Gedanken in Assoziation zum morgigen Vortrag bei der
Albert Camus Gesellschaft in Aachen zu Albert Camus‘
Drama Die Gerechten
„Wer sich nicht beim rechten Anlass zu empören vermag, dem fehlt eine Dimension des Menschseins.“ Ich saß als junge Studentin im Seminar bei Wolfgang Janke, es ging um Albert Camus, und ich höre heute noch den klaren, unaufgeregten aber ungemein entschiedenen Tonfall, mit dem der bewunderte Lehrer diese Sentenz in den Raum stanzte. An der unmittelbaren Regung der Empörung angesichts von Unrecht und untragbaren Zumutungen, auch dann, wenn diese gar nicht die eigene Person betreffen, zeigt sich, in welchem Maße wir zu Mitmenschlichkeit und Solidarität fähig sind. Im Denken von Albert Camus ist die Kategorie der révolte – zunächst im Sinne von Empörung und schließlich im engeren Sinne der Revolte eine der grundlegenden Kategorien der „Philosophie des Absurden“.
Aber wie genau steht es mit der Empörung, die Menschen heute aus den unterschiedlichsten Beweggründen auf die Straße treibt? Die unfassbar mutigen Menschen im Iran, die gerade nicht aufhören, gegen die Unterdrückung durch die Mullahs zu protestieren, die Frauen dort, die sich öffentlich die Kopftücher vom Haar reißen und dabei ihr Leben riskieren. Die lautstark durch die Straßen ziehenden Impfgegnerinnen und -Gegner und Maskenverweigerer während der Hochzeit der Pandemie, die sich in ihrer Freiheit bedroht sahen, in Kauf nehmend, andere Menschen damit zu gefährden. Die Empörung einer Greta Thunberg – „how dare you!“ – und einer ganzen Generation, die in Sorge über ihre Zukunft auf diesem Planeten ist, über das nicht ausreichend entschlossene Handeln im Angesicht des Klimawandels. Die Empörten, die nicht wahrhaben wollten, dass ihr selbstherrlicher Präsident die Wahl verloren hat (genauso wenig wie dieser selbst) … wie leicht ließ sich aus dieser Empörung eine Revolte anzetteln, die in Washington zum Sturm auf das Capitol geführt hat. Die Liste lässt sich fortsetzen…
Wohin führt uns die Empörungsspirale?
Angesichts solch disparater Beispiele heißt es wohl, einzugestehen, dass der Impuls der Empörung, der doch eigentlich unmittelbar aus einem zutiefst verinnerlichten, möglicher Weise sogar angeborenen Sinn für Recht und Unrecht zu entspringen scheint, tatsächlich gar kein solides moralisches Fundament hat. Dass die Empörung genauso aus purem Egoismus entspringen kann, aus Angst, aus Neid, aus der Zumutung, auf etwas verzichten zu sollen.
Wohin bringt uns die Empörung? Und was wird aus einer Gesellschaft, in der die Empörung immer schneller, immer heißer hochkocht? Man schaue nur in die so genannten sozialen Medien: Wieviel Empörung schlägt einem dort unausgesetzt entgegen – von Fahrradfahrern, Autofahrern, Fußgängern, Gendersprache Befürwortern und Gegnern, Kämpfern gegen „kultuelle Aneignung“, Vegetariern, Veganern, Fleischessern (alles jeweils auch die entsprechenden *innen), ach, es ist endlos; und jeder dieser Posts ruft wieder eine empörte Antwort hervor, immer schneller dreht sich die Empörungsspirale, immer gehässiger und verbal gewalttätiger werden die Erwiderungen, und jeder glaubt die Moralität auf seiner Seite zu haben, egal, ob es um die „höhere Sache“ oder nur um die Verteidigung ureigenster Interessen geht.
„Je me révolte, donc nous sommes“ – ich empöre mich, also sind wir – sagt Camus, und das klingt, als würde die révolte immer schon in eins das „Wir“ mit konstituieren, als handele sie immer sogleich im Namen aller und nicht im partikularen Interesse. Dass es so einfach nicht ist, weiß Camus aber auch. In seinem Drama Die Gerechten geht es eben darum. Auch die kleine Gruppe russischer Revolutionäre, die den Anschlag auf den Großfürsten plant, ist überzeugt davon, im Namen des unterdrückten Volkes, ja im Namen aller Menschen zu handeln. Für Stepan, den radikalsten von ihnen, gilt gar „Die Freiheit ist ein Gefängnis, solange ein einziger Mensch auf Erden geknechtet ist.“ *
Wie weit darf die Revolte gehen?
Aber wie weit darf die Revolte gehen? Stepan ist überzeugt davon, dass das Ziel den Einsatz blutiger Gewalt rechtfertigt, auch wenn dabei Unschuldige (in dem Fall Kinder) sterben. Aber die Gruppe ist gespalten.
Wie weit darf die Revolte gehen? Was ist der rechte Ausdruck für berechtigte Empörung? Heiligt der Zweck die Mittel? Die Fragen, die im Mittelpunkt des Dramas Die Gerechten stehen, sind keineswegs abstrakt. Und sie sind nicht historisch fern, denn sie stellen sich jeden Tag neu. Heute zum Beispiel in Anbetracht von blockierten Autobahnen und Kunstwerken, die mit Kartoffelbrei und Tomatensoße attackiert werden, womit Aktivisten auf das drängende Thema des Klimawandels aufmerksam machen und zum Handeln aufrufen wollen. Auch wenn die Frage nicht von gleicher Tragweite ist wie die nach der Bombe auf die Kutsche des Zaren – es geht im Kern um die gleichen Fragen: Wie weit darf man gehen? Ist das Begehen von Unrecht zu rechfertigen, wenn damit größeres Unrecht verhindert werden kann? Wie viel Tomatensoße muss noch auf Bilder geworfen werden, damit auch die ordentliche Hausfrau, deren Schotterweg vor dem Einfamilienhaus am Waldesrand so picobello aussieht wie der frisch gesaugte Wohnzimmerteppich, versteht, dass tägliches Hantieren mit dem Laubsauger im Herbst mitten in der Energiekrise ein kleines Teilchen im großen Problemmosaik ist? Oder verhindert Tomatensoße auf Bildern vielleicht sogar an vielen Stellen das Einsetzen eines Erkenntnisprozesses und löst nur einen Abwehrreflex aus?
Bei Camus lernen wir, dass und warum die Empörung/Revolte unbedingt der Ergänzung durch die Kategorie der Solidarität bedarf – und dass auch dies die Widersprüche nicht auflöst. Die Gerechten sind immer wieder ein guter Anlass, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.
Gelegenheit dazu gibt es am morgigen Dienstag bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen. Holger Vanicek, Vorsitzender der Gesellschaft, hält einen Impulsvortrag zum Drama Die Gerechten und lädt zum anschließenden Gespräch ein. „Was macht Sinn? – Was ist erlaubt und wozu bin ich verpflichtet? Würde ich mein Leben für eine kollektive Gerechtigkeit hergeben? Gibt es eine höhere Wahrheit? Es mag spielerisch erscheinen, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, weil das abstrakte Gedanken sind – doch in Wahrheit betreffen sie uns ständig, wenngleich in den meisten Fällen unbewusst“, sagt Vanicek dazu.
Ich bedanke mich herzlich, dass die AC-Gesellschaft damit mal wieder meinen Blog aufgeweckt hat!
Termin: 8. November 2022, 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Der Eintritt ist frei, da es sich um eine Kooperationsveranstaltung mit der VHS-Aachen handelt, wird aber um Anmeldung bei der VHS gebeten. Spontane Besucherinnen und Besucher sind aber auch willkommen.
(*) Albert Camus, Die Gerechten, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 189.
P.S. Beinahe vergessen… Heute ist ja ein besonderer Tag… Bonne anniversaire, cher Albert Camus! Es wäre sein 109ter. Das habe ich im Beitrag zwar nicht ausdrücklich gewürdigt – aber kann es ein schöneres Geschenk geben als die Gewissheit, dass die eigenen Gedanken noch so lange nachwirken?
Zu diesem Thema habe ich noch keinen besseren, treffenderen Kommentar gelesen als
den Deinen, liebe Anne Kathrin.
Lieber Klaus, wie nett von dir, ganz herzlichen Dank für den wohlmeinenden Kommentar!
Ein sehr guter Anlass die Unumgänglichkeiten der Gegenwart aus der Sicht der Herausgeberin einmal in den Kontrast zu setzen. In der Tat, wie weit muss die gelebte Zivilgesellschaft ipso facto gehen, demos wahrhaftig zu sein und wann wird das Politische nicht nur juristisch absurd.