Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch (13) – Von seltsamen Jubiläen und verlässlicher Ungewissheit

„Vor genau einem Jahr wurde zum ersten Mal vom Auftreten eines neuen Virus in der chinesischen Stadt Wuhan berichtet“. „Vor genau einem Jahr gab es den ersten Corona-Fall in Deutschland“. Seltsame Jubiläen werden seit kurzem, naja, nicht gerade gefeiert, aber doch hervorgehoben. Weitere werden folgen. Das erste „Superspreader-Event“ in Deutschland, der erste Lockdown, die ersten Lockerungen, das Ende des ersten Lockdowns, usw. Im März kann ich dann „vor einem Jahr gab’s die erste Folge des Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuchs“ feiern und schauen, wo wir dann stehen. Mit etwas Glück stehen wir, zahlenmäßig, dann ungefähr an der gleichen Stelle wie vor einem Jahr, und während uns vor einem Jahr diese Zahlen noch in Angst und Schrecken versetzt und zu Hamsterkäufen im Supermarkt geführt haben, werden wir sie jetzt als hoffnungsfrohen Fortschritt feiern, und die Menschen werden noch lauter nach dem Ende aller Einschränkungen rufen. Während wir zu Anfang noch mit fassungslosem Entsetzen auf 1000 Tote am Tag in New York geschaut haben, nehmen wir sie jetzt bei uns seit Wochen hin, als sei das naturgegeben.


Und wirklich brannten im Krematorium die Freudenfeuer der Pest immer munterer. Zwar nahm die Zahl der Toten nicht von einem Tag auf den anderen zu. Aber es war so, als habe die Pest sich auf ihrem Höhepunkt gemütlich eingerichtet und verrichte nun ihre täglichen Morde mit der Präzision und Regelmäßigkeit eines guten Beamten. Im Grunde und nach Ansicht der Sachverständigen war das ein gutes Zeichen. Die Kurve der Pest mit ihrem stetigen Anstieg und dem darauf folgenden langen waagerechten Verlauf erschien Doktor Rieux zum Beispiel überaus tröstlich. «Das ist eine gute, eine ausgezeichnete Kurve», sagte er. Er war der Meinung, die Krankheit habe ein Plateau erreicht, wie er es nannte. Von nun an könne sie nur noch zurückgehen. Das Verdienst hierfür schrieb er Castels neuem Impfstoff zu, der tatsächlich einige unverhoffte Erfolge erreicht hatte. Der alte Castel widersprach nicht, war aber eigentlich der Meinung, man können nichts voraussagen, da die Geschichte der Epidemien unerwartete Rückschläge verzeichnet.“ *


Ein solcher unerwarteter Rückschlag ist für uns ganz zweifellos das Auftreten und die rasche Verbreitung der anscheinend deutlich ansteckenderen Virus-Mutationen. Und wiedermal fühle ich mich ein wenig so, als sei ich unversehens in Camus‘ Roman geraten so wie Bastian Balthasar Bux in Die unendliche Geschichte geraten ist. Die schleichende, lähmende Gewöhnung, das Sich-Einrichten-im-Unglück, das Aufflammen von gewaltsamem Protest bis hin zu Brandstiftung und Plünderungen, die Hoffnung auf ein „Serum“, die Erschöpfung der Pflegekräfte… Alles, was wir gerade erleben, beschreibt Camus in der Pest. Aber halt! Immerhin sind doch ein paar Dinge anders: Unsere Städte sind nicht abgeriegelt wie die algerische Hafenstadt Oran im Roman, Liebende mithin nicht unüberwindbar getrennt (sofern sich nicht einer auf der Isolierstation befindet), und Infizierte können unbeaufsichtigt und mit unbegrenztem medialen Unterhaltungsangebot und Kommunikationsmöglichkeiten in Echtzeit zuhause bleiben, anstatt in eigens eingerichteten Quarantänehotels oder gar im zum Zeltlager umfunktionierten Stadion zwangsisoliert zu werden. Grund genug, um festzustellen, dass es uns trotz allem noch ganz gut geht – auch das kann ja gerade ein Ergebnis der Pest-Lektüre sein. Und nicht das Schlechteste.

*Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1997, S.267.

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In all den Jahren, in denen es jetzt schon diesen Blog gibt, kündige ich hier üblicher Weise immer die laufenden Camus-Theatervorstellungen an – wovon derzeit zwangsläufig keine Rede sein kann. Auch der Boom der Live-Lesungen von Camus‘ Roman Die Pest im Netz und Radio ist inzwischen abgeebbt – jetzt gibt es aber mal wieder eine anzuzeigen: Am Donnerstag, 4. Februar, liest Achim Lenz, Intendant der Gandersheimer Domfestspieleum 18.30 Uhr in der Ausstellung „Hausarrest“ der KWS Art Lounge in Einbeck aus Camus‘ Roman. Das in der Art Lounge gezeigte fotografische Tagebuch von Festspielfotografin Julia Lormis enthält ebenfalls Auszüge daraus. Die Live-Lesung wird über den Youtube-Kanal „Art at KWS“ erreichbar sein. Mehr zur Lesung hier.

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Hier zur vorhergehenden Folge: Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch (12) – Eine Kerze für Sisyphos an Allerheiligen und eine Öljacke zum Geburtstag
Hier zur ersten Folge des Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch (1)

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3 Antworten zu Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch (13) – Von seltsamen Jubiläen und verlässlicher Ungewissheit

  1. Knut Thielsen sagt:

    Erschütternd aktuell – und wieder einmal DANKE für Ihre ebenso weisen wie hilfreichen Gedanken, liebe Anne-Kathrin! Ich lese und goutiere hier mehr, als ich kommentiere, aber heute muss es mal wieder sein. Ihnen „bon courage!“ in allem Tun und Sein. Herzliche Grüße aus Bayern –

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Ach, wie nett! Ich freue mich sehr über diesen Kommentar und danke Ihnen herzlich! Mit lieben Grüßen aus dem Bergischen nach Bayer, Anne-Kathrin

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