Zurückgekehrt aus Lyon habe ich natürlich sogleich den verlässlichen und nahezu allwissenden Olivier Todd aus dem Regal gezogen, um meine assoziativen Camus-Spaziergänge einer Realitätsprüfung zu unterziehen. Wegen technischer Blog-Probleme konnte ich davon leider bisher noch nicht berichten, was ich nun gerne nachhole – und dabei zumindest gedanklich noch einmal in diese schöne Stadt zurückreise…
Eine Adresse, die ich in Lyon hätte aufsuchen können, wenn ich das vorher nachgelesen hätte, ist 65 Cours de la Liberté: Hier, so berichtet Olivier Todd, war die Redaktion von Paris Soir, die wie viele französische Zeitungen im besetzten Frankreich von Paris nach Lyon umgesiedelt war. Hier arbeitet Camus’ ehemaliger Chefredakteur beim Alger Républicain und Freund Pascal Pia als Redaktionssekretär, und hier hatte er seinem Freund Albert eine ebensolche Stelle besorgt, als dieser 1940 von Paris nach Lyon kommt. Camus wohnt in einem bescheidenen Hotel-Zimmer in einem ehemaliges Bordell – die Innenausstattung amüsiert ihn, besonders der mit nackten Frauen ausgemalte Salon im Erdgeschoss, weiß Todd.¹
Als Albert in Lyon eintrifft, ist gerade seine Scheidung von Simone Hié ausgesprochen worden. Die jung geschlossene Ehe mit der drogenabhängigen Arzttochter Simone hatte bekanntlich keinen glücklichen Verlauf genommen, und inzwischen hatte er Francine Faure, eine junge Mathematiklehrerin aus Oran kennengelernt. Er hatte Francine versprochen, sie nach der Scheidung von Simone sofort zu heiraten. Francine kommt Ende November nach Lyon, am 3. Dezember heiraten sie standesamtlich im Rathaus. Sie suchen eine Wohnung, aber es kommt nicht mehr zum Umzug, da Paris Soir erneut Personal entlässt, diesmal auch Camus. Im Januar 1941 gehen Albert und Francine in Marseille an Bord und kehren nach Oran zurück. Pascal Pia bleibt in Lyon und hält brieflich Kontakt mit Camus. Und er sucht für ihn nach einer neuen Stelle in Lyon und Umgebung – sogar als Forstbeamter. Aber daraus wird nichts.
In Lyon organisiert sich derweil der Widerstand. Am 1. Januar 1942 springt der Résistance-Führer Jean Moulin mit dem Fallschirm über Frankreich ab, amerikanische Agenten bauen in Algerien Netzwerke auf. Pia arbeitet bereits für die Résistance in Lyon.²
Während Camus mit Francine in Oran lebt und beide mit Unterricht den Lebensunterhalt verdienen, bringt Gallimard im Juni in Paris Der Fremde in einer Auflage von 4400 Exemplaren heraus; im Oktober des selben Jahres erscheint auch Der Mythos von Sisyphos. Camus hat Anfang 1942 einen schweren Tuberkuloserückfall. Sein Arzt und Freund Cviklinski rät ihm zu einem Aufenthalt im französischen Bergland. In Francines Schulferien reisen die beiden mit dem Schiff nach Marseille, weiter mit dem Zug nach Lyon und weiter nach St. Etienne, dann mit einem Bummelzug nach Chambon-sur-Lignon und mit einem Karren die letzten Kilometer nach Le Panelier, wo Francines Familie eine Ferienwohnung besitzt. Francine bleibt bis zum Ferienende Ende September.³
Ende November 1942 will Camus Le Panelier verlassen und nach kurzem Aufenthalt in Lyon über Marseille nach Algerien reisen. Doch am 8. November landen die Amerikaner in Marokko und Algerien. Am 10. Oktober fällt Oran in die Hände der Alliierten. Camus verpasst die letzten Schiffe und kann nicht nach Algerien zurück (4). Er bleibt in Le Panelier, fährt alle zwei Wochen drei Stunden mit dem Zug nach St. Etienne, um seine Lunge behandeln zu lassen, und zweifellos auch das ein oder andere Mal nach Lyon, wo er unter anderem den Dichter René Leynaud trifft, wovon schon im letzten Beitrag die Rede war. Leynaud, überzeugter Katholik und Widerstandskämpfer, leitet seit Anfang 1942 die regionale Sektion der Combat-Bewegung. Insgesamt 15 Monate verbringt Camus im unfreiwilligen Exil in Le Panelier und arbeitet hauptsächlich an Die Pest.
Gehörte Le Chambon mit zu dieser regionalen Sektion von Combat? Von dem kleinen Ort, wo die hugenottisch geprägte Bevölkerung tausende Juden versteckte, zur Flucht verhalf und vor der Deportation bewahrte, war hier im Blog ja schon des öfteren die Rede. Heute braucht es von Lyon aus dorthin keine Halbtagesreise, aber für dieses Mal hat mich die Stadt so in ihren Bann gezogen, dass für einen größeren Ausflug keine Zeit mehr blieb. Und das ist ja auch schön, denn so bleibt immer wieder noch etwas übrig auf der Camus-Landkarte und für weitere Reiseberichte bei 365 Tage Camus. Euch und Ihnen begegnet Camus auch ab und an auf Reisen? Erzählen Sie mir doch davon hier in den Kommentaren. Ich würde mich freuen!
In diesem Sinne: Bon voyage à tous und wie immer à bientôt!
¹Olivier Todd: Albert Camus. Ein Leben. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 278. ²a.a.O., S. 320f. ³a.a.O., S. 328. (4) a.a.O., S. 348.
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