Von den Jugendschriften Camus‘ die Oliver Victor in der vergangenen Woche kompetent gewürdigt hat, springen wir am kommenden Montag mit einem großen Satz über das Absurde hinweg mitten in die Revolte: Lou Marin, einer der wichtigsten Camus-Kenner der „Revolte“ überhaupt, spricht über
„70 Jahre Der Mensch in der Revolte von Albert Camus. Kontroversen und Verteidigungen direkt nach Erscheinen 1951/52″
Lou Marin schreibt dazu:
Das vor 70 Jahren erschienene Hauptwerk von Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, basiert auf einer ahistorischen Wertsetzung am Ursprung der Revolte und der fortlaufenden Treue (fidélité) zu diesem Wert. Das Ideal der reinen Verweigerung, das „Nein!“, darf nicht durch das Überschreiten einer Grenze auf dem Weg von der Revolte zur Revolution, nämlich die Reproduktion der Gewalt der Herrschenden und mit ihnen Kollaborierenden, gegen die sich die Revolte ursprünglich richtete, verraten (trahision) werden. Diese Grundthese implizierte am Ende des Buches eine Positionierung Camus‘ auf der bakunistisch-anarchistischen Seite der histoirschen I. Internationale und gegen Marx.
Sie rief unmittelbar, noch 1951 in der Literaturzeitschrift Arts, die Verurteilung durch André Breton und die Surrealisten hervor, 1952 die Verdammung durch Francis Jeanson, Jean-Paul Sartre und die Marxist*innen in Les Temps modernes. Im Vortrag werden beide Angriffe sowie die Verteidigungen Camus‘ unter Rückgriff auf die libertäre Strömung eines Dritten Wegs dargestellt – unter den manichäischen Bedingungen des Kalten Krieges. Camus kritisierte einen grenzenlosen Nihilismus an Breton sowie eine an keinen ahistorischen Wert gebundene marxistische Geschichtsphilosophie bei Sartre. Gegen die zeitgenössische Unterstellung der marxistischen Linken, Camus vertrete eine solitäre, wirkungslose, isolierte („Luft!“) Position wird die Solidarität mehrerer anarchistischer und syndikalistischer Strömungen durch die Positionen von Georges Fontenis, Gaston Leval, Maurice Joyeux, André Prudhommeaux, Rirette Maîtrejean, Simone Weil, Heiner Koechlin und Yves Dechezelles dokumentiert.
Zur Person:
Lou Marin, hat vielfach über Albert Camus veröffentlicht. Ein Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf dem Werkabschnitt der Revolte und den Verbindungen Camus‘ zu anarcho-syndikalistischen Kreisen. 2008 hat er Camus‘ Libertäre Schriften erstmals im französischen Original und 2013 von ihm selbst übersetzt auf deutsch herausgebracht. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen nicht nur über Albert Camus sondern auch über Mahatma Gandhi, Martin Buber und vieles mehr. Lou Marin, geboren 1961, lebt seit 2001 als Journalist, Autor und Übersetzer in Marseille und ist dort Mitglied im „Centre International de Recherches sur l’anarchisme; Internationales anarchistisches Forschungszentrum“ und seit 2013 in der Gruppe „Cercle libertaire et non-violente de Marseille“.
Lou Marin ist seit 1979 aktiv in gewaltfreien Aktionsgruppen im Rahmen der Anti-AKW-Bewegung bis hin zu Castor-Blockaden, Friedensbewegung der 1980er-Jahre, Netzwerk antirassistischer Notruftelefone sowie Männergruppen gegen Männergewalt in den 1990er-Jahren. Von 1984-2001 war er Mitglied verschiedener Haupt- und Regionalredaktionen der Monatszeitung Graswurzelrevolution (für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft; seit 1972), und ist heute weiterhin regelmäßiger Autor und Mitglied des Herausgeber*innenkreises der Graswurzelrevolution.
Zu seinen zahlreichen Publikationen und Übersetzungen gehören u.a.:
- Lou Marin (Hg.): Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960), Übersetzung aus dem Französischen von Lou Marin, Laika Verlag, Hamburg 2013, 24,90 Euro.
- Jacqueline Lévi-Valensi (Hg.): Albert Camus – Journalist in der Résistance. Leitartikel und Artikel in der Untergrund- und Tageszeitung Combat von 1944 bis 1947, zwei Bände (übersetzt von Lou Marin), Laika Verlag, Hamburg 2014, je Band 24,90 Euro.
- Camus gegen Sartre. Gewaltkritischer Anarchismus gegen marxistischen Linksradikalismus als prägende Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts, in: Philippe Kellermann (Hg.): Begegnungen feindlicher Brüder. Anarchismus & Marxismus, Band 2, Unrast 2012, S. 62-80.
- Rirette Maîtrejean. Attentatskritikerin, Anarchafeministin, Individualanarchistin, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2016.
- Ursprung der Revolte. Albert Camus und der Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 1998 (überarbeitete Neuauflage in Vorbereitung)
In Französisch: - * Camus et sa critique libertaire de la violence, Éditions Indigène, Montpellier 2010.
Ich habe Lou Marin mehrfach als einen fesselnden Redner kennengelernt, der frei vortragend aus einem immensen Wissenschatz schöpfen kann und freue mich auf seinen Vortrag! Zu unserer Begegnung 2015 in Marseille geht es hier:
„Freiheit um der Freiheit willen“ – Eine Begegnung mit Lou Marin
Vor einem Jahr habe ich hier im Blog einen lesenswerten Gastbeitrag von Lou Marin veröffentlicht:
Albert Camus‘ Kampf gegen die „braune Pest“ – Ein Gastbeitrag von Lou Marin
2017 habe ich ihn anlässlich eines Vortrages in Wuppertal zu Rirette Maîtrejean befragt:
Eine „femme revoltée“: Lou Marin über Rirette Maîtrejean
***
Die Ringvorlesung läuft bis zum 12. Juli 2021 und wird über das Internet gestreamt. Alle Termine im Blog hier
Die Vorträge mit anschließendem Zoom-Gespräch finden jeweils von 16.30 bis 18 Uhr statt. Alle Interessierten, die sich nicht über das Studierendenportal der Uni Düsseldorf anmelden können, wenden sich bitte per Mail an Oliver.Victor@uni-duesseldorf.de, um die Zugangsdaten zu erhalten. Bitte beachten Sie, das Gasthörer herzlich willkommen sind, bei der Diskussion jedoch die Studierenden Vorrang haben.
❣