„Der Ball kommt nie so auf einen zu, wie man es erwartet“

Albert Camus (vorne Mitte) und sein Freund Abdel Paul Pitous (links neben ihm) in der Mannschaft der École Pratique d’Industrie (E.P.I.). ©Foto: Photo collection particulière

Also gut, ich fange an, mich zu wiederholen… Aber die Fußballweltmeisterschaft wiederholt sich ja schließlich auch alle vier Jahre, und gerade denke ich gerne daran zurück, wie ich beim letzten Mal im südfranzösischen Zauberdorf weilte und nach der Heimkehr diesen Blogbeitrag schrieb. Einige Seitenhiebe darin beziehen sich auf die damaligen Zustände im Austragungsland Brasilien, aber so furchtbar anders ist es jetzt wohl auch nicht. Und da viele, die dem Blog folgen, damals noch nicht dabei waren, kommt er hier nun einfach nochmal. Den Schluss muss man sich natürlich anders denken, denn heute geht es im Endspiel für Frankreich gegen Kroatien ja schon um den Titel. Dann also: Allez les bleus!

Von Moral und Fußball oder „Alles für die Ehre!“

Im Tor: Albert Camus

 

Na sowas. Es ist ja Fußballweltmeisterschaft! In meinem südfranzösischen Zauberdorf war mir das doch tatsächlich weitestgehend entgangen. Kein Public-Viewing auf Plätzen oder in Kneipen (es gibt eh keine), kein Jubel, Stöhnen, Pfeifen aus geöffneten Fenstern. Stille herrschte wie eh und je beim Gang durch die Gassen, in denen sowieso kein Platz für Autos ist, geschweige denn für einen Korso. Nicht, dass die Franzosen so gar nicht Fußball begeistert wären. Aber zumindest in diesem kleinen verträumten Ort spielte es sich, wenn überhaupt, im Verborgenen ab.

Wieder daheim holt mich das Spektakel nun allerdings ein. Und ich bekenne auch: Ich bin  zwiegespalten. Nein, ich will kein Spielverderber sein und will niemandem die Freude vermiesen. Ich kann sogar bestens nachvollziehen, dass es Spaß macht mitzufiebern, sich mit zu freuen, mit zu jubeln, mit zu feiern. Manchmal lasse ich mich sogar gern und freiwillig anstecken, dochdoch. Aber ich kann auch nicht ganz absehen von in üblen Nationalismus umschlagenden „Nationalstolz“, nicht von der gigantischen Wirtschaftsmaschinerie Fußball-WM, die mit Sport nur noch am Rande zu tun hat, und auch nicht davon, dass für die Stadienneubauten dieser WM in einem wirtschaftlich armen Land ganze Wohnviertel dem Erdboden gleichgemacht und Proteste der (fußballverliebten!) Bevölkerung niedergeknüppelt wurden. 

Aber Camus und Fußball – das gehört ja nun schließlich auch zusammen. Vermutlich wird sowieso kein Ausspruch von Camus öfter zitiert als dieser:

„Alles, was ich über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.”¹

In diesen Tagen ist der Satz noch häufiger zu lesen als sonst. Und ganz gewiss steht er in größtmöglichem Widerspruch zu den genannten hässlichen Seiten dieses Sportereignisses.

Von diesen hässlichen Seiten wissen diejenigen noch nichts, an deren Begeisterung und Leidenschaft für das Spiel ich mich ohne wenn und aber jederzeit mitfreuen kann –nämlich all die unzähligen Kinder überall auf der Welt, die den Ball über den Bolzplatz, den Schulhof oder über den Sandboden in ihrer Favela oder in ihrem Township jagen, als ginge es um ihr Leben; all die kleinen Jungs mit großen Träumen, die nach dem Spiel oder Training verschwitzt und glücklich nach Hause gehen, weil sie eine selige Zeit lang einmal alles abschütteln konnten, was auch ein junges Dasein schon schwer machen kann. Oder die am Beispiel einer schmerzlich erlittenen Niederlage die vielleicht wichtigste Lebenslektion überhaupt lernen, die da heißt: hinfallen, aufstehen, weitermachen.

Einer dieser kleinen Jungens war Albert Camus selbst. In seinem unvollendeten autobiographischen Roman Der erste Mensch erzählt er von dieser frühen Leidenschaft, und er erzählt auch von den Prügeln, die ihm die Großmutter mit dem Ochsenziemer verpasste, wenn sie nach der Kontrolle seiner Schuhsohlen wieder einmal feststellen musste, dass sich der kleine Albert dem Bolzverbot widersetzt hatte. Und von dieser Leidenschaft erzählt Camus auch in einem Beitrag mit dem Titel Was ich dem Fußball verdanke, den er 1953 für die Verbandszeitung seiner Mannschaft Racing Universitaire d’Alger (RUA) verfasst hatte: „Ab Sonntag fieberte ich dem Donnerstag entgegen, wenn wir Training hatten, und ab Donnerstag dem Sonntag, wenn wir Spiel hatten“ (2). Was er dem Fußball verdankte? Nun, zum Beispiel die Erkenntnis, „dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet.“ Eine Lektion fürs Leben sei das gewesen, schreibt Camus, „zumal für das Leben in der Stadt, wo die Leute nicht ehrlich und geradeheraus sind“ (3). Und eben hier, in diesem kleinen Aufsatz, den er aus Zeitmangel 1957 noch einmal einreichte, als die Zeitung France Football den frischgebackenen Nobelpreisträger 1957 um einen Artikel bat, stammt auch der berühmte oben schon zitierte Satz.

Dass man diesen kurzen Aufsatz von Camus, der in deutscher Übersetzung lange nur in nicht autorisierter Form zu finden war, nun endlich wieder nachlesen (und dem berühmten Zitat eine Quellenangabe zufügen kann), ist einem wunderbaren schmalen Büchlein zu verdanken, das der Arche-Verlag unlängst herausgebracht hat. Er findet sich als Anhang in Mon cher Albert. Ein Brief an Albert Camus, den sein Kindheitsfreund Abel Paul Pitous Anfang der 1970er Jahre an den so berühmt gewordenen einstigen Gefährten verfasst hat, der zu diesem Zeitpunkt schon verstorben war. Das Büchlein verdient eine eigene Besprechung hier im Blog und soll sie gewiss auch noch bekommen. Aber heute, beim Nachsinnen über Camus, den Fußball und die Moral, kommt mir vor allem eine Szene in den Sinn, die Pitous schildert.

1929. Es geht um das dramatische Halbfinale im Fußballturnier der Schulmannschaften. Camus, zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon Torhüter bei der RUA aber für dieses Turnier nicht aufgestellt, steht für das Team der École Pratique d’Industrie (E.P.I.) im Tor, die Mannschaft seines Freundes Abel Paul Pitous. Es ist ein ungleicher Kampf. Die 16-jährigen Jungs der E.P.I. treten im Stadion von Saint-Eugène gegen die 18- bis 20jährigen Gymnasiasten des Clubs A.S.S.E. an, der zudem über zwei starke ausländische Spieler verfügt.  Alles spricht gegen sie, aber die Mannschaft der E.P.I. setzt auf Angriff. Schon nach zehn Minuten gelingt ihnen das erste Tor. Donnernder Applaus im Stadion!

Vom Erfolg angestachelt rennen sie die Älteren über den Haufen, fegen die fassungslosen Gymnasiasten vom Platz, die zudem einige Strafstöße wegen Regelverletzung kassieren. Einer dieser Strafstöße leitet die dramatische Wendung des Spiels ein: Dem Schützen der E.P.I. gelingt ein phantastischer Kopfschuss, der den Ball präzise ins gegnerische Tor katapultiert. Das Stadion dröhnt von Geschrei und Bravorufen. Aber dann: ungläubige Stille. Der Schiedsrichter (ein ehemaliger Schüler des Lycée und Star des RUA) erkennt das Tor nicht an und verhängt einen Freistoß gegen die E.P.I. Grenzenlose Empörung! Die Mannschaft folgt geschlossen dem Beispiel von Spielführer Abel Paul Pitous und boykottiert das Spiel. Ein Spieler der Gymnasiastenmannschaft läuft unter den verächtlichen Blicken der betrogenen Gegner mit dem Ball am Fuß auf das Tor zu, und „…der Torwart – Albert Camus – läuft ihm entgegen . . .,  um ihn abzuwehren? Ach was! . . . Er bleibt an der Elfmetermarke stehen . . ., zieht seine Ballonmütze . . ., grüßt den Angreifer beim Vorbeilaufen, lädt ihn mit einer großzügigen Geste ein weiterzumachen und weist ihm mit der Hand den Weg zum Tor, mit einer gewissen Herablassung allerdings – Bitte sehr, treten Sie ein!  Was für eine phantastische Pantomime! Das Publikum jubelte, nicht über das gestohlene Tor, sondern über die Reaktion auf den Betrug. Ach!, unvergesslich, wie Du statt eines Hutes die Mütze zogst und dann diese großartige Verbeugung, bei der Kopf und Schultern dem Blick folgten, der den Ball ins leere Tor rollen sah… Alles für die Ehre!“ (4).

Vielleicht kann man selbst vom 16jährigen Camus doch noch mehr über Moral lernen als vom Fußball selbst. Heute Abend spielen Frankreich gegen Nigeria und Algerien gegen Deutschland. Camus säße vor dem Bildschirm, soviel ist klar.

 

Abel Paul Pitous, Mon cher Albert. Ein Brief an Albert Camus. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Arche Verlag, Zürich 2014.

(1) Albert Camus, Was ich dem Fußball verdanke. Deutsch von Marie Luise Knott, in: Abel Paul Pitous, a.a.O., S. 84. (2) a.a.O., S. 82, (3) a.a.O., S. 81, (4), a.a.O., S. 69.
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2 Antworten zu „Der Ball kommt nie so auf einen zu, wie man es erwartet“

  1. Günter Sydow sagt:

    Liebe Frau Reif,
    herzlichen Dank für diese Zeilen. Auch ich finde diesen kleinen Band wunderbar, abseits der wissenschaftlichen Abhandlungen und Monographien ein erfrischender und liebevoller (Rück)- Blick eines Freundes, der uns Leser teilhaben lässt an unbeschwerter Jugend, obwohl die Umstände nicht immer leicht waren.
    Unsere Camus-Gesellschaft hier in Aachen hat ja im Jahr 2014 als erste größere öffentliche Veranstaltung „Camus in der City“ präsentiert: an zehn Lese – Orten in der Stadt haben wir zwei Stunden lang Camus-Texte vorgelesen. Meine Beiträge stammten alle aus Pitous‘ kleinem Band – und die Torwart-Szene war natürlich auch dabei. Mit Ihrem Blog-Eintrag haben Sie die Erinnerung wieder wach gemacht. Danke!!
    Herzliche Grüße aus Aachen
    Günter Sydow

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Sydow, herzlichen Dank, das freut mich sehr. Die Lesetour damals habe ich leider nicht miterlebt. Vielleicht eine Idee, das im nächsten Jahr noch einmal zu wiederholen? Nach fünf Jahren könnte man das doch gut noch einmal auflegen. Und dann wär‘ ich gerne dabei! Herzliche Grüße, Anne-Kathrin Reif

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