Seit dem Jahr 2009 wird der 8. Juni von den Vereinten Nationen als Welttag der Ozeane begangen. Da hole ich heute doch gern nochmal den wunderschönen Text Das Meer, eine Gottheit aus den späten Carnets von Albert Camus hervor. Er erinnert uns an die Wunder der Natur, die es zu schützen gilt – aber auch daran, dass die Welt als Natur sehr gut ohne den Menschen auskommen kann – aber nicht umgekehrt. Was also könnte besser zu diesem Tag passen?
Das Meer, eine Gottheit
Auf der Ur-Erde regnete es jahrhundertelang ununterbrochen.
Das Leben ist im Meer entstanden, und während der ganzen unvordenklichen Zeiten, die von der ersten Zelle zum organisierten Lebewesen im Meer führten, war der Kontinent jeglichen tierischen und oder pflanzlichen Lebens bar, ein steinernes Land, nur vom Rauschen des Regens und des Winds erfüllt, in einem gewaltigen Schweigen, in dem nichts sich regte außer dem raschen Schatten der großen Wolken und dem Lauf der Gewässer zu den Becken der Ozeane.
Nach Milliarden Jahren kam das erste Lebewesen aus dem Meer und faßte auf dem Festland Fuß. Es glich einem Skorpion. Das war vor dreihundertundfünfzig Millionen Jahren.
Die fliegenden Fische machen ihr Nest in den Abgründen, um ihre Eier zu schützen. Im Sargassomeer zwei Millionen Tonnen Algen.
Die große rote Meduse, die anfänglich nicht größer ist als ein Würfel, wird im Frühjahr so breit wie ein Regenschirm. Sie bewegt sich mit Pulsionen fort und läßt lange Fangfäden schwimmen, während sie unter ihrem Schirm Gruppen junger Schellfische beherbergt, die sich mit ihr fortbewegen.
Der Fisch, der über die Zone seines Habitats aufsteigt, birst, sobald er eine unsichtbare Grenze überquert, und fällt auf die Oberfläche.
Die in den Tiefen lebenden Kalmare scheiden nicht wie die oberflächennahen eine Tinte aus, sondern eine Lichtwolke. Sie verbergen sich im Licht.
Das Festland ist letzten Endes nur eine sehr dünne Platte auf dem Meer. Eines Tages wird der Ozean herrschen. (…)
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Albert Camus, Tagebücher 1951-1958. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 346f.
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