Es ist eine dieser Geschichten, die anfangen mit dem Gedanken: „Ach, ich frag jetzt einfach mal“, und die plötzlich ins Rollen kommen, wenn auf den Gedanken jener kleine Ruck folgt, den es braucht, um einen Gedanken auch in die Tat umzusetzen. „Ich frag jetzt einfach mal den Martin Bretschneider“, dachte ich also, als mich vor einigen Wochen eine Mail von Andreas Arnold aus New York erreichte, man brauche für die Wuppertaler Aufführung der Suite Camus noch jemanden, der die Texte liest, ob ich vielleicht weiterhelfen könne. Also schrieb ich eine Mail mit Betreffzeile „Ich frag jetzt einfach mal“ an Martin Bretschneider, dessen absolut hinreißenden Caligula ich erst vor kurzem im Theater an der Rottstraße in Bochum gesehen hatte. Wenn die Traumbesetzung absagen würde, könnte man ja immer noch weitersuchen.
Von der Traumbesetzung hörte ich einige Tage nichts… – wofür diese sich zunächst artig entschuldigte –, dann musste noch ein Termin verlegt werden – und dann sagte sie zu, die Traumbesetzung. Dass ich Martin Bretschneider für eine Traumbesetzung halte, liegt, wie gesagt, an seinem Caligula. Wer in der Lage ist, diese Figur so zu spielen, dass man dieses mordende Monstrum am liebsten in die Arme nehmen möchte, der hat soviel verstanden, dass er auch jeden anderen Camus-Text sinnvoll vom Blatt lesen könnte, davon bin ich überzeugt. Aber es kommt noch besser.
Denn Martin Bretschneider ist nicht nur ein offenkundig großartiger junger Schauspieler (die beeindruckende Liste an TV- und Kinoproduktionen, in denen er mitwirkte, habe ich inzwischen auch entdeckt), er wurde soeben auch noch mit dem Julius Hirsch-Preis 2013 geehrt. Und der würdigt nicht etwa schauspielerische oder künstlerische Leistungen, sondern soziales Engagement. Mit dem Julius Hirsch-Preis erinnert der Deutsche Fußball Bund an die Opfer des Faschismus in Deutschland und zeichnet Personen aus, die sich in besonderer Weise gegen Rassismus und für Toleranz und Verständigung einsetzen.
Martin Bretschneider wurde für seine grenzüberschreitende Jugendtheaterarbeit mit dem Sport- und Jugendclub Hövelriege ausgezeichnet, seinem „Heimatclub“ im Kreis Paderborn. Der Club unterhält u.a. ein Gästehaus in Griechenland. Bretschneider, selbst leidenschaftlicher Fußballer, der in Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern den Hans Schäfer spielte, begleitete 2012 eine Jugendgruppe dorthin. Und dort spielten die Jugendlichen nicht etwa nur Fußball, sondern setzten sich mit einem der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte auseinander: den Massakern der Deutschen Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg in Griechenland, insbesondere mit dem von Kalavrita, wo am 13. Dezember 1943 innerhalb von drei Stunden mehr als 600 Männer des Dorfes von deutschen Soldaten erschossen wurden, und dem von Distomo, wo SS-Schergen am 10. Juni 1944 an einem Tag 218 Männer, Frauen und Kinder ermordeten. Gemeinsam mit Martin Bretschneider besuchten die Jugendlichen Gedenkstätten, begegneten Zeitzeugen und verarbeiteten ihre Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema in einem Theaterstück mit dem Titel „Du sollst nicht töten“.
Muss ich jetzt wirklich noch irgendjemandem erklären, warum das Wort von der „Traumbesetzung“ noch einmal eine ganz andere Dimension bekommen hat? Ich denke, eine passendere Besetzung, um den Texten des Fußballfans und Kämpfers für Toleranz, Freiheit und Verständigung Albert Camus Stimme zu verleihen, dürfte tatsächlich schwer zu finden sein. Natürlich war ich schon neugierig und habe Martin Bretschneider vorab einige Fragen gestellt:
Herr Bretschneider, Sie stehen derzeit im Theater an der Rottstraße als Caligula im gleichnamigen Stück von Albert Camus auf der Bühne. War das Ihre erste Begegnung mit Camus?
Martin Bretschneider: Ja.
Was schätzen Sie an Camus besonders, und was berührt Sie am meisten in seinem Werk?
Bretschneider: Die Verzweiflung über die Welt und die Menschen, die Hoffnungslosigkeit. Und der Mut, mit dem Camus sich entschließt, dagegen anzukämpfen. Ich kann das alles sehr gut nachvollziehen und suche immer wieder nach diesem Mut, dieser Kraft.
Gibt es noch eine Lieblingsrolle in den Theaterstücken von Camus, die Sie gerne einmal spielen würden?
Bretschneider: Caligula zu spielen ist eine selten großartige Möglichkeit, die Verzweiflung zu artikulieren. Irgendwann würde ich gerne „Die Pest“ dramatisieren und Rieux spielen.
Inzwischen kennen Sie die Texte der „Suite Camus”, die Sie am Donnerstag in Wuppertal lesen werden. Verraten Sie uns Ihren ersten Eindruck?
Bretschneider: Eine wunderbare Auswahl, die mich sehr berührt. Die Tiefe, die Weite und die Sehnsucht nach innerem Frieden.
Zur Person:
Martin Bretschneider, geboren 1974 in Bielefeld, studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie an der Universität Bielefeld und von 1997 bis 2001 Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Seitdem spielte er unter anderem am Staatstheater Hannover, Schauspielhaus Graz, Staatstheater Mainz, Schauspiel Essen, Theater Bielefeld und am Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Elmar Goerden. Außerdem wirkte er in diversen Film- und Fernsehproduktionen mit. In der laufenden Spielzeit gastierte Martin Bretschneider im Theater in der Josefstadt in Wien und am Schauspielhaus Graz. In Bochum ist er in diversen Produktionen am Theater Rottstraße 5 zu sehen, unter anderem in der Titelrolle des Camus-Stücks Caligula und in seinem von Presse und Publikum bejubelten Monolog Werther, sowie am Schauspielhaus Bochum als Horatio in Hamlet.
Ein kurzes Video über das Jugendprojekt anlässlich der Preisverleihung gibt es hier, und einen schönen Text hier. Im Theater an der Rottstraße 5 in Bochum steht Caligula wieder am 25. November auf dem Spielplan.
* Die Suite Camus am 14. November 2013, 20 Uhr, im Café ADA, Wiesenstr. 6, Wuppertal. Karten im Vorverkauf: 14 Euro/ 9 Euro (ermäßigt); Abendkasse: 18 Euro/ 14 Euro (ermäßigt). Vorverkauf über www.wuppertal-live.de
Dass nun auch Kalavrita und Distomo in die wachsenden Ringe eingeschlossen sind, die Sie, liebe Frau Reif, in diesem Jahr um Albert Camus gezogen haben, ist einfach überwältigend. Ein Erkenntnisblitz, den ich Ihrem geduldigen genauen Hinsehen verdanke.