Vom Abschied – In memoriam Wolfgang Janke

Wolfgang Janke zwischen Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Nietzsche – zwei Pole, die sein Denken mit bestimmt haben. ©Foto: privat

Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich nach einer Weile Abwesenheit von Zuhause den Briefkasten immer mit einem bangen Gefühl aufschließe? Ich weiß nicht, wann genau es angefangen hat. Aber seit einer Weile ist es so, jedesmal ist der bange Gedanke da: Hoffentlich ist da nicht einer dieser Briefe mit mehr oder weniger dezentem Trauerrand in der Post zwischen Rechnungen und Werbesendungen.

Irgendwann hat sie angefangen, die Zeit der Abschiede. Das Wissen: Jetzt hilft keine Revolte mehr gegen den Tod (hat sowieso nie geholfen). Du wirst es lernen müssen, das Abschiednehmen. All die Menschen, die dir auf dem Lebensweg ein gutes Stück voraus sind, die Wegbereiter, Wegbegleiter, Wegweiser, Ins-Leben-Helfer, Durchs-Leben-Helfer, Antwortgeber – sie werden gehen. Vielleicht ja wiederum nur ein Stück voraus, wer weiß das schon. Aber gehen werden sie, und du musst Abschied nehmen. 

Als ob ich nicht wüsste, dass wir immer schon abschiedlich leben, ganz gleich in welchem Lebensalter. Die letzten Zeilen aus Rilkes 8. Duineser Elegie begleiten mich länger als ich sagen kann. 

„Wer hat uns also umgedreht, dass wir,  
was wir auch tun, in jener Haltung sind 
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf 
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal 
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt – , 
so leben wir und nehmen immer Abschied.“

Und trotzdem ist es jetzt, in dieser Lebensphase, etwas anderes.  

Zwischen Werbesendungen, Rechnungen und einer Ansichtskarte ein cremefarbener Umschlag mit sehr dezentem Rand. Am 5. Juni 2019 verstarb im Alter von 91 Jahren Wolfgang Janke. Ein langes Leben. Ein reichhaltiges Leben. „Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz. Alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ Goethe. Ist auch dieser Vers einer, den er mir in die Seele gepflanzt hat, wie so vieles von Rilke, von Hölderlin? Wenn es sie gibt, dann war Wolfgang Janke ein Götterliebling. Die Götter und das Göttliche waren allgegenwärtig in seinem Denken, und am Ende lief es vielleicht sogar, aus dem epochalen Schatten des Nihilismus heraustretend, auf eine Wiedervereinigung von Ontologie und Theologie zu – freilich in einer von Janke akribisch betriebenen Restitution der in der Geschichte der Metaphysik abgeschnittenen, „praecisierten“ existenzialen Bezüge.

Im Schlusskapitel seines letzten, 2018 veröffentlichten Buches Die Seinsfrage (1), spricht Janke von der Notwendigkeit, das Wagnis des Gottvertrauens wiederherzustellen – ein Wagnis, das nur in der Kategorie des Sprunges zu verwirklichen sei, als absolutes Wagnis, welches das ganze Dasein einsetzt. Und er weist auf, dass und inwiefern die Wiederherstellung des Gottvertrauens zugleich einer Resakralisierung von Ehrfurcht, Vertrauen und Liebe bedarf.

Der, der den Sprung vollzogen hat, hat in eins und zumal Furcht und zitternde Hoffnung überwunden und kann wohlmöglich auch dem eigenen Ende in der heiter-gelassenen Grundstimmung des Getrostseins entgegensehen. Vielleicht liegt darin der eigentliche Gewinn und Lohn für den Mut, das Wagnis eingegangen zu sein, mehr noch als ein in Aussicht gestelltes ewiges Leben – denke ich, die den Sprung scheut. Allemal aber liegt in dem Wissen um das Getrostsein dessen, den wir betrauern, ein Trost für den Trauernden, auch für mich.

Ehrfurcht, Vertrauen, Liebe. Nicht re-sakralisiert, sondern irdisch-unschuldig bezeichnen diese drei eben das, was meine Studienjahre bei Wolfgang Janke geprägt hat. Ehrfurcht vor seinem uneinholbaren enzyklopädischen Wissen, seinem scharfen und unbestechlichen analytischen Geist, der dennoch nie kalt-sezierend daherkam, vor der unbedingten Leidenschaftlichkeit seines Denkens, mit der er jeden Gedanken gleichsam zu Blut umschuf. Sicher in dem Vertrauen darauf, ernst genommen zu werden im Selber-Denken, jederzeit frei zu sein – ja, diese Freiheit des Selber-Denkens erproben zu sollen, erproben zu müssen, allerdings nie, ohne sich erst einmal in die Stärke des Gegners zu stellen, so wie er es selbst immer gehalten hat. Und Liebe, ja, Liebe sowieso.

Es war eine Sentenz Johann Gottlieb Fichtes, die dem jungen, aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Studenten Wolfgang Janke 1947 an der Universität zu Köln den Weg in die Philosophie eröffnete, erzählte er einmal. Sie lautete: „Das Ich setzt sich schlechthin selbst“. Ein Zitat von Johann Gottlieb Fichte schmückt nun die Todesanzeige von Wolfgang Janke und schließt den Lebenskreis:

„Die Liebe ist höher denn alle Vernunft.“

Ein Satz, in dem Janke noch einmal in seiner ganzen Persönlichkeit aufscheint. Aber ich möchte meinen Lehrer natürlich mit dem Denker verabschieden, in dem wir wohl die größte gemeinsame Schnittmenge von allen gefunden hatten, mit Albert Camus, versteht sich. Dass ich ausgerechnet heute diesen Satz bei ihm fand, erscheint mehr als Fügung denn als königlicher Zufall. Er stammt aus dem gerade erschienenen, noch nicht übersetztem Briefwechsel von Albert Camus mit Nicola Chiaromonte:

Nur bestimmte privilegierte Wesen wissen, wie man nie urteilt. Sie sind eine Quelle der Freiheit, sie befreien dich im vollen Sinne des Wortes, und deshalb ist die Liebe, die wir für sie haben, mit einer wunderbaren Dankbarkeit gefärbt.“ (2)

Aus tiefstem Herzen sage ich: Merci, mon professeur, et avec tendresse, adieu.

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„Fragen, die uns angehen“ – oder: Von Momenten glücklicher Fügung in absurder Welt

(1) Wolfgang Janke: Die Seinsfrage. Grundzüge einer restitutiven Ontologie. Königshausen & Neumann, Würzburg 2018 (246 S., ISBN 978-3-8260-6400-5)

(2) „Seuls certains êtres, privilégiés, savent ne jamais juger. Ils sont une source de liberté, ils vous libèrent au sens plein du mot et c’est pourquoi l’amour qu’on leur porte se colore d’une merveilleuse gratitude.“ Albert Camus, Nicola Chiaromonte. Correspondance (1945-1959). Édition de Samantha Novello, Gallimard, Paris 2019.
Collection Blanche, Gallimard

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