Eine „femme revoltée“: Lou Marin über Rirette Maîtrejean

Das „AZ“ – Autonome Zentrum in Wuppertal. Foto: Anne-Kathrin Reif

Gleich bei mir um die Ecke in Wuppertal in dem schönen bunten Stadtviertel, das sich „Nordstadt“ nennt und Platz für viele verschiedene Lebensformen bietet, liegt das „Autonome Zentrum“. Ein paar hundert Meter nur, ach, noch nicht mal – aber Berührungspunkte gibt es trotzdem nicht. Außer wenn dort alle paar Monate mal mit so lautstarker Musik gefeiert wird, dass es mich einen Teil meines Schlafes kostet. Geschenkt.  Morgen Abend aber werde ich erstmals hingehen, und das verdanke ich zumindest mittelbar Camus – was mir schon seit Tagen ein fröhliches Grinsen ins Gesicht zaubert. Ist doch verrückt, dass Camus nun sogar dafür sorgt, dass ich nach Jahrzehnten in Wuppertal meine Stadt und sogar meine Nachbarschaft besser kennenlerne! Ganz allein ist es Camus freilich nicht, da braucht es noch ein verbindendes Zwischenglied, und das ist in diesem Fall Lou Marin, Camus-Kenner, Übersetzer von Camus‘ Libertären Schriften und des dicken Doppelbandes seiner Combat-Texte.

Lou Marin, geboren 1961, kommt selbst aus dem politischen Aktivismus der „Graswurzelrevolution“ und ist Mitherausgeber der gleichnamigen gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitung. Seit Ende der 1970er-Jahre ist er in gewaltfreien Aktionsgruppen im Rahmen der Anti-Atomkraft-Bewegung sowie der Friedensbewegung und vielen weiteren Initiativen aktiv. Anders als für mich gibt es für ihn natürlich keine Berührungsscheu gegenüber einer anarchistisch orientierten „autonomen Szene“. Und so ist er am morgigen Freitag, 29. September, dort mit einem Vortrag zu Gast, den er im Mai dieses Jahres bereits bei der Albert Camus-Gesellschaft in Aachen gehalten hat: „Die Anarchie der Rirette Maîtrejean“. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es immer spannend finde, von außergewöhnlichen Frauen zu erfahren, die in den Geschichtsbüchern nicht mal als Fußnote vorkommen, gibt es in diesem Fall sogar tatsächlich eine direkte Verbindung zu Albert Camus. Mehr davon wird man morgen beim Vortrag erfahren – aber vorab habe ich Lou Marin kurz befragt.

Rirette Maîtrejean. Foto: wikicommons

Kurz gefragt: Wer war Rirette Maîtrejean?

Lou Marin: Rirette Maîtrejean (1887-1968) war eine aktive französische Anarchafeministin der zweiten Generation, das heißt nach Louise Michel. Louise Michel starb 1905, die aktivste Zeit von Rirette Maîtrejean war von 1905-1914.

Albert Camus ist erst 1913 geboren. Wann und in welchem Zusammenhang ist sie ihm begegnet?

Lou Marin: 1940 arbeitete sie kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen infolge der Niederlage der französischen Armee in Paris als Korrekturleserin bei der Tageszeitung Paris Soir, wo seit wenigen Monaten auch Camus einen Sekretärsposten angenommen hatte. Rirette Maîtrejean und Camus führten dann den Exode, jene drei Monate Flucht vor den Nazis in den Süden bis nach Lyon im selben Auto der Zeitung Paris Soir durch. Dabei informierte die weitaus ältere und erfahrenere Maîtrejean Camus über die Geschichte der französischen anarchistischen Bewegung.

Inwieweit hat sie deiner Meinung nach einen Einfluss auf das Denken Camus’ ausgeübt?

Lou Marin: In vorderster Reihe der anarchistischen Bewegung war Rirette Maîtrejean zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten Victor Serge vor dem Ersten Weltkrieg, besonders zur Zeit der Attentate und bewaffneten Raubüberfälle der Bonnot-Gruppe, für die sie beide fälschlicherweise mit angeklagt im großen AnarchistInnenprozess von 1913 vor Gericht saßen. Rirette Maîtrejean hatte jedoch bereits vorher die anarchistische Attentatspolitik aus individualanarchistischer und anarchafeministischer Sicht entschieden kritisiert und wurde dafür zum Teil heftig aus anderen anarchistischen Reihen angegriffen. Camus nahm in Der Mensch in der Revolte und im Theaterstück Die Gerechten wesentliche Motive der Attentatskritik Maîtrejeans auf.

Über die Verbindung zu Camus hinaus – was macht sie in deinen Augen heute so bedeutend, dass du dich so ausgiebig mit ihr beschäftigt hast?

Lou Marin: Ihre Kritik des Attentats, auf deren Sinnlosigkeit für eine revolutionäre Strategie sie hinwies und wobei sie die so genannten „Kollateralschäden“, also unschuldige und zufällige Opfer in den Mittelpunkt stellte; ihre Kritik als Anarchafeministin an patriarchalen Strukturen auch innerhalb des Anarchismus; ihr Festhalten an einem emanzipatorischen Begriff individueller Freiheit, der auch in sozialistischen Vergesellschaftungsvisionen nicht aufgegeben werden darf, dabei kritisierte sie im weiteren Verlauf der Zwanzigerjahre auch ihren ehemaligen Lebensgefährten Victor Serge.

Termin:
Lou Marin: „Die Anarchie der Rirette Maîtrejean“. Freitag, 29. September 2017, 19.30 Uhr, im Autonomen Zentrum Wuppertal, Markomannenstr. 3 (Eintritt frei).

Buch:
Lou Marin:  Rirette Maîtrejean. Attentatskritikerin, Anarchafeministin, Individualanarchistin, Verlag Graswurzelrevolution, 262 Seiten, 16,90 Euro
(ISBN 978-3-939045-26-7). Mehr dazu auf der Verlagswebseite.

 

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