Den Menschen so fern – und Camus ganz nah

loin des hommes

In einer Szene ganz am Anfang steht der Lehrer Daru vor seiner Klasse von algerischen Grundschulkindern und zeichnet die großen Flüsse Frankreichs an die Tafel: La Loire, le Rhîn, le Rhône… Unterrichtet wird 1954 im französischen Algerien selbstverständlich nach französischen Lehrplänen. Der Kamerablick aus der Vogelperspektive auf die Zwergschule, die von schroffen Felsen eingekeilt einsam in einem abgelegenen Tal des Atlasgebirges liegt, offenbart schon die ganze Absurdität der geschichtlichen Situation. Frankreich muss für diese Kinder so fremd und fern erscheinen wie der Mond.  – In der Schluss-Szene des Films steht Daru wieder (und zum letzten Mal) vor seinen Schülern. Er zeichnet die Silhouette einer Gebirgskette an die Tafel. „Wir wohnen im Atlas-Gebirges“, schreibt er mit Kreide darunter – erst auf arabisch, dann auf französisch. Zwischen den beiden Szenen liegen für Daru zwei Nächte und zwei Tagesmärsche, eine kurze Spanne Zeit, in der sich doch seine ganze Welt gedreht hat und nichts mehr ist, wie es war.

Nur ein Beispiel dafür, wie klug dieser Film mit kleinen Details umgeht; wie es ihm gelingt, das Große der Zeitgeschichte im Kleinen zu verorten und anschaulich zu machen, und das alles ohne Erklärungen und große Worte. Die Rede ist natürlich von David Oelhoffens Film Loin des Hommes, der seit Anfang Juli unter dem deutschen Titel Den Menschen so fern auch in den hiesigen Kinos läuft. Verpassen Sie ihn nicht. Mich hat dieser Film beim ersten Anschauen so komplett umgehauen, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe. Und auch beim zweiten Mal nach einigen Wochen habe ich noch diesen Sog verspürt, der einen so vollständig in diese Geschichte und in die inneren Konflikte seiner beiden Helden hineinzieht, dass man es bis auf die Haut, in den Hals und in den Magen hinein verspürt.

Das liegt natürlich vor allem an den beiden grandiosen Darstellern Viggo Mortensen (Daru) und Reda Kateb (Mohammed), es liegt an den überwältigenden Landschaftsbildern, der atmosphärischen Musik von Nick Cave und Warren Ellis, der Genauigkeit der Ausstattung, einfach an allen Details, mit denen diese Geschichte, in der übrigens nicht sonderlich viel gesprochen wird, erzählt wird; vor allem aber liegt es an der Vielschichtigkeit der Geschichte selbst. Im Grunde ist Camus’ Erzählung Der Gast aus der Novellensammlung Das Exil und das Reich nur der Kern dieser filmischen Erzählung, die sehr frei mit der Vorlage umgeht und die Geschichte in der konkreten Situation des algerischen Unabhängigkeitskrieges ansiedelt. Mohammed, der bei Camus nur ein namenloser Araber ist, der einen nicht näher erklärten Mord begangen hat und nun von dem Lehrer Daru in die einen Tagesmarsch entfernte Kreisstadt verbracht und den Behörden übergeben werden soll, bekommt eine ganz eigene Geschichte; und der lange, bei Camus schweigende und ereignislose Marsch durchs Gebirge wird zu einem abenteuerlichen Trip, auf dem die beiden ungleichen Protagonisten in die Hand von Rebellen fallen und ständig um ihr Leben fürchten müssen – nicht ganz zu Unrecht haben sich die Feuilletons darauf eingeschossen, den Film als „algerischen Western“ zu bezeichnen (und zu loben). Das alles kommt bei Camus nicht vor – und dennoch hat David Oelhoffen einen Camus-Film durch und durch gemacht.

Das nachzuvollziehen und aufzudröseln wäre einen ganzen Aufsatz wert. Aber vielleicht braucht es das auch gar nicht, vielleicht reicht es, sich einfach hineinziehen zu lassen in diese Geschichte und mitzuspüren: Wie unerbittlich der Wind von den Bergen hinabbläst (wie in Camus’ Essay Der Wind in Djemila), wie die beiden Männer, ohne es zu wollen, ohne Entrinnen in ihre Zeitläufe verstrickt sind, wie es sich anfühlt, seine Heimat zu verlieren. Wie sich auf dem langen, wortkargen Marsch zwischen den beiden ungleichen Männern verschiedener Herkunft und verschiedener Religion eine Komplizenschaft, vielleicht sogar Freundschaft entwickelt, was menschliche Brüderlichkeit bedeutet und was ihr Verrat umwillen einer Ideologie, wieviel ein Moment der Zärtlichkeit wiegt (und sei es im Bordell). Mitzuspüren Mohammeds Gefangensein in den Konventionen seiner Herkunft, die einzig das Todesurteil gegen ihn als Ausweg erscheinen lassen, mitzuspüren Darus Wut, Ohnmacht und Trauer, als er wider Willen selbst zum Mörder geworden ist, mitzuspüren seine Einsamkeit, seine Unbestechlichkeit und sein Beharren auf der reinen Menschlichkeit, mitzuspüren den im Blut ertrinkenden Willen zur Freiheit, mitzuspüren den Riss, der durch die gemeinsame Geschichte dieser beiden Länder und Völker geht und wo es so ohne Weiteres keine richtige und keine falsche Seite gibt, auf der man stehen könnte. Mitzuspüren die brennende Sonne, den Wolkenbruch, die Kälte der Nacht, und wie die Natur den Menschen verneint. Und immer wieder diese grandiosen Bilder von der übermächtigen, schroffen Landschaft, in der die Menschen nurmehr als winzige wandernde Punkte wahrnehmbar sind. Wie erhaben die Welt ist in ihrem Schweigen, wie gleichgültig gegen die Menschen mit ihren Kämpfen und ihrer Not: Loin des hommes, den Menschen so fern. Diesen Film muss man ganz ohne Frage auf der großen Leinwand sehen. Es ist ein grandioser, Camus sehr naher Film. Als Mohammed gegen Ende der Geschichte an der Weggabelung steht, an der er sich zwischen dem Weg in die Stadt und dem in die Wüste entscheiden muss, entscheidet er sich für  die Wüste. Es ist eine Entscheidung für das Leben, für die Freiheit. Anders als in Camus‘ Erzählung – und trotzdem ganz in seinem Sinne.

P.S. Vor mir an der Kinokasse: zwei Paare zögern, wollen umkehren, weil der Film nicht synchronisiert sondern nur untertitelt ist. Lassen Sie sich nicht davon abschrecken. Es wird eh nicht viel gesprochen, und was den Film ausmacht, findet seinen Weg sowieso direkt unter die Haut.

Interview mit dem Regisseur David Oelhoffen beim Filmfest München 2015
Interview mit David Oelhoffen und Viggo Mortensen in der New York Times
ausführliches Video-Interview mit Viggo Mortensen

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