Von Liebe, Heimat und einem Europa, das immer geschaffen werden muss

Statue „Europa“ beim Naturhistorischen Museum in Wien. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Das „Zufallszitat zum Sonntag“ kann heute, am Tag der Europawahl, natürlich nicht zufällig sein. Allerdings: Es ist schwer, ein kurzes, knackiges Statement zu Europa bei Camus herauszupicken – stattdessen bin ich geneigt, gleich seitenweise aus den Briefen an einen deutschen Freund abzuschreiben, die Camus zwischen Juli 1943 und Juli 1944 geschrieben hat. Aber das geht ja schon wegen der Urheberrechte nicht. Also picke ich doch ein paar Stellen heraus und empfehle dringendst, die „Briefe“, die man ja unter vielen Gesichtspunkten betrachten kann, einmal oder noch einmal zur Gänze mit Blick auf das Thema Europa nachzulesen.

Gleich im Vorwort zur italienischen Ausgabe, das auch der deutschen Ausgabe vorangestellt ist, geht es los. Er habe sich bislang der Verbreitung der „Briefe“ im Ausland stets widersetzt, schreibt Camus, aber „Zum erstenmal nun erscheinen sie außerhalb Frankreichs, und einzig der Wunsch, mit meinen schwachen Kräften dazu beizutragen, dass die sinnlose Grenze zwischen unseren beiden Ländern eines Tages fallen möge, hat mich dazu bewegen können.“¹ Sinnlose Grenzen gab es lange genug nicht nur zwischen Frankreich und Italien. Was würde Camus sagen, wüsste er, dass wir heute ganz ohne sinnlose Grenzen durch ein freies Europa reisen können – und dass es tatsächlich Menschen gibt, die sich darüber nicht glücklich schätzen und lieber dem Nationalstaat huldigen?

Ich liebe mein Land zu sehr, um Nationalist zu sein

Warum wollte Camus die Texte zunächst nicht im Ausland veröffentlichen? Er befürchtete wohl, sie könnten falsch gelesen werden, ja, man können aus ihnen gar jene Art von Nationalstolz herauslesen, die er gerade verabscheute. „Es sind durch die Umstände bedingte Texte, die darum ungerecht erscheinen mögen.“ Über das besiegte Deutshland müsse man mit einem anderen Ton schreiben. Das Vorwort benutzte er, um einem Missverständnis vorzubeugen: „Wenn der Verfasser dieser Briefe <ihr> sagt, meint er nicht <ihr Deutschen>, sondern <ihr Nazi>. Wenn er <wir> sagt, heißt das nicht immer <wir Franzosen>, sondern <wir freien Europäer>. Ich stelle zwei Haltungen einander gegenüber, nicht zwei Völker, selbst wenn in einem bestimmten Augenblick der Geschichte diese beiden Völker zwei feindliche Haltungen verkörpert haben. Wenn ich mich eines Ausspruchs bedienen darf, der nicht von mir stammt, möchte ich sagen: ich liebe mein Land zu sehr, um Nationalist zu sein. 

Und ich weiß, dass weder Frankreich noch Italien etwas dabei verlieren würden, wenn sie sich einer umfassenderen Gemeinschaft anschlössen – im Gegenteil.“¹

Im ersten und zweiten der Briefe blickt Camus auf die Kriegsjahre, auf die Jahre des Kampfes zurück und stellt die unversöhnlichen Seiten gegenüber, auf denen er selbst und der fiktive „deutschen Freund“ in diesen Jahren gestanden haben. Im dritten Brief erklärt er: „Während dieser ganzen Zeit, da wir hartnäckig und schweigend nur unserem Land dienten, haben wir eine Idee und eine Hoffnung nie aus den Augen verloren, sie stets in uns lebendig erhalten: Europa.“ ²

Europa – Wirtschaftsraum, dienstbare Industrien oder das Abenteuer des menschlichen Geistes

Aber von welchem Europa spricht Camus? Auch die Nazis hatten in ihrem grenzenlosen Eroberungswillen Europa im Blick. „Ihr sagt Europa, aber ihr meint soldatenreiches Land, Getreidespeicher, dienstbare Industrien, gelenkten Geist. (…) Ich möchte, dass Ihnen dieser Unterschied ganz deutlich wird: für euch ist Europa jener von Meeren und Bergen umgürtete, von Stauwehren durchzogene, von Bergwerken unterhöhlte, von Ernten strotzende Raum, in dem Deutschland eine Partie spielt, deren einziger Einsatz sein eigenes Schicksal ist. Für uns jedoch ist Europa jener Boden, auf dem sich seit zwanzig Jahrhunderten das erstaunlichste Abenteuer des menschlichen Geistes abspielt. Es ist jene einzigartige Arena, in der der Kampf des abendländischen Menschen gegen die Welt, gegen die Götter, gegen sich selber, heute einen der emotionalsten Momente erreicht.“ ³

Vielleicht denken heute wenige bei Europa ausgerechnet an Stauwehre, Bergwerke und Ernten. Dafür aber an Wirtschaftskraft, Handelsabkommen und die Vereinbarung über den Gurkenkrümmungsgrad. Sie denken bei der Frage, wo sie heute am Tag der Europawahl ihr Kreuzchen machen, daran, welche Partei wohl der eigenen Nation den größten Vorteil in diesem Europa verschaffen wird; vielleicht kalkulieren sie auch noch, welche Europa den größten Vorteil gegenüber außenstehenden Nationen zu verschaffen vermag.

Angesichts dieses heute opportun erscheinenden nüchtern kalkulierenden Denkens zieht es mir das Herz zusammen, zu lesen, wie Camus es sich traut, in diesem Zusammenhang die Liebe ins Feld zu führen. Uns daran erinnert, dass es da etwas zu verteidigen gilt – und zwar aus nichts anderem als aus Liebe. „Am unerträglichsten ist es, das entstellt zu sehen, was man liebt. Und um diesen Begriff von Europa, den ihr den Besten unter uns gestohlen und mit dem euch genehmen empörenden Sinn erfüllt habt, seine Frische und seine Wirksamkeit in uns zu erhalten, bedürfen wir der ganzen Kraft der besonnenen Liebe.“ ²

Ein herrliches, aus Leid und Geschichte geschaffenes Land

Und es gibt viel zu lieben in diesem Europa. Es verwundert ein wenig, dass Camus nicht als erstes die Hügel der Provence, die Strände des Mittelmeeres nennt. Stattdessen schreibt er: „Manchmal geschieht es, dass ich in jenen kurzen Ruhepausen, die die langen Stunden des gemeinsamen Kampfes uns vergönnen, unvermittelt an all die Orte in Europa denken muss, die ich gut kenne. Es ist ein herrliches, aus Leid und Geschichte geschaffenes Land. Ich gehe wieder auf die Pilgerfahrten, die ich mit allen abendländischen Menschen unternommen habe: die Rosen in den Kreuzgängen von Florenz, die goldenen Zwiebeldächer von Krakau, der Hradschin mit seinen toten Palästen, die barocken Statuen auf der Karlsbrücke über der Moldau, die lieblichen Gärten von Salzburg. All die Blumen und die Steine, die Hügel und die Landschaften, in denen die Zeit der Menschen und die Zeit der Welt die alten Bäume mit den Bauwerken haben verwachsen lassen! Mein Gedächtnis hat die übereinandergelegten Bilder verschmolzen, um ein einziges Antlitz daraus zu machen, das meiner großen Heimat.“ (4)

(…)

Und schließlich weiß ich auch, dass mit eurer Niederlage nicht alles getan ist. Europa muss dann erst geschaffen werden. Es muss immer geschaffen werden.“ (4)

***

Heute und an jedem weiteren Tag: Jetzt ist es unsere Aufgabe. In diesem Sinne wünsche ich allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden noch einen schönen (Wahl-)Sonntag und sage wie immer à bientôt!

***

 

¹ Albert Camus, Briefe an einen deutschen Freund, in: Fragen der Zeit, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1960/1977, S. 11
² a.a.O., S. 22; ³ a.a.O., S. 23. Übersetzung geändert. In der Originalübersetzung: Es ist jene einzigartige Arena, in der der Kampf des abendländischen Menschen gegen die Welt, gegen die Götter, gegen sich selber, heute den Höhepunkt seines  wilden Wogens erreicht. Im franz. Original: …un moment le plus bouleversé. – Ich weiß nicht, ob meine Übersetzung es jetzt wirklich trifft, aber das „wilde Wogen“ schien mir dann doch ein wenig weit hergeholt. (4) a.a.O., S. 25.

 

 

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