Heute ist ganz offiziell Weltgeschichtentag. Nicht im Sinne von „Tag der Weltgeschichte” sondern im Sinne von „Tag des Geschichten-erzählens”. In vielen Ländern der Welt ist also der heutige 20. März der Kunst des (mündlichen) Geschichtenerzählens gewidmet. Nun kann man in einem Blog zwangsläufig nur schriftlich erzählen, es sei denn, man nimmt beizeiten eine Tonspur auf, wozu ich jetzt aber gerade nicht in der Lage bin – aber nichts soll die Blog-Leserinnen und -Leser daran hindern, die Geschichte mündlich weiterzuerzählen.
Sie handelt von einem alten Asthmatiker spanischer Herkunft, der einst in der algerischen Hafenstadt Oran lebte. Von Beruf war er Kurzwarenhändler gewesen, aber im Alter von 50 Jahren hatte er beschlossen, dass er genug getan habe. Daraufhin hatte er sich ins Bett gelegt und war nicht mehr aufgestanden. Auf diese Weise und mit Hilfe einer kleinen Rente hatte er es bis zum Alter von fünfundsiebzig Jahren gebracht, für die er in einem erstaunlich rüstigen Zustand war. Der Arzt, der ihn regelmäßig zuhause aufsuchte, fand ihn stets aufrecht im Bett sitzend vor, mit zwei Kochtöpfen vor sich. Der eine Topf war mit Kichererbsen gefüllt, der andere Topf war leer. Der Alte konnte nämlich Uhren nicht ausstehen. „Eine Uhr ist teuer und dumm”, pflegte er zu sagen. Tatsächlich gab es in dem ganzen Haushalt keine einzige Uhr. Dennoch hatte der Alte eine erstaunlich genaue Vorstellung vom Vergehen der Zeit. Wenn er des Morgens aufwachte, nahm er sich die beiden Töpfe vor. Und mit der immer gleichen konzentrierten, steten Bewegung füllte er Erbse für Erbse von dem einen Topf in den anderen Topf und wieder zurück. „Alle fünfzehn Töpfe brauche ich etwas zu essen”, sagte er. „Das ist ganz einfach.” Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass seine Frau dafür sorgte, dass er sein Essen auch bekam. Wichtiger um das Bild des Alten abzurunden ist sein größter Wunsch, den er wiederholt äußerte: Er hoffte, sehr alt zu sterben.
Die Geschichte stammt, mehr oder weniger frei nacherzählt wie sich das am Tag des Geschichtenerzählens gehört, aus Camus’ Roman Die Pest. Übrigens steht der Weltgeschichtentag jedes Jahr unter einem anderen Thema. In diesem Jahr lautet es „Glück und Schicksal”. Ob die Geschichte vom alten Asthmatiker dazu passt? Ich finde schon. Aber darauf darf sich jeder selbst einen Reim machen.
Hier in Argentinien ist heute der Tag des Witze Erzählers. Also irgendetwas ist bei der Überlieferung nicht ganz verstanden worden. 😉