalten, dass Camus nicht dezidiert zwischen „jüdischer“ und „christlicher“ Religion trennt, wenn er den Gott des Alten Testamentes in den Blick nimmt – die Auflehnung richtet sich gegen den persönlichen Gott, wie er uns in der jüdischen und christlichen Tradition gegenübertritt.

In seinem Antwortbrief an Martin Buber, in dem Camus auf dessen Kritik eingeht, entschuldigt er sich gewissermaßen für Unzulänglichkeiten und Verkürzungen, die der Tatsache geschuldet seien, dass man versuche zusammenzufassen, was sich nicht zusammenfassen lässt. – So geht es mir an dieser Stelle auch: Der kenntnisreiche und differenzierte Vortrag von Prof. Heinz-Robert Schlette lässt sich nur umrisshaft und gewiss nicht angemessen in einem kleinen Blogbeitrag zusammenfassen. Umso besser, dass sich noch einmal die Gelegenheit ergibt, ihn en Detail anzuhören:

Prof. Dr. Dr. Heinz Robert Schlette: „Albert Camus und die Juden“. Sonntag, 10. Juni, um 12 Uhr bei der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen, Jakobstr. 26a. Der Eintritt ist frei.

 

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