Samstag, 12. Juli 2014. Das Tagebuch trägt seinen Namen gerade mal wieder zu Unrecht: Die Seiten bleiben schon seit Tagen leer. Das liegt daran, dass das Leben gerade umso voller ist. Und man kann nicht zugleich mitschwimmen und protokollieren, jedenfalls habe ich das noch nie gekonnt. Übrigens finde ich das auch immer schwierig, wenn ich Gespräche mit Menschen führe, über die ich schreiben will. In dem Moment, wo ich mitschreibe, entsteht ein Bruch. Es kann nur noch ein Interview dabei herauskommen. Aber kein wirkliches Gespräch. Ein Gespräch hat seine eigene Dynamik, es verträgt keine künstliche Verzögerung in diesem gegenseitigen Geben und Nehmen, und es braucht die ungeteilte, volle Aufmerksamkeit für das Gegenüber. In den letzten zwei Wochen habe ich großartige Gespräche geführt und so viele wunderbare Menschen getroffen. Der Journalistin in mir zuckte dabei zumindest innerlich öfter mal heftig der Stift in der Hand. Aber letztlich waren mir die Begegnungen und Gespräche und das Mich-Hineinfallen-lassen in diese Augenblicke kostbarer als die journalistische Verwertbarkeit. Und kostbar, geradezu unschätzbar sind mir diese Begegnungen, die fast alle, Zufall oder nicht, irgendwie auch mit Camus zu tun hatten. Es war wieder einmal so, wie die WamS seinerzeit das Interview mit mir betitelt hat: „Camus verbindet wie ein gemeinsamer Freund.“
Aber es geht um mehr als um eine Reihe schöner privater Momente. Es ist ja so, dass die Welt gerade mal wieder (wann eigentlich nicht?) ein Irrenhaus ist. Kaum auszuhalten, wenn man genau hinsieht. Religiös motivierter oder auch nur verbrämter Faschismus und separatistischer Nationalismus an allen Ecken, der die Welt in Brand zu stecken droht. D.h.: Es brennt ja schon allenthalben. Israel und Palästina, Russland und die Ukraine. Die unfassbaren Umtriebe der islamistischen Boko-Haram in Nigeria, die zu hunderten Mädchen verschleppt und versklavt und grausamste Massaker verübt. Das Erstarken der Isis-Terrortruppen im Irak, was nicht nur an sich schon schrecklich ist, sondern auch noch zeigt, wie atemberaubend sinnlos der vom Westen geführte Krieg dort war. „Konfliktherde“. Eigentlich ein viel zu harmloses Wort für all diesen Wahnsinn. Aber dann doch wieder passend. Weil es immer und überall genug Menschen gibt, die von diesem Wahnsinn profitieren und deshalb den Herd weiter aufheizen und immer weiter Öl ins Feuer gießen. Und zahllose Menschen, die unfassbar leiden, weil es für sie kein Entkommen daraus gibt, und sie quasi bei lebendigem Leib gekocht und gebraten werden. Ich werfe alles in einen Topf? Es gibt Gründe, und es gibt Täter und Opfer? Möglich, vielleicht. Schön für die, die sich immer sicher sind, das unterscheiden zu können. Vermutlich fühlt man sich dann nicht ganz so hilflos und ohnmächtig. Mich dagegen überwältigt die Hilflosigkeit und Ohnmacht, und das sogar schon, ohne auch noch eine Tages- oder Wochenzeitung gelesen zu haben, aus der mir dann auch noch das ganz „normale“ tägliche Elend der Welt entgegenspringt. Dass ich sie überhaupt noch spüre, diese wütende Ohnmacht und Hilflosigkeit, liegt vermutlich daran, dass ich mich weigere, diesen Irrsinn einfach hinzunehmen. Doch, ich verstehe durchaus, dass so viele Menschen weltweit gerade darauf starren, wie jeweils zwei gegnerische Mannschaften einem Ball hinterherjagen. Das sind wenigstens Kämpfe, die ausnahmsweise mal unblutig ausgetragen werden. Und die von allen anderen Kampfschauplätzen ablenken.
Bei mir funktioniert diese Ablenkung gerade nicht so richtig. Mehr als ein sehr kurzzeitiges Vergessen kommt dabei nicht heraus. Das einzige, was wirklich hilft, diesem ganzen Irrsinn standzuhalten, sind die Begegnungen mit Menschen, die mit all ihrem Tun und ihrem Sein ein Beispiel dafür geben, dass es auch anders geht. Mithin im Prinzip jeder, der versucht, ein aufrechtes Leben zu leben und sich bemüht, das Elend in der Welt zumindest nicht zu vergrößern, der dem Andersdenkenden zuhört, der dem Anderen mit Offenheit begegnet und dem Fremden die Hand reicht. Das einzige, was hilft. Und es sind für mich immer wieder die Musiker und Künstler, die das in gesteigertem Maße spürbar machen. Die „großen“, die ich in den letzten Tagen treffen durfte …Konstantin Wecker, Jens Fischer, Stephan Balkenhol, Tony Cragg, Oliver Jordan, Eric Andersen (was für wunderbare, beeindruckende Begegnungen!) … genauso wie die Künstler und Musiker bei mir um die Ecke… Ihre Kunst, ihre Musik verändert die Welt nicht? Nein, gewiss werden sie mit ihrem Tun den Irrsinn nicht aus der Welt schaffen. Aber sie setzen ihm etwas entgegen. Schöpfung gegen Zerstörung. Ein hoffnungsvolles, ein trotziges, ein wütendes oder einfach stoisches „dennoch“. Und um noch wie vieles schrecklicher sähe die Welt wohl aus ohne die Kunst, die Musik, die Poesie. Ich möchte diesen Menschen danken für die Kraft, die sie mit ihrem Tun weitergeben und die sich in den Herzen der Menschen, die sie erreicht, vervielfältigt und ihnen hilft, ihrerseits dem Hass und der Gewalt zu widerstehen. Den schönsten Satz in diesen überfließenden Tagen sprach Eric Andersen bei seinem großartigen Konzert in Bonn: „Love is the strongest form of revolt“.