So, jetzt aber mal was ganz anderes. Schon öfter fragte ich mich, ob und wo Camus wohl in der Kunst seine Spuren hinterlassen habe. In einer Besprechung der gerade in der Frankfurter Schirn Kunsthalle stattfindenden Ausstellung von Yoko Ono stieß ich auf ihre Installation „We are all water“, eine Art Ahnengalerie, für die sie Medizinflaschen mit Wasser gefüllt und mit Namen versehen hat: darunter neben Maria Callas, Beuys und Warhol auch Albert Camus. Das war’s dann aber auch schon mit Camus und der Kunst. Dachte ich. Um dann, unversehens, quasi gleich nebenan (also von mir aus gesehen) ein weiteres und dann auch noch ganz wunderbares Camus-Kunstwerk zu finden. Der Remscheider Künstler Klaus Küster stellt gerade im dortigen Deutschen Werkzeugmuseum aus, wo eben nicht nur Werkzeuge vom Faustkeil bis zur Dampfmaschine zu betrachten sind, sondern zuweilen auch feine kleine Kunst-ausstellungen. Und wie das so ist, wenn man einfach mal miteinander redet: Man erfährt die tollsten Dinge.
Zum Beispiel, dass Klaus Küster in seinem riesengroßen Werk-Fundus gut verpackt eine Arbeit hütet, die von Camus inspiriert und ihm gewidmet ist. Dass er sich nicht überreden ließ, sie für mich auszupacken, verstand ich, nachdem ich erfuhr, worum es sich handelt: nämlich um eine mehrere Meter lange Bodeninstallation, die aus unzähligen Einzelteilen besteht. Der Titel: Transformator II (Über’s Meer). Auf schmalen, 6 Zentimeter breiten Schieferplatten hat der Künstler Muschelfragmente von der belgischen Küste ausgelegt. Die in der Fibonacci-Reihe (1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw.) positionierten Stücke sind blattvergoldet. Darunter hat er mit Kreideschrift einen Text gezeichnet, der aus dem Tagebuch von Camus stammt und der mit Das Meer, eine Gottheit überschrieben ist.
Entstanden ist Klaus Küsters Arbeit 1991 während eines Symposions im Keller des „Kunstraums Wasserwerk Witten“ (Foto oben, mit dem Ende der Reihe); gezeigt wurde sie außerdem 1994 in Berlin, Städtische Galerie Pankow, 1996 im „Kunstwirkraum Gerhard Reinert“, Recklinghausen und 2006 in der Städtischen Galerie Remscheid (Foto links).
Den Text schrieb Camus im Dezember 1959 in sein Tagebuch. Es ist einer der letzten Texte überhaupt, wenige Seiten bevor das Tagebuch – und das Leben – von Camus abbrechen. Ich habe diesen Text immer geliebt: Er spiegelt so sehr Camus’ Sinn für das Wunderbare des Lebens in all seinen Erscheinungs-formen und zeigt, dass er auch nach Phasen voller Zweifel und tiefer Niedergeschlagenheit nie das Staunen verlernt hat.
Das Meer, eine Gottheit.
Auf der Ur-Erde regnete es jahrhundertelang ununterbrochen.
Das Leben ist im Meer entstanden, und während der ganzen unvordenklichen Zeiten, die von der ersten Zelle zum organisierten Lebewesen im Meer führten, war der Kontinent jeglichen tierischen und oder pflanzlichen Lebens bar, ein steinernes Land, nur vom Rauschen des Regens und des Winds erfüllt, in einem gewaltigen Schweigen, in dem nichts sich regte außer dem raschen Schatten der großen Wolken und dem Lauf der Gewässer zu den Becken der Ozeane.
Nach Milliarden Jahren kam das erste Lebewesen aus dem Meer und faßte auf dem Festland Fuß. Es glich einem Skorpion. Das war vor dreihundertundfünfzig Millionen Jahren.
Die fliegenden Fische machen ihr Nest in den Abgründen, um ihre Eier zu schützen. Im Sargassomeer zwei Millionen Tonnen Algen.
Die große rote Meduse, die anfänglich nicht größer ist als ein Würfel, wird im Frühjahr so breit wie ein Regenschirm. Sie bewegt sich mit Pulsionen fort und läßt lange Fangfäden schwimmen, während sie unter ihrem Schirm Gruppen junger Schellfische beherbergt, die sich mit ihr fortbewegen.
Der Fisch, der über die Zone seines Habitats aufsteigt, birst, sobald er eine unsichtbare Grenze überquert, und fällt auf die Oberfläche.
Die in den Tiefen lebenden Kalmare scheiden nicht wie die oberflächennahen eine Tinte aus, sondern eine Lichtwolke. Sie verbergen sich im Licht.
Das Festland ist letzten Endes nur eine sehr dünne Platte auf dem Meer. Eines Tages wird der Ozean herrschen.
Es gibt Wogen, die uns vom Kap Horn ausgehend nach einer Reise von zehntausend Kilometern erreichen. Die Sturmflut von 358 erhob sich im östlichen Mittelmeer, überflutete die Inseln und die niedrigen Küsten und hinterließ Schiffe hoch oben auf den Festungen von Alexandria.
Albert Camus, Tagebücher 1951-1958. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 346f.
Der Künstler Klaus Küster wurde 1941 in Remscheid geboren. Nach einer Ausbildung zum Fernmeldetechniker studierte er an der Ecole des Beaux Arts, Paris, und der Werkkunstschule Wuppertal. Seit 1969 arbeitet er als freier Künstler, Fotograf und Graphiker. Von 1998 bis 2007 leitete er die Galerie der Stadt Remscheid. Ein umfangreicher Werkkatalog von Klaus Küster erschien im Dezember 2012. Aktuell sind Arbeiten von ihm in einer Ausstellung im Deutschen Werkzeugmuseum in Remscheid zu sehen. Das Foto links zeigt den Künstler dort vor seiner Installation Die Säulen des Herakles II, die auch ganz wunderschön zum Thema „Meer” (und irgendwie auch zu Camus) passt. Das Meer auf diesen Fotografien ist in Wirklichkeit die abblätternde blaue Farbe auf der Mauer einer Thunfischfabrik auf Sizilien, und bei den zugehörigen Legenden, die auf die mit Gold überzogenen magischen Orte in diesen imaginären Kartographien verweisen, handelt es sich in Wirklichkeit um Fotografien der Rückwände von Parkbänken, in die Liebende ihre Botschaften geritzt haben. Aber was heißt schon Wirklichkeit, wenn es um die Kunst, die Liebe, die Schönheit, die Phantasie und das Staunen geht…
Ich war ebenso erstaunt, dass Klaus Küster diese Arbeit noch besitzt. Als wir im Werkzeugmuseum darüber sprachen, weckte es bei mir Erinnerungen an die Zeit, als Sartre und Camus noch intensiv gelesen und diskutiert wurden. Momentan versuche ich herauszufinden ob noch andere Künstler, die ich kenne, Arbeiten über Camus geschaffen oder seine Texte mit einbezogen haben.
Lieber Zbigniew Pluszynski, wenn Sie etwas finden: Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir Bescheid sagen würden. Vielleicht können wir die Rubrik „Camus und die Kunst“ noch etwas füllen!