Meursault auf der Opernbühne in Mannheim: Ein sinnlich-intellektuelles Vergnügen

Albert Camus‘ Der Fremde erstmals als Musiktheater: Musik und Inszenierung geben Geist und Sinnen gleichermaßen Futter.

Joachim Goltz als Meursault steht bei seiner aufgebahrten Mutter (Amelia Scicolone) und raucht eine Zigarette. Foto: Maximilian Borchardt

Zur Uraufführung am 30. Juni hatte ich es leider nicht geschafft, aber jetzt hatte ich die Freude, doch noch eine Vorstellung der Kammeroper von Cecilia Arditto Delsoglio und Annette Müller nach Camus‘ Roman Der Fremde im Studio Werkhaus des Nationaltheater Mannheim erleben zu können. Und eine Freude war es wahrhaftig. Das Team Delsoglio/Müller hatte mit seinem Konzept (und einer auskomponierten Szene) den vom Mannheimer Theater ausgeschriebenen Kompositionswettbewerb gewonnen – und auch ohne die anderen Einreichungen zu kennen, kann man sicherlich sagen: Die Jury hat eine gute Wahl getroffen. Das Ergebnis überzeugt und macht, siehe oben: Freude. 

Vor vielen Jahren gab ich auf die Frage, was meine Kriterien für eine Theaterrezension seien, kurz und bündig zur Antwort: „Wenn ich nicht geheult, gelacht oder nachgedacht habe, war’s nicht gut“.

Nun ist der Mörder Meursault in seiner ganzen indifférence sicher keiner, um den man Tränen vergießen würde. Sonderlich viel Anlass zum Lachen gibt die Geschichte auch nicht her. Zum Nachdenken bietet sie freilich reichlich Stoff, aber dazu bräuchte es keine Opernfassung. Ich muss konstatieren: Mein einstiger Dreifach-Prüfstein taugt hier nichts. Vielleicht hatte ich dabei einfach die Freude vergessen, das Vergnügen bereitende sinnlich-intellektuelle Erlebnis an sich.

„Ein sinnlich-intellektuelles Erlebnis“? Ist das nicht ein hölzernes Eisen? Nein, keineswegs. Cecilia Arditto Delsoglio hat sich nach eigenen Worten von Anfang an auf die sinnliche Dimension des Textes von Camus konzentriert – und bleibt dabei ganz nah am Protagonisten Meursault. Der nimmt die Welt und das Geschehen um sich herum über die Sinne wahr, ohne nachzudenken, ohne zu urteilen. Seine Welt ist die schlichter sinnlicher Vergnügungen im eher öden, aber ohne Verdruss erlebten Gleichmaß der Tage. Camus erschafft in seiner Erzählung die Atmosphäre drückend heißer algerischer Sommertage voller Licht und Hitze, angefüllt mit Farben und Geräuschen. Und der Komponistin gelingt es, diese sinnliche Dimension in Musik (Töne, Klänge) umzusetzen, während die Regie darauf verzichtet, auch nur den kleinsten Ansatz einer psychologischen Interpretation für diesen seltsamen Charakter Meursault anzubieten. Und genau das überzeugt. Bariton Joachim Goltz im hellen Sommeranzug gibt den Meursault mit klangvoller Stimme aber ohne jedwede Dramatik und schafft es tatsächlich über das ganze Geschehen hinweg, den gleichen völlig neutralen Gesichtsausdruck aufrechtzuerhalten, in den sich im zweiten Teil allenfalls ein wenig Erstaunen mischt.

Trauerzug bei der Beerdigung von Meursaults Mutter: Stefan Rupp, Patrick Zielke als Heimleiter, Alexander Schuhwerk. Foto: Maximilian Borchardt

Viel Platz für Aktion ist nicht auf der kleinen Studiobühne. Auch von einem Bühnenbild kann im traditionellen Sinne kaum die Rede sein. Zwischen dem auf der Bühne platzierten Orchester (links und rechts je sieben Musiker:innen) bleibt mittig nur wenig Spiel-Raum. Darin zu Anfang, weiß auf weiß, ein schlichtes Podest, auf dem schwarz gekleidet Meursaults verstorbene Mutter aufgebahrt liegt. In der Schwimmbadszene wird es im Boden versenkt zum Bad, wo Meursault auf Marie trifft; später reichen ein schlichter weißer Tisch und Stühle bzw. eine ebenfalls weiße Bank für alle weiteren Szenen. Zu keinem Zeitpunkt werden irgendwelche naturalistischen Bühnenillusionen geschaffen. Die in verschiedenen Farben beleuchtete Rückwand dient als Projektionsfläche für den Text, der anders als bei üblicher Opern-Übertitelung nicht parallel die (in französisch) gesungenen Worte übersetzt, sondern eins zu eins aus der deutschen Fassung von Der Fremde übernommen ist. Er erklärt und ergänzt somit das Bühnengeschehen, bzw. bringt den Zuschauer dazu, das Gesehene in eigener Imagination zu ergänzen. 

Patrick Zielke als Untersuchungsrichter, Slavica Božić, Amelia Scicolone, Joachim Goltz.
Foto: Maximilian Borchardt

Klingt in dieser Beschreibung alles ein bisschen spröde und gar nicht so sehr nach „sinnlich-intellektuellem Vergnügen“? Aber das ist gerade das Erstaunliche: Wie es dennoch gelingt. Zuvörderst natürlich durch die Musik, für die mir als musikalischer Laie die Mittel angemessener Beschreibung oder gar kompetenter Analyse fehlen. In der Wirkung jedenfalls ist sie ungemein dicht, komplex, spannend, flirrend, verwoben mit Alltagsgeräuschen wie dem Rascheln der Tageszeitung, dem Surren von Ventilatoren oder der Luftschwingung von Fächern, mit denen die Musiker:innen sich in der Gerichtsszene Luft zufächeln und damit zugleich zum Publikum im überhitzten Gerichtssaal werden. So wie einige Musiker in der Beerdigungsszene ihre Plätze verlassen und den Sarg umkreisend zu Spielern werden, die den (imaginären) Trauerzug anführen. Musikalische und szenische Funktionen verschwimmen, Text und Gesang laufen nicht parallel, alles greift ineinander und verzahnt sich, ohne dass das eine das andere einfach nur abbildet. Im Programmheft-Interview zitiert Cecilia Arditto Delsoglio die Aussage Robert Bressons „Gib nicht den Augen, was du den Ohren gibst“ (1). Dieser Maxime folgend gibt die Inszenierung Geist und Sinnen des Zuschauenden und Zuhörenden permanent Futter. Und weiter im Interview: „Wir versuchen, sehr stark das >Inter<- zu erforschen, im Sinne des Zwischenraumes. Damit ist Interaktion zwischen Sänger*innen und Instrumentalist*innen, zwischen Klang und Raum, zwischen Ton und Text gemeint. Wir versuchen, auf allen unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig zu erzählen und nicht einer Ebene die Deutungshoheit zu übertragen“ (2). Das gelingt vortrefflich und macht das Ganze so spannend.

Amelia Scicolone als Marie, im Vordergrund Meursault Joachim Goltz. Foto: Maximilian Borchardt

Selbstredend, dass die exzellenten Sängerinnen und Sänger entscheidenden Anteil am gelungenen Ganzen haben. Neben dem schon erwähnten Joachim Goltz/Meursault ist es Amelia Scicolone als Marie, die aussieht, als wäre sie der Graphic Novel von Jacques Ferrandez entsprungen (mithin entzückend) und mit glasklarem, bis in höchste Höhen reichenden Sopran Frische und Unbekümmertheit ihrer Figur ausdrückt. Unsicherheiten gegenüber Meursaults merkwürdigem Verhalten lacht sie mit spitzen, stakkatohaften Koloraturen weg. Patrick Zielke überzeugt mit nuancenreichem Bass im ersten Teil als Heimleiter und windiger Kleinkrimineller Raymond (Meursaults Nachbar) ebenso wie als Untersuchungsrichter in schwarzer Robe und geradezu sich selbst aufblähender Bedeutung im zweiten Teil. Slavica Božić (mit schönem Mezzo) übernimmt verschiedene, zum Teil erzählerische Funktionen und schafft so einen stimmlichen Ausgleich im männerlastigen Kosmos von Der Fremde.

Patrick Zielke als Raymond (links) und Joachim Goltz /Meursault prosten sich zu. Der Klang der anstoßenden Gläser ist Teil der Komposition. Foto: Maximilian Borchardt

Bei aller Begeisterung und dem völligen Einverständnis mit dem ästhetischen Zugriff auf die Textvorlage – am Ende standen zwei dicke fette Fragezeichen in meinen Augen. Klar ist: Die Umsetzung eines Romans in ein Bühnenwerk erfordert immer Textstreichungen an der ein oder anderen Stelle. Dramaturgische Entscheidungen, bei denen diverse Aspekte eine Rolle spielen. Worauf muss, worauf will man verzichten? Die Aufführungslänge bei einem Stück ohne Pause spielt eine Rolle, die Umsetzbarkeit innerhalb eines Konzepts, braucht man eventuell weitere Darsteller, erfordert etwas zusätzliche Mittel etc. etc. Über weite Strecken habe ich absolut nichts vermisst – die ganze Geschichte ist im Prinzip da. Aber dann – – – fehlt die komplette Szene, in der Meursault in seiner Gefängniszelle Besuch vom Anstaltsgeistlichen bekommt, der ihn zur Reue bewegen will. Eine absolut entscheidende Szene für die Entwicklung dieser Figur Meursault, sein Ausbruch aus der Gleichgültigkeit, die Stunde des Bewusstseins, seine Abrechnung mit dem ganzen bigotten und verlogenen System einer Gesellschaft, die ihn letztlich zum Tode verurteilt, weil er auf der Beerdigung seiner Mutter nicht geweint hat. 

Warum diese wichtige Szene weglassen, während man kleinen Nebengeschichten wie dem alten Salamano und seinem Hund oder Meursaults Fund der Tageszeitung mit der Geschichte von Das Missverständnis Raum gelassen hat? Nach der Vorstellung hatte ich Gelegenheit, Cecilia Arditto Delsoglio danach zu fragen. Natürlich hätten die Dramaturgin Annette Müller und sie darüber nachgedacht, und zunächst einmal sei es eine ökonomische Frage bezüglich der Reduzierung der Charaktere und der Textmenge gewesen, erklärt die Komponistin. Vor allem aber hätten sie das große Thema der Religion ausklammern wollen: „We wanted to keep it more universal.“ Die erwähnten kleinen Nebengeschichten dagegen seien so wunderbar und poetisch in ihrer Absurdität und würden dem Ganzen Farbe verleihen, die man in einer Oper eben auch brauche. – Verstehe ich, hätte aber trotzdem gegen ein paar zusätzlich Minuten umwillen der Priester-Szene ganz und gar nichts einzuwenden gehabt.

Mein zweites Fragezeichen: Die eingeblendeten Texte, die elementarer Bestandteil der Inszenierung sind, sind eins zu eins aus der deutschen Übersetzung übernommen (3). Collagehaft zusammengesetzt, aber nicht verändert. „We didn’t change a Komma„, betont die Komponistin, als ich zu meiner Frage ansetze. Ja – aber warum in aller Welt streicht man dann die letzten Worte von Meursault, mit denen der Text endet? Meursault wünscht sich am Ende für seine Hinrichtung nicht einfach „viele Zuschauer“, sondern „viele Zuschauer, die ihn mit Schreien des Hasses empfangen.“ Das ist keine Kleinigkeit. 

Dies sei eine Entscheidung der Dramaturgin gewesen, sagt Cecilia, aber die kann ich leider nicht fragen. Ich vermute, dass diese Entscheidung mit der Umschiffung des Themas „Religion“ zusammenhängt, da sich die Aussage Meursaults als Referenz zur Kreuzigung Jesu auslegen lässt. Im Roman kommt dieser Satz aber unvermittelt wie ein mächtiger, dissonanter Schlussakkord daher, der einen in dem Moment völlig unvorbereitet trifft und zunächst mal mit einem großen Rätsel zurücklässt. Mag sein, dass ein solcher Schluss das Opernpublikum noch mehr irritiert hätte als die Leserschaft – aber das Publikum mit einem solchen Rätsel nach Hause zu schicken, an dem man noch lange herumknabbern kann, hätte Camus wohl mehr entsprochen. Und mir besser gefallen. 

Was der Camus-Spezialistin Fragen aufgibt, muss aber die Opernbesucher, bei denen diese erste Umsetzung von Camus‘ berühmten Roman fürs Musiktheater hervorragend angekommen ist, nicht gleichermaßen interessieren. Deshalb will ich damit auch nicht enden. Ich denke vielmehr an jene Momente gegen Ende des Romans, in denen Meursault in seiner Gefängniszelle bewusst wird, dass er glücklich war und immer noch glücklich ist: Wenn er die Trompete eines Eisverkäufers hört und ihn Erinnerungen überfallen an ein Leben, in dem er die „ärmsten und hartnäckigsten Freuden“ gefunden hatte, oder wenn er in seiner Zelle die aufsteigenden Düfte aus „Nacht, Erde und Salz“ in sich aufsaugt und empfänglich wird für die „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“. Hier mischt Camus‘ in seinen klaren, völlig schnörkellosen Erzählstil von Der Fremde lyrische Töne, die aus seinen literarischen Essays stammen könnten. Cecilia Arditto Delsoglio findet für diesen Kunstgriff die perfekte musikalische Entsprechung mit wunderbaren melodiösen, tonalen, erzählerischen Klängen, die gegenüber der Gesamtkomposition wie ein Fremdkörper wirken. Als Zuhörer ist man hier am Ende ganz nah bei Meursault und teilt seine glücklichen Erinnerungen und seinen Einklang mit der Welt. Und das ist schließlich auch ein sehr schönes Gefühl, mit dem man nach Hause geht.

Wenn ich die Gelegenheit hätte, würde ich mir diese Inszenierung sofort noch einmal anschauen – und sicherlich noch viel mehr darin entdecken.

Letzte Vorstellung am Samstag, 13. Juli 2024, 19 Uhr (nur noch Restkarten). Infos (auch zu allen Beteiligten), Pressestimmen und Trailer auf der Seite des Nationaltheaters Mannheim.

BESETZUNG:
Komposition und Co-Regie: Cecilia Arditto Delsoglio. Musikalische Leitung: Pierre-Alain Monot. Regie und Bühne: Annette Müller. Kostüme: Oliver Kostecka. Dramaturgie: Daniel Joshua Busche, Jan Dvořák. Sopran: Amelia Scicolone. Mezzo: Slavica Božić. Bariton: Joachim Goltz. Bass: Patrick Zielke. Orchester des Nationaltheaters Mannheim.

Komponistin Cecilia Arditto Delsoglio (links) stellte sich nach der Vorstellung bereitwillig meinen Fragen. ©Foto: privat

Anmerkungen:
(1) Im Gespräch mit Daniel Joshua Busche, Programmheft zur Uraufführung am Nationaltheater Mannheim am 30.6.2024, S. 21; (2) ebd. S. 22; (3) In neuer Übersetzung von Uli Aumüller, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek b. Hamburg 2024

VERWANDTE BEITRÄGE:
Meursault singt! Albert Camus‘ „Der Fremde“ als Kammeroper am Nationaltheater Mannheim
Nationaltheater Mannheim schreibt einen internationalen Kompositionswettbewerb zu Camus‘ „Der Fremde“ aus
„Der Fremde“ als Graphic Novel – beeindruckend umgesetzt von Jacques Ferrandez (75 Jahre „Der Fremde“ 2)
… und alle weiteren Beiträge im Blog unter dem Stichwort „Der Fremde“

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Ins Leere laufen lassen oder von der Überlegenheit der Missachtung

Albert Camus (vorne Mitte) und sein Freund Abdel Paul Pitous (links neben ihm) in der Mannschaft der École Pratique d’Industrie (E.P.I.). ©Foto: Photo collection particulière

Es ist Fußball-Europameisterschaft, und das heißt: Albert Camus rückt auf der Liste der meistverwendeten Zitate (mal wieder) ganz nach oben:

„… alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball …“ (1)

Auch die Albert Camus Gesellschaft in Aachen nimmt Camus‘ Fußball-Leidenschaft zum thematischen Anlass für den offenen Gesprächskreis am morgigen Dienstag, 25. Juni 2024. Der Vorsitzende Holger Vanicek sagt aber fast schon entschuldigend: „Es ist naheliegend, ja, beinahe schon kitschig, Albert Camus‘ Leidenschaft für den Fußball als Ausgangspunkt für ein Gespräch, das während einer Fußball-WM oder -EM stattfindet, zu wählen.“

Camus habe bei seinem Ausspruch sicherlich nicht an die großen Fußballverbände, die Funktionäre oder an irgendwelche Hooligans gedacht, denen die Selbstdarstellung wichtiger als das Spiel selbst ist, meint Vanicek. In der Ankündigung zum Jour Fixe fährt er fort: „Wenn 22 Spieler aufeinander treffen, kommen 22 Fähigkeiten, 22 Ideen von denen niemand vorher weiß, ob man sie auch umsetzen kann, zusammen. Eingespielte Strategien zweier Mannschaften hängen letztlich von einer Menge von Zufällen ab, beide wollen dasselbe erreichen, doch jeweils nur für sich selbst. Es entsteht ein Spiel, bei dem man sich körperlich verausgabt, einen Sieg erringt oder eine Niederlage erleidet und das nicht nur gegen den Kontrahenten, sondern vor allem gegen sich selber. Camus wusste 

„… dass der Ball nie auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben …“ (2)

Camus‘ Jugendfreund Abel Paul Pitous berichtet in seinem kleinen Buch Mon cher Albert (3) über ein denkwürdiges Spiel von Camus‘ Mannschaft gegen einen gewohnt überlegenen Gegner. Nachdem man überraschend das erste Tor erzielt hatte, errang die Außenseiter-Mannschaft ein zweites, das zur Verwunderung aller Beteiligten aber durch den Schiedsrichter aberkannt wurde. Dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit begegnete Camus‘ mit einer erstaunlichen Geste. Als anschließend ein Gegenspieler mit dem Ball auf sein Tor zulief, stelle Camus sich nicht entgegen, sondern zog wie zum Gruße seine Ballonmütze und ließ ihn ungehindert passieren. Das Spiel war verloren, doch Camus hat die Schmach gegen ihn und seine Mannschaft in einen moralischen Sieg umgekehrt.

Diese Haltung, eine Unterlegenheit in eine andere Form der Überlegenheit umzukehren, erinnert an Camus‘ Aussage „Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.“ (4)  Sisyphos hat keinen Einfluss auf das Schicksal, das man ihm auferlegt hat, doch er bestimmt, in welcher Weise er es annimmt. Hätte Camus‘ Mannschaft mit Wut reagiert, wäre die Schmach gegen sie vollendet gewesen. Mit seiner Geste aber hat er die Farce ad absurdum geführt und dadurch das in dieser Situation höchstmögliche Glück für sich und sein Team errungen.“

Es steckt also doch eine ganze Menge in dem schon halb zu Tode gerittenen Zitat, was Stoff für ein schönes Gespräch bieten kann!

Termin: Dienstag, 25. Juni 2024, um 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen (Eintritt frei).

 (1) Albert Camus, Was ich dem Fußball verdanke, in: Abel Paul Pitous, Mon cher Albert, Ein Brief an Albert Camus. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Arche Verlag, Zürich 2014, S.84; (2) daselbst S. 81; (3) Es handelte sich um einen Brief, den er 1970, also zehn Jahre nach Camus‘ Tod, an ihn geschrieben hatte, der in seinem Nachlass entdeckt und 2013 dem Verlag Gallimard zur Verfügung gestellt wurde; (4) Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt 2010, S. 158.

Natürlich habe ich das Fußball-Thema auch schon das ein oder andere Mal im Blog aufgegriffen und auch die von Abel Paul Patous wiedergegebene Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählt. Zum Weiterlesen:

Von Moral und Fußball oder „Alles für die Ehre!“ Im Tor: Albert Camus

„Der Ball kommt nie so auf einen zu, wie man es erwartet“

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Meursault singt! Albert Camus‘ „Der Fremde“ als Kammeroper am Nationaltheater Mannheim

Als Adaption fürs Theater hat Albert Camus‘ Roman Der Fremde schon häufig den Weg auf die Bühne gefunden – aber als Oper? Das ist außergewöhnlich. 2019 hatte das Nationaltheater Mannheim einen internationalen Kompositionswettbewerb ausgerufen. „Gesucht werden Konzeptionen, die sich Camus’ Roman auf narrative, philosophische, phantastische oder genreübergreifende Art nähern“, hieß es damals in der Ausschreibung. Alle zeitgenössischen Musikstile von Avantgarde bis Pop waren möglich und erwünscht. Einzige Vorgabe: Das Stück sollte mit den Mitteln der Studiobühne eines Stadttheaters aufführbar sein und als Sängerbesetzung höchstens vier Personen aufweisen, eventuell plus Sprecher, aber keinen Chor.

Bekanntlich legte alsbald ein lästiges Virus das Kulturleben auf längere Zeit lahm, sodass es mit der Umsetzung ein wenig länger gedauert hat als vorgesehen, aber jetzt ist es so weit: Am 30. Juni 2024 feiert Der Fremde erstmals in Form einer Kammeroper Uraufführung auf der Studiobühne des Nationaltheaters Mannheim.

Die Komponistin Cecilia Arditto Delsoglio. ©Foto: Michel Marang

Geschaffen hat sie die 1966 in Buenos Aires geborene Komponistin Cecilia Arditto Delsoglio im Team mit Annette Müller (Libretto) und Bart Brouns (Beratung). Das Team war als Sieger aus dem Wettbewerb hervorgegangen, zu dem knapp 100 Bewerbungen aus aller Welt eingegangen waren. Sechs Finalteams wurden von der Operndramaturgie ausgewählt, welche die Aufgabe gemeistert hatten, eine Szene aus Der Fremde für Piano, Violine und drei Gesangsstimmen zu vertonen.

Eine erste Ahnung dessen, worauf man gespannt sein darf, vermitteln Statements aus der Begründung der Jury: „Ich habe mich für das Team um Cecilia Arditto entschieden, weil mir die Kombination einer klaren Erzählweise dicht am Autor mit einer phantastischen Welt aus Geräuschen, Klängen, Lichtern und Bewegungen spannend und innovativ erschien. Anstelle einer Oper erwarte ich mir ein fremde, poetische Klang-Welt„, erklärte Jurymitglied Jan Dvořák seine Entscheidung (Dramaturg, Komponist und Leiter des Festivals »Mannheimer Sommer«). Und auch dem Komponisten Sidney Corbett gefiel vor allem die „Linearität der Erzählweise“ und die „Sinnlichkeit der musikalischen Sprache“, besonders im Zusammenhang mit vom Text inspirierten Klangobjekten.

In diese Richtung hat sich offenbar die gesamte Oper weiterentwickelt – soviel verrät die Ankündigung des Nationaltheaters Mannheim:

„Eine poetische Welt aus Stimmen, Geräuschen, Instrumentalklängen, Ventilatoren und Wasserschüsseln? Die Komponistin Cecilia Arditto (…) liest Camus’ Schlüsselroman über das Leben im Zeitalter des Absurden als eine Art Partitur, bei der das Eigentliche immer zwischen den Zeilen steht: Die Sonne, die Hitze, die Gerüche, das Meer. „Der, der auf Raymond eingestochen hatte, sah ihn an, ohne etwas zu sagen. Der andere blies auf einer kleinen Flöte und wiederholte, während er uns ansah, unentwegt die drei Töne, die er aus seinem Instrument herausholen konnte. Während dieser ganzen Zeit war da nichts als die Sonne und diese Stille mit dem leisen Murmeln der Quelle und den drei Tönen.“ Cecilia Arditto Delsoglio wird gemeinsam mit Co-Regisseurin Annette Müller die Geschichte des vollkommen gleichgültigen Algerienfranzosen Meursault, seiner Freundin Marie, dem Kleinkriminellen Raymond und einem ganz unbegreiflichen Mord an einem Algerier zu einem intimen Drama der Klänge machen.

Ich hoffe doch sehr, dass ich es zu einer der Vorstellungen schaffen werde… Ich bin schon sehr gespannt darauf und freue mich auf das Erlebnis!

Der Fremde

Kammeroper von Cecilia Arditto Delsoglio und Annette Müller nach Originaltexten aus L’Étranger von Albert Camus. Dauer voraussichtlich ca. 1 Std 30 Min, keine Pause. In deutscher und französischer Sprache mit deutschen Übertiteln.

Termine:

Uraufführung am 30. Juni im Rahmen des Mannheimer Sommer 2024 (ausverkauft).
Weitere Vorstellungen am 3., 6. und 13. Juli, 20 Uhr. Kurzeinführung jeweils um 19.40 Uhr.

Rahmenprogramm:

Einführungsmatinée: Am 23. Juni, 2024, 11 Uhr. Die Podiumsdiskussion (Opernintendant Albrecht Puhlmann und das Produktionsteam) mit Live-Musik bietet einen exklusiven Einblick in das Opernkonzept von Der Fremde und geht die großen Fragen rund um die Uraufführung an. Tickets

Film & Oper: Am 26. Juni 2024, 17.30 Uhr, gibt es eine der seltenen Gelegenheiten, die Visconti-Verfilmung von Der Fremde mit Marcello Mastroianni in deutscher Fassung zu sehen (über die hier im Blog schon das ein oder andere Mal zu lesen war, einfach mal Visconti in die Suchmaske eingeben).

Am 2. Juli 2024, 19.30 Uhr: „Journey to Algeria“ – Der Sound Nordafrikas mit der Band Haz’art, Info hier

Und am 4. Juli 2024, 19.30 Uhr: Musiksalon extra / Im Salon mit Cecilia Arditto

Tickets zu allen Veranstaltungen über die Webseite des Nationaltheater Mannheim

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Mit Albert Camus in die Wüste reisen

Mit dem Begriff „Wüste“ kann man ja die unterschiedlichsten Vorstellungen verbinden. Zum Beispiel sowas wie Ödnis und Dürre, mithin in etwa das, was schon viel zu lange auf diesem Blog herrscht, den der Andrang von Lebensereignissen und Alltagsanforderungen so weit hat austrocknen lassen, dass jetzt sogar schon die Veranstaltungsankündigungen auf den allerletzten Drücker kommen. – Oder man kann an all das denken, was Albert Camus Zeit seines Lebens an der Wüste seiner algerischen Heimat so fasziniert hat. Davon kann man bei einer Veranstaltung der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen mehr erfahren, denn die lädt am morgigen Samstag, 25. Mai 2024, zu Prosatexten von Camus zum Thema und Liedern aus Algerien ein. Passenderweise um 13 Uhr, also zur Mittagsstunde, wenn die Sonne zumindest über der Wüste hoch steht und so unerbittlich brennt, dass sie unter Umständen sogar tödliche Wirkung entfaltet – wie bei Meursault in Der Fremde, der der Sonne die Schuld für den von ihm begangenen Mord zuschreibt. Für Aachen und weitere hiesige Regionen ist für morgen allerdings Regen angesagt, und so bleibt uns nichts anderes übrig, als uns nicht nur mitten im Winter, sondern auch im ziemlich verregneten Frühjahr auf die Suche nach dem unbesiegbaren Sommer in uns zu machen.

Samstag, 25. Mai 2024, 13 Uhr: Albert Camus‘ Heimkehr in die Wüste, im philosophischen Institut LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen (Eintritt frei).

Außerdem noch der Hinweis auf zwei Leseabende bei der Lengfeld’sche Buchhandlung in Köln (Kolpingplatz 1, Nähe Hauptbahnhof), die ebenfalls zum Thema passen:

Am 4. und 5. Juni 2024 liest Helge Heynold jeweils um 19 Uhr aus Albert Camus‘ Novellen Die Stummen und Der Wind in Djemila. Der Eintritt ist frei (Spenden willkommen), aber Platzreservierung ist erforderlich (über die Webseite https://www.lengfeldsche.de/veranstaltungen.html oder telefonisch: 0221/2578403.

Wer es nicht nach Köln schafft: Die Lesung kann zudem unter folgendem Link online verfolgt werden: 

https://www.youtube.com/channel/UCaqK8vKmDAGfCriOZcD1Ydg

Allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden, Camus-Freundinnen und Blog-Leserinnen ein schönes Wochenende – möge die Wüste erblühen!

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Große Themen im kleinen Format: Albert Camus‘ „Der Belagerungszustand“ als Figurentheater

Szenen aus „Der Belagerungszustand“ beim Figurentheater Blauer Mond. ©Fotos: David Thürey

„(…) ein einziges Haar dieses Kindes ist mir lieber als der Himmel selbst. Ich mache den Mund auf. Und sei es nur, um dem da zu sagen, dass er nie das Recht auf seiner Seite hatte, denn das Recht, hörst du, Casado, das Recht ist aufseiten derer, die leiden, stöhnen und hoffen. Und es ist nicht, es kann nicht aufseiten derer sein, die rechnen und raffen.“ (1)

Zu meiner schon sehr lange bestehenden Liebe zum Figurentheater habe ich mich hier ja schon des öfteren bekannt. Bei mir hat sich das vom geliebten Kasperletheater als Kind eher in eine kunstvolle Richtung entwickelt, Camus dagegen liebte auch das derbe Puppentheater des Grand-Guignol sehr. „Das ist wahres Theater“, soll er dazu bemerkt haben (2). Was hätte er wohl dazu gesagt, dass ein Figurentheater sein Stück Der Belagerungszustand inszeniert? Ich vermute, er wäre zumindest neugierig gewesen. Genau wie ich, nur findet das Ganze leider mal wieder nicht bei mir um die Ecke statt, sondern im Wendland.

Claudia de Boer vom Figurentheater Blauer Mond hat sich das Stück vorgenommen, bei dem es sich trotz des gemeinsamen Themas der Pest keineswegs bloß um eine Theaterfassung von Camus‘ Roman Die Pest handelt, wie er selbst betont hat. Ein Blick hinein genügt, um festzustellen, dass Camus so ziemlich alle großen Themen hineingepackt hat, die ihm wichtig waren. Darauf nimmt auch die Ankündigung auf der Theaterwebseite Bezug:

„Ich habe nie aufgehört, den ‚Belagerungszustand‘ trotz all seiner Unzulänglichkeiten als das Werk zu betrachten, das mir am meisten entspricht“, so Albert Camus, Antifaschist und radikaler Humanist, über sein metaphorisches Theaterstück. Camus schildert darin, wie ein plötzlich errichtetes tyrannisches System die Menschen und ihre Werte verändert. Der zeitlose Text, der eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft in der Krise zeigt, hat nichts an Brisanz und Aktualität verloren. Er trifft mit einer großen Wucht. In unserer Umsetzung orientieren wir uns an Camus‘ Vorgabe, alle denkbaren Formen des Ausdrucks zu verwenden: Figurenspiel, Schattenspiel, Schauspiel, Hörspielelemente und eine eigens entwickelte Bühnenmusik werden verwoben, um dem vielschichtigen Theaterstück gerecht zu werden.“

Zur Premiere im November 2023 gab es viel Lob. Jetzt stehen weitere Aufführungen an:

TERMINE:
Samstag, 20. April 2024, 20.15 und Sonntag, 21. April, 18 Uhr, beim Kulturverein Platenlaase, Jameln, sowie am 9. und 10. Mai, 20 Uhr, in der Zeetzer Mühle in Zeetz im Rahmen der Kulturellen Landpartie Niedersachsen. Mehr Infos hier; Karten unter Telefon 05865/ 9883373.

Der Belagerungszustand (L’État de Siège) wurde 1948 am Théâtre Marigny in Paris uraufgeführt. Regie führte Jean-Louis Barrault, das Bühnenbild stammte von Balthus und die Bühnenmusik von Arthur Honegger. In der Inszenierung von Claudia de Boer, die auch die Figuren gebaut hat, sorgt Johannes Gahl für Live-Musik am Klavier.

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(1) in: Sämtliche Dramen. Erweiterte Neuausgabe. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 2013, S. 214. (2) vergl. Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 783.

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Vom „Sozialismus der Galgen“ und der Freiheit der Kunst

Albert Camus, gezeichnet von Sebastian Ybbs.

„Schließlich glaube ich (wie man sagt: ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde), daß die Freiheit und die freie Gegenüberstellung der Verschiedenheiten die unerläßliche Bedingung intellektueller Schöpfung und historischer Gerechtigkeit bilden. Ohne Freiheit keine Kunst; die Kunst lebt nur von den Beschränkungen, die sich sich selbst auferlegt, an den anderen geht sie zugrunde. Aber ohne Freiheit auch kein Sozialismus, es sei denn der Sozialismus der Galgen.“ (1)

Der Jour fixe der Albert Camus Gesellschaft in Aachen am kommenden Dienstag 12. März 2024, rückt unter dem Titel Camus‘ Sozialismus – und Sozialismus heute den politischen Camus in den Mittelpunkt.  

Ich weiß nicht, ob das Thema der Freiheit der Kunst dabei auch Thema sein wird, aber bei der Suche nach einem schönen Zitat, um die Ankündigung auszuschmücken, wie ich es gern tue, stieß ich auf den oben zitierten Schluss des Interviews, welches Albert Camus 1956 im Zusammenhang mit dem Aufstand in Ungarn gegeben hat. Auf eine Umfrage der von Iganzio Silone und Nicola Chiaromonte geleiteten italienischen Zeitschrift Tempo presente hatte er die Antworten gegeben, die er anschließend für die französischen Leser von Demain näher ausgeführt hat. Deutsch findet man es unter dem Titel Der Sozialismus der Galgen in der Sammlung Fragen der Zeit. Ob nun im Zusammenhang mit dem Sozialismus oder davon vollkommen lösgelöst scheint es mir einerseits von zeitloser Gültigkeit und andererseits heute angesichts ausufernder Debatten über das, was im Bereich der Kunst und Kultur von immer mehr mit- bzw. gegeneinander ringenden Interessengruppen gerade alles als nicht mehr statthaft angesehen wird, so dringlich und aktuell wie schon lange nicht mehr. 

Holger Vanicek schreibt in der Ankündigung für den Jour fixe:

„Der Sozialismus hatte in seinem Ursprung noch konkrete Leitgedanken, anhand derer man zumindest gewisse Eckpunkte in seiner Auslegung definieren konnte. Doch bald schon entwickelten sich vielfältige Strömungen der linken Bewegung, die sich zum Teil auch untereinander bekämpften. Albert Camus stand dem Sozialismus immer sehr nahe, vor dem Krieg war er kurzzeitig Mitglied in der kommunistischen Partei, danach hatte er enge Kontakte zu sozialistischen Politikern, die sich um den Wiederaufbau der französischen Republik mühten, schließlich zog es ihn hin zu den Anarcho-Syndikalisten. Sozialismus heute zu definieren, fällt insbesondere schwer, da sich neben Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten die Bewegung in immer neue Strömungen auffächert, die sich eher im Hinblick auf das politische Tagesgeschäft als durch ihre ursprünglichen Intentionen unterscheiden.

Was steckt hinter der sozialistischen Idee, wie sie etwa Camus‘ Verständnis entspricht? Diese Fragestellung dürfte auch im Hinblick auf die anstehende Europawahl interessante Aspekte hervorbringen.

Nach einer kleinen Einführung in das Thema, wollen wir mit Euch/ Ihnen darüber ins Gespräch kommen. Die Teilnahme ist (wie immer) offen für alle Interessierten, kostenlos und ohne Anmeldung möglich. Ein Vorwissen ist nicht erforderlich, Neugier hingegen förderlich.

Termin: Dienstag, 12. März 2024 um 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen.

***

(1) Albert Camus, Der Sozialismus der Galgen, in: Fragen der Zeit, Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Hamburg 1960, S. 188)

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Ab heute Abend: „Die Pest“ als vierteilige Serie im französischen Fernsehen

Trailer von „La peste“, ab 4. März auf France 2

Am Schluss von Albert Camus‘ Roman Die Pest feiern die Menschen in den Straßen voller Freude das Ende der Seuche. Nur Dr. Rieux kann die Freude nicht ungetrübt teilen. Zum einen wird er seine in der Zwischenzeit in der Ferne gestorbene Frau nicht wiedersehen. Und zum anderen kann er nicht über das hinwegsehen, was er weiß: Nämlich, dass der Pestbazillus niemals ganz verschwindet, „sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bünden alter Papiere geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.“ (1)

Eine vierteilige Fernsehserie auf dem französischen Kanal France 2 macht ernst mit diesem Szenario und verlegt Camus‘ 1947 veröffentlichte Geschichte in die Zukunft des Jahres 2030. Verantwortlich für diesen Plot ist das Drehbuchautorenduo Georges-Marc Benamou und Gilles Taurand (Regie: Antoine Garceau). Pressemitteilung umreißt den Inhalt so: „Wir befinden uns im Jahr 2030 in einer Gesellschaft, in der die Ängste und Sorgen von heute seltsam nachhallen. Diese Gesellschaft hat gerade erst die Welle der Covid-Epidemien hinter sich gelassen. Während die Menschen gelernt haben, mit den saisonalen Covid-Varianten zu leben, wird in dieser Stadt im Süden eine neue Variante des Pestbazillus namens YP2 entdeckt. Um den Rest des Landes zu schonen, beschließt die Zentralregierung, die Stadt abzuriegeln und einen mysteriösen „Plan D“ umzusetzen, der nach und nach seine monströse Wirkung entfaltet.“ Den Dr. Bernard Rieux spielt Frédéric Pierrot.

Einen kleinen Vorgeschmack und mehr zum Konzept der Verfilmung durch verschiedenen Beteiligte gibt’s in dieser Präsentation:

Präsentation der TV-Adaption von „Die Pest“, die im Jahr 2030 spielt.

Spannende Sache das Ganze, die auch Catherine Camus überzeugt zu haben scheint. Sie wird in der Pressemitteilung zitiert:

Catherine Camus: „Die Adaption von >Die Pest< als Serie war eine gewagte und riskante Herausforderung. Ich habe alle vier Episoden gesehen und war ebenso gerührt wie gefesselt. Vielen Dank für diese respektvolle und sehr gelungene Adaption! Alles, was interpretiert oder hinzugefügt wurde, ist meiner Meinung nach völlig im Sinne meines Vaters.“

Jetzt muss ich nur noch schnell rausfinden, wie ich France 2 hier streamen kann, und dann steht dem Fernsehabend nichts mehr im Wege! Start heute, 4. März 2024, 21.10 Uhr.

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(1) Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1950, S. 202

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Albert Camus und das Heilige im Diesseits

Eine Sendung zum Nachhören beim Deutschlandfunk und der erste Gesprächskreis 2024
bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen

Liebe Camus-Freunde und Blog-Leserinnen (und umgekehrt) – Sie haben morgen Abend (6. Februar 2024) noch nichts vor und wohnen im Umkreis von Aachen? Dann wäre der erste Jour Fixe bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen eine Option. Das sehr schöne, wichtige und spannende Thema lautet Albert Camus und das Heilige im Diesseits. Angeregt wurde es durch die Sendung Das Heilige im Diesseits – Albert Camus und die Religion von Burkhard Reinartz, die der Deutschlandfunk am 10. Januar dieses Jahres ausgestrahlt hat. Darin wird zwar auch viel Allgemeines, Biographisches, Bekanntes über Camus ausgebreitet (von der Kindheit in Armut bis zum tödlichen Autounfall), aber darüber hinaus bringt der in Wien lehrende Theologe und Philosoph Hans Schelkshorn einige Aspekte von Camus‘ Denken klar auf den Punkt, wie Holger Vanicek in seiner Einladung treffend feststellt. – Die Einladung gilt übrigens wie immer für alle Interessierten – ein tiefes Wissen über das Thema oder über Albert Camus ist nicht erforderlich. Vielmehr gehe es darum, sich gegenseitig zu neuen Gedanken und Erkenntnissen anzuregen, betont der Vorsitzende der Albert Camus Gesellschaft.

Das Titelthema kommt für mein Empfinden in der Sendung vom Deutschlandfunk ein gutes Stück zu kurz, aber es finden sich doch die entscheidenden Äußerungen von Camus wie „Ich habe einen Sinn für das Heilige“ (1) und vor allem diese:

Ich lese oft, ich sei Atheist. Ich höre oft von meinem Atheismus reden. Aber diese Worte sagen mir nichts. Sie haben keinen Sinn für mich. Ich glaube nicht an Gott und ich bin kein Atheist. Ich möchte festhalten, dass ich mich nicht im Besitz irgendeiner absoluten Wahrheit oder Botschaft fühle und deshalb niemals vom Grundsatz ausgehen werde, die christliche Wahrheit sei eine Illusion, sondern nur von der Tatsache, dass ich ihr nicht teilhaftig zu werden vermochte. Wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht diese Sünde darin, auf ein anderes, jenseitiges Leben zu hoffen, und sich der unerbittlichen Größe dieses jetzigen Lebens zu entziehen. Ich behaupte, dass ich am Glück der Engel im Himmel keinen Geschmack finde.“  (2)

Ich wünsche allen Teilnehmenden einen anregenden Gesprächsabend, bei dem das Bild von Camus als Agnostiker mit Sinn für das Heilige deutlich werden möge. Termin: Dienstag, 6. Februar 2024, um 19.30 Uhr im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen (Teilnahme kostenfrei).

Vor- oder nachbereitend oder auch einfach nur so kann man sich die Sendung vom Deutschlandfunk noch in der Mediathek hier anhören.

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Die Zitate sind im Radiobeitrag naturgemäß ohne Quellenangabe. Meines Wissens handelt es sich um (1) Ein paar Fragen in Prousts Manier. Ein spätes Interview mit Jean-Claude Brisville (1959), in >Du<. Die Zeitschrift der Kultur. Heft Nr. 6/1992: Wiederbegegnung mit Albert Camus. Zürich, Juni 1992, S. 19-20. Hier antwortet Camus auf eine Frage von Brisville: „Ich habe einen Sinn für das Heilige, und ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben; das ist alles.“ (2) Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 155, Eintrag vom 1. November 1954.

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Nur ein paar Worte am letzten Tag des Jahres

Kleine Auswahl ungelesener Camus-Lektüre… (Büchertisch beim Festival in Lourmarin 2023). Foto: akr

Marbach an der Donau, 31. Dezember 2023. Wieder einmal ein zu Ende gehendes Jahr. Ich möchte nach längerer Blog-Pause wenigstens einen Jahresendbeitrag schreiben, aber er stürzt mir nach jedem Versuch ein wie ein Kartenhaus. Für mich war es ein Jahr, das viele wunderbare, strahlende Momente hatte, aber auch ein Jahr, in dem mir die Weltläufe mehr zugesetzt haben als zuvor. In dem es mehr Kraft erforderte, den Alltag zu bestehen. Und am Ende überschattet ein großer Abschied mein Jahr, und Camus‘ unbesiegbarer Sommer, der auch tief in meinem Inneren lebt, ist gerade von einer dicken Trauerwolke verhangen.

Die Abstände zwischen Beiträgen im Blog sind in diesem Jahr noch größer geworden als zuvor, die meisten Bücher aus dem Camus-Kosmos, die ich mit Enthusiasmus gekauft habe, sind ungelesen oder mindestens hier unkommentiert geblieben, und manche schöne Gelegenheit für einen „Immer-nur-ein-Schritt-bis-zu-Camus“-Beitrag ist ungenutzt verstrichen. Ich weiß nicht, was das nächste Jahr bringen wird. Ich kann und mag nichtmal ein aufmunterndes Camus-Zitat zum versöhnlichen Jahresende und optimistischen Jahresanfang aus der Tasche ziehen. Aber manchmal hilft es, sich an die eigenen Worte zu erinnern. Gerade bin ich nämlich unterwegs in Österreich, und da erinnere mich daran, wie ich vor einigen Jahren hier gemeinsam mit Camus auf die Reise ging. Wie ich in Gedanken den ziemlich depressiven jungen Camus, der auf seiner Reise diesem wunderbaren Land so herzlich wenig abgewinnen konnte, bei der Hand nahm:

Ich hätte ihm gezeigt, dass man sich nur mitten auf eine Holzbrücke, die über einen Gebirgsbach führt, hinstellen und die Augen schließen muss, damit das eiskalte, frische Wasser durch einen hindurchfließt und den ganzen inwendigen Mist, den man mit sich rumträgt, mit sich fortnimmt. Wir hätten ganz allein am Ufer des Gleinkersees gesessen, der dort zwischen den Bergen liegt, als hätte der liebe Gott dahingespuckt (Absurdität hin oder her). Ganz still wäre es gewesen, und beim Hinlauschen hätten wir hören können, wie das auftauende Eis in lauter kleinen Bläschen zerplatzt und langsam das grünspiegelnde Wasser des Sees freigibt. Unter der dünnen, durchscheinenden Eisfläche hätten wir ein silbriges Gewimmel beobachtet: junge Forellen, Rotfedern und Bachsaiblinge, die sich in dichten Knäueln tummeln und ans Licht drängen, und bestimmt hätte Albert sofort erfasst, was für ein wunderbares, hoffnungsvolles Bild das ist für die Lebenskräfte, die manchmal lange Zeit unter seelischem Eis eingeschlossen sind und sich dann doch wieder Bahn brechen, wenn es angefangen hat zu tauen, weil es immer irgendwann wieder anfängt zu tauen.

Daran denke ich, und darauf vertraue ich: Dass die Lebenskräfte immer wieder die Eisdecke durchbrechen, dass es auch 2024 wieder Frühling wird, dass der inwendige Sommer sich erneut als unbesiegbar erweisen wird. Und das wünsche ich auch Ihnen und Euch, liebe Blog-Leser und Camus-Freundinnen, Camus-Freunde und Blog-Leserinnen. Ich danke von Herzen für Ihre und Eure Begleitung durch das elfte Jahr 365-Tage-Camus.de – sie bedeutet mir viel! In diesem Sinne: auf ein gutes neues Jahr 2024 und à bientôt!

(Foto links beim Camus-Festival in Lourmarin 2023, ©privat).

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Der ganze Österreichbeitrag hier: Von kostbarer Vollkommenheit und geheimer Not – Mit Camus auf Reisen in Österreich

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Ein Plädoyer für Nüchternheit als Replik auf meine „Gedanken zum Tage“

Ein Kommentar von Helmut Martens

Heute erhielt ich einen langen Kommentar auf meinen letzten Beitrag Von einem verpassten Geburtstagsbeitrag zu Gedanken zum Tage von Blog-Leser Helmut Martens. Das soll jetzt hier nicht zur Regel werden, aber da ich es zu schätzen weiß, wenn sich jemand so einlässlich mit meinen Beiträgen beschäftigt und sich Gedanken dazu macht, mache ich hier eine Ausnahme und veröffentliche den sehr ausführlichen Kommentar gewissermaßen als Gastbeitrag. Ich verstehe dies als offenen Beitrag zu den Debatten dieser Tage.

Vorab möchte ich nur eines betonen: Es lag mir fern, die geschichtliche Situation des (blutigen) Konflikts zwischen Arabern und dem damals französischen Algerien mit dem von heute zwischen Israel und der palästinensischen Hamas gleichzusetzen. Es ging mir einzig und allein um Camus‘ so prägnante Beschreibung einer „Zwangsehe“, in der zwei Völker die gleiche Heimat für sich beanspruchen, die es nicht schaffen, miteinander zu leben. Und da es davon (leider) noch etliche weitere Fälle gibt, ließen sich die von mir im Text gelassenen Lücken auch noch mit anderen Beispielen füllen – ohne damit freilich je den geschichtlichen und politischen Kontext gleichzusetzen. Am Ende steht bei Camus – und ich denke, bei allen Menschen – immer eines: der Wunsch nach Frieden.

Hier nun also der Text von Helmut Martens – die Überschrift stammt von mir.

Ein Plädoyer für Nüchternheit in finsteren Zeiten

Ein sehr schöner  Beitrag zum 110. Geburtstag Albert Camus‘ am 7. November dieses einigermaßen finsteren Jahres. Das schöne Zitat aus seinem Brief an einen algerischen Aktivisten aus dem Jahr 1955 drängt sich in der Tat auf. Es nach dem Massaker der terroristischen Hamas vom 7. Oktober so auf die gegenwärtige Lage zu beziehen macht  m.E. aber vor allem hilflos. Wenn ich versuche, den Philosophen, Schriftsteller und stets politisch engagierten Intellektuellen im Blick auf die heutige Lage fruchtbar zu machen, setze ich etwas andere Akzente. 

Wenn Camus vor fast siebzig Jahren der Hoffnung Ausdruck gegeben hat – als politisch engagierter Intellektueller, aber auch als Schriftsteller –, dass Araber und Franzosen im damals französischen Algerien am Ende doch noch gemeinsam eine Heimat wiederfinden könnten, ist das nicht zuletzt Ausdruck des  flammenden Wunsches des französischen Afrikaners Camus gewesen. Doch solche Leidenschaft  hat ihn nie an nüchternen Analysen gehindert. Wie Camus selbst nur zu gut wusste – er hat ja selbst in den Dreißigerjahren politisch für die Emanzipation der algerischen Jugend gegen die französische Kolonialmacht gearbeitet und verließ die KPF als sie eben diesen Kampf beendete  –, führten die algerischen Araber in den fünfziger Jahren in seiner geliebten Heimat einen antikolonialer Kampf. Und den führten sie angesichts des völligen Verlust(s) des Vertrauens in jede von Frankreich garantierte Lösung, so formuliert in seinem Memorandum Algerien 1958. Camus hat diesen Befreiungskrieg aber zugleich im Kontext der damaligen geopolitischen Lage auch kritisch beurteilt – also einer russischen Strategie, die für ihn darin bestand, in Europa den Status Quo zu verlangen, das heißt die Anerkennung seines eigenen Kolonialsystems, und den mittleren Osten und Afrika in Bewegung zu setzen, um Europa von Süden her einzukreisen. In solcher Lage hat er  für den Lauriol-Plan einer föderativen freien Verbindung plädiert, die vielleicht zur Verwirklichung eines wahre(n) französische(n) Commonwealth führen könne – so in dem kurzen Text Das neue Algerien. Darin stellt er aber auch sehr nüchtern fest: Diese Lösung ist nicht im Hinblick auf die algerischen Verhältnisse utopisch, sondern im Hinblick auf den Zustand der französischen politischen Gesellschaft. 

Die lange Kette der Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, in die sich nun sein Krieg gegen die Hamas einfügt, hat hingegen nie den Charakter kolonialer und antikolonialer Kämpfe gehabt. Dass dies in Teilen der Linken seit dem Sechstagekrieg von 1967 behauptet wird, kann nur als Ausdruck des Verlusts realistischer politischer Orientierung interpretiert werden. Hingegen ist seit der Gründung des Staates Israel, Camus‘ Bild von der Zwangsehe und der tödlichen Umarmung sehr viel treffender, als es das für Algerien gewesen ist. Die UN-Resolution 181 II vom 29.11.1947  hat seinerzeit neben der Gründung Israels auch die eines Palästinenserstaates vorgesehen. Die arabischen Nachbarstaaten wollten dagegen die israelische Staatsgründung militärisch verhindern. Sie unterlagen, aber sie haben die Zweistaatenlösung von Anfang an unmöglich gemacht. Mit den Folgen leben Juden und Palästinenser in der Region nun seit über siebzig Jahren über mehrere Kriege hinweg. 

Interessanter Weise gab es 1942, also lange vor der Gründung Israels, auch den Vorschlag, statt einer israelischen Staatsgründung eine Föderation von Palästinensern und Juden zu schaffen. Martin Buber und Hannah Arendt haben dafür plädiert. Arendt sprach 1942, als eine zionistische Konferenz in New York anders entschied, davon, man werde so am Ende keine neue Heimstatt schaffen, sondern ein Schlachtfeld. Auch das ist aus heutiger Sicht erschreckend aktuell. Es gab in den Neunzigerjahren unter der Regierung des Israelischen Ministerpräsident Yitzhak Rabin für kurze Zeit Hoffnung auf die Rückkehr der Zweistaatenlösung  und die Einleitung eines wirklichen Friedensprozesses. Sie zerstob nach dem politischen Mord an ihm. Seit es das Regime der Mullahs im Iran gibt, existiert dort zudem ein muslimischer Staat, dessen Staatsraison die Vernichtung Israels ist – und der zielstrebig Terrororganisationen wie die Hamas oder die Hisbollah unterstützt.

Welche ernstliche Alternative zum Versuch der Zerschlagung der Hamas hat also Israel heute? Man muss mit dessen rechter Regierung, die lange gemeint zu haben scheint, das Palästina-Problem schlicht ignorieren zu können, nicht sympathisieren, aber doch Israel unterstützen. Man muss Israels Regierung  aber zugleich zu Antworten auf die Frage drängen, welche Lösungen sie für die Zeit nach dem Ende des Krieges mit der Hamas anstrebt – und man muss Antworten fordern, die auch den Palästinensern gerecht werden. Man darf sogar darauf hoffen, dass gerade die jetzige, schier aussichtslos scheinende Situation verrückterweise produktive Lösungen aus sich heraus hervorbringen könnte – und nicht eine wirklich verheerende Ausweitung dieses Konflikts. Denn der ist auch heute in seinem geopolitischen Kontext zu betrachten. Der ist beunruhigender Weise dem nicht ganz unähnlich, auf den Camus zu seiner Zeit aufmerksam gemacht hat – leider auch im Hinblick auf die immer noch fortwirkende Last der Geschichte und des Denkens eines lange Zeit imperial und kolonialistisch geprägten Europas auch hier bei uns. 

Als Beobachter der gegenwärtigen Entwicklung bleibt man so relativ hilflos, und man hat durchaus Anlass zu Pessimismus. Um auf Camus zurückzukommen: Der hat 1957 in seiner Erzählung Der Gast die Sackgasse eindringlich gestaltet, in die der immer noch im kolonialistischen Geist geführte Algerienkrieg Frankreichs führen musste. In der damaligen wie in unserer heutigen Lage fühle ich mich deshalb eher an seinen Prometheus in der Hölle erinnert. Als Camus 1954 diesen Mittelmeer Essay veröffentlicht hat, hat er sich und seine Zeitgenossen, neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch mit Prometheus in der Hölle gesehen: Nach und nach sind wir eingetreten. Und beim ersten Schrei der ermordeten Unschuld schlugen die Tore hinter uns zu. Wir waren in der Hölle und sind nie mehr herausgekommen.

Für Israel und Palästina würden diese Sätze mithin seit über siebzig Jahren gelten. Selbstverständlich muss man gleichwohl stets von neuem versuchen, aus unserer Hölle herauszugelangen, also den Stein, so wie der Sisyphos den seinen, den Berg hinauf zu schaffen – und man soll dabei nicht verzweifeln, sondern Sisyphos als glücklichen Menschen ansehen. Es braucht aber eines nüchternen Blicks auf die gegenwärtige Lage, wenn wenigstens relative Fortschritte erreicht werden sollen. Man möchte nicht in der Haut der politisch Handelnden stecken, also vor den Aufgaben stehen, die zum Beispiel die deutsche Außenministerin heute zu bewältigen hat – und man muss froh sein, dass die US-amerikanische Regierung Biden in diesem Konflikt bemerkenswert klug agiert. Als Schreibender und politisch engagierter Intellektueller heute soll man sich aber um die Nüchternheit der Analyse bemühen, für die Camus stets beispielhaft gestanden hat.

Zur Person
Dr. Helmut Martens, geboren 1948 in Hannover, studierte Politikwissenschaften und Neuere Deutsche Literaturwissenschaften. Er promovierte an der Universität Dortmund und arbeitete bis 2011 im Bereich arbeitsbezogener Forschung und Beratung am Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund. Eine ausführliche Biographie, eine Liste seiner Veröffentlichungen und verschiedene Schriften zum Download (darunter auch zu Albert Camus) finden sich auf seiner Webseite www.drhelmutmartens.de


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