Mehr oder weniger lange Pausen hat es hier im Blog ja hin und wieder schon mal gegeben. Aber noch nie ist es mir so schwer gefallen wie dieses Mal, wieder einen Anfang zu finden. Und plötzlich steht Weihnachten vor der Tür.
Der letzte Blog-Beitrag, an dem ich schrieb, ist am 13. November in die Luft gesprengt worden.
Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagabend, an dem ich, wie häufig nach einer langen Arbeitswoche, nichts anderes wollte als gemütlich auf dem Sofa zu sitzen und einen Freitagabendkrimi im Fernsehen anzuschauen, als die ersten „breaking news“-Textstreifen über die Terror-Anschläge in Paris durchs Bild liefen. Starr vor Entsetzen verfolgte ich die halbe Nacht die Nachrichten, hoffte, dass keiner der Pariser Freunde gerade an diesem Abend in einem der Lokale saß, in denen wir jetzt ebensogut hätten zusammen sitzen können, dass keines der Freundeskinder ausgerechnet an diesem Abend zum Konzert ins Bataclan gegangen war… verbunden mit dem Gefühl, dass die Entwarnung diesbezüglich zwar mich erleichtern, die Sache selbst aber keinen Deut besser machen würde. Heulend saß ich die halbe Nacht vor dem Fernseher, geflutet von Trauer, Mitgefühl, Entsetzen, Zorn und Ohnmacht.
Meinen Beitrag über einen erfreulichen Theaterbesuch weiterschreiben? Unmöglich. Schnell nach einem klugen Camus-Zitat suchen (da gibt’s doch bestimmt was zu Bomben und Terror, da kannte er sich doch aus…) – zynisch. Es hat mir buchstäblich die Sprache verschlagen.
Seitdem hat die Welt sich weitergedreht. Sie ist dabei nicht besser geworden.
Und plötzlich steht Weihnachten vor der Tür. „Ich wünsche uns ein Weihnachtswunder“ schrieb ich aus diesem Anlass im vergangenen Jahr, ich könnte das alles heute wieder genauso schreiben. Beinahe. Nur, dass ich es heute noch schwieriger finde, „mal wieder“ die Liebe zu predigen. Und noch notwendiger. Und dass ich es noch schwieriger finde, den absurden Zwiespalt zu überbrücken zwischen der Welt „da draußen“ und der berechtigten Sehnsucht nach friedvoller, froher, kindlicher Lichterglanzplätzchenduftweihnachtsstimmung. Ich verteidige sie mit einem trotzigen „dennoch“. Ich werde heute noch Plätzchen backen, und dabei werde ich eine Flasche Champagner köpfen und all jenen zuprosten, die schon am Tag nach den Anschlägen in Paris wieder ganz bewusst auf die Straße gingen und in den Cafés saßen. Jetzt erst recht. Die trotzige Haltung von Charlie Hebdo: „Sie haben die Waffen, wir den Champagner“.
Champagner trinken gegen den Terror? Sie finden, das sei aber wohlfeil? Billig zu habender Protest und Selbstbeschwichtigung gegen die Ohnmacht des Ausgeliefertseins? Kann man so sehen. Wie fast alles ist es eine Frage des Bewusstseins. Ich finde: In diesem Trotz steckt eine Menge Kraft. Es ist eine Form des Widerstands und die vielleicht friedlichste Form der Revolte. Es ist dieser Trotz, dieses ganz bewusste „dennoch“, das den Funken der Empörung zu schlagen vermag, der uns unter der Last der Ereignisse oder in den Mühlen der Alltäglichkeit immer wieder abhanden kommt.
Ja, wir brauchen die Liebe mehr denn je. Aber wir brauchen auch diese Empörung, die Funken schlägt und den Impuls zur Revolte entzündet. Nicht jene, die reflexhaft „zu den Waffen!“ ruft. Sondern jene, die uns dagegen aufstehen lässt. Wir brauchen eine Revolte, die dagegen protestiert, dass uns durch Terror, Krieg und Fremdenhass die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen entzogen werden, und die nicht trennt sondern vereint. Mit Camus: „Je me révolte, donc nous sommes“. Ich revoltiere, also sind wir. Diese Revolte manifestiert sich in Sonntagspredigten ebenso wenig wie in Kriegsrethorik. Sie manifestiert sich in jedem einzelnen Akt der Alltäglichkeit, den wir in ihrem Bewusstsein vollziehen.
Das ist mitunter anstrengend. Ein Steinerollen. Es kann aber auch lustvoll sein. Mit Musik und Champagner. Und Weihnachtsplätzchen! Ich back’ heute noch welche. Dazu werde ich Weihnachtslieder hören. Da wird dann wieder viel von Liebe gesungen. Die brauchen wir. Und die Empörung. Wir brauchen Wut und Zärtlichkeit. Zwischen den Weihnachtsliederscheiben leg’ ich deshalb mal wieder die ein oder andere von meinem Seelenfreund Konstantin Wecker ein. Kopfhörer auf, damit die Nachbarn nicht durch die Decke fallen, und dann laut aufdrehen und mitgröhlen:
Empört euch, beschwert euch, und wehrt euch, es ist nie zu spät
Empört euch, gehört euch, und liebt euch, und widersteht.
Für mich sind diese Zeilen in diesem Jahr die passende Weihnachtsbotschaft. In diesem Sinne wünsche ich allen Blog-Leserinnen, Camus-Freunden und überhaupt allen Menschen schon heute Frohe Weihnachten, Joyeux Noël, Chanukka Sameach und Salam Aleikum. Und ich verabschiede mich bis zum nächsten Jahr, auf neue 365 Tage Camus. In diesem Sinne: à bientôt!
„Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch kein Revolutionär ist, hat keinen Verstand.“ (Theodor Fontane)
Liebe Elektra Karaindrou, vielen Dank für Ihren Beitrag – meines Erachtens lautet das Fontane-Zitat allerdings: „Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand.“ Die genaue Quelle kann ich allerdings auch gerade nicht angeben. Je nach Einstellung ergibt es natürlich auch in Ihrer Variante Sinn, aber die ist sicher nicht von Fontane. Mit herzlichem Gruß, Anne-Kathrin Reif
Liebe Anne-Kathrin Reif,
vielen Dank für den Hinweis. Ich habe das Zitat bisher immer nur in „meiner“ Version gelesen ( siehe auch die Zitatensammlungen im Internet). Leider habe ich nirgends einen Quellenhinweis gefunden.
Bitte teilen Sie mir die genaue Quelle, die Sie „gerade nicht angeben“ konnten mit! Vielen Dank! Es ist ja für das Verständnis Fontanes von Bedeutung, ob er sich von seiner revolutionöre Begeisterung in seinen reiferen Jahren distanziert oder sie rational gerechtfertigt hat.
Liebe Grüße!
Elektra Karaindrou
Liebe Elektra Karindrou, das tut mir Leid, aber ich werde derzeit nicht dazu kommen, nach der Quelle zu suchen. Im Internet findet sich das Zitat übrigens weitaus häufiger in der von mir genannten Version, leider stets ohne Quellenangabe. Vielleicht gibt es ja Kenner*innen unter den Blogleserinnen und -lesern hier? Dann bitten wir die jetzt doch einmal herzlich, sich zu melden! Viele Grüße, Anne-Kathrin Reif
Danke für diese wertvollen Worte, diesen Aufruf in Zeiten, die einen nur allzu oft wütend, verzagt und sprachlos machen. Ja, darauf einen Champagner! Ich habe gerade keinen da, stoße dafür spontan mit einem Glas Madeira-Wein an, liebe Anne!
Ich wünsche Dir und Deinen Lieben schöne und friedvolle Weihnachtstage! Meike
liebe Frau reif,
erhalte immer ihre hübsche „Camus e-mail“ + freue mich darüber obwohl ich eher anglo
phil beheimatet bin. trotzdem gehört Camus mit in den reigen der Schriftsteller die mir
am herzen liegen + ab + zu für Zitate hervor geholt werden.
was mich allerdings, mit Verlaub, an ihren e-mails etwas stört, ist der umstand, dass sie
zu sehr auf Camus + vielleicht Herrn wacker konzentriert sind + den Lesern ihrer e-mails, zwar gute hinweise geben, wenn sie nicht gerade eine falsche Champus aufge-
macht haben + weihnachts Plätzchen backen, um die Wut, Trauer + Verzweiflung über
den zustand dieser Welt zu…. beseitigen.
dies soll keine Kritik sein, jeder so wie er mag, noch dazu, wenn man wie Stephan hessel
+ herr wacker ausrufen + singen kann „empört euch“ + das aus tiefsten herzen (unter-
stelle ich mal). glauben sie wirklich, dass die sgn. terror akte von sgn. terroristen aus-
geführt wurden, die nun wirklich nicht zur isis oder einer von der kapital elite terror
Einheit unterstützt werden?? wir leben seit vielen Jahren im 3. Weltkrieg der nun mal
ganz anders abläuft als der letzte. die meisten menschen erkennen nicht wie wir alle
manipuliert werden nach dem alten Motto „teile + regiere“ herr Rothschild lässt
grüssen. Heinrich Heine sagte vor einigen Jahrhunderten in Frankreich im Exil :
„Geld ist der Gott dieser Welt + herr Rothschild hat die Tempel“
ich bin weder anti semit (dazu habe ich zuviele jüdische freunde) noch bin ich rassist aber ich bin erklärter anti zionist. genug der schlauen worte.
was ich ihnen eigentlich mitteilen wollte, es gibt andere Wege um aus diesem Chaos her
aus zu kommen + unsere Gesellschaft auf eine höhere stufe dass Bewusstseins zu bringen oder aus der Narkose zu erwecken in die wir befördert worden sind + immer
befördert werden. aufwachen – aufwachen nur mit LIEBE, VERSTÄNDNIS + FÜRSORGE FÜR UNSERE MITMISCHEN. wir brauchen nicht unbedingt auf die Strasse gehen uns mit gas, Wasser oder verprügeln zu lassen, es geht auch ganz anders
so wie es gahndi gemacht hat.
wünsche ihnen frohe weihnachten + einen guten rutsch in ein hoffentlich besseres
jahr für uns alle, mögen wir endlich, endlich zur sprichwörtlichen Besinnung kommen.
bitte seien sie mir nicht böse für diese lange e-mail mag. t. barnickel
Lieber Herr Barnickel, ich bin nie böse über lange Kommentare, jeder wie er mag. Dass meine Beiträge, wie Sie finden „etwas zu sehr auf Camus konzentriert“ sind, ist dem Umstand geschuldet, dass es sich hier um einen Camus-Blog handelt. Der „Herr Wacker“ heißt übrigens Wecker und kommt in den bislang 299 Beiträgen in diesem Blog etwa fünf Mal vor. Ich will aber nicht ausschließen, dass er auch weiterhin vorkommen wird, denn die Schnittmenge zu Camus ist ziemlich groß. Ich persönlich zucke immer ein bisschen zusammen, wenn jemand ausdrücklich „ich bin kein Rassist“ (wahlweise: Antisemit, Nazi etc.) betont, bevor er dann mit einem „aber“ weiterspricht. Bitte, seien wir stets auf der Hut und lösen dieses Bekenntnis dann auch in unseren Taten ein. – Für Ihre guten Wünsche bedanke ich mich. Mit herzlichem Gruß, Anne-Kathrin Reif
Liebe Anne-Kathrin Reif,
es ist eine große Erleichterung, zu wissen, daß Sie weitermachen mit Ihrem blog und somit die Kommunikation zu unserem Freund fortführen werden.
Frohe Weihnachten,
Michael Kuhlencordt