Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch (2) – oder: Wir leben alle in Oran

27. März 2020. Aufwachen an einem strahlend sonnig-kalten Frühlingsmorgen, die Vögel zwitschern wie verrückt. Der erste Blick aus dem Fenster geht über Wuppertaler Dächer hinweg zu den bewaldeten Hügeln gegenüber. Die Welt sieht aus wie immer. Und jeden Morgen aufs Neue gibt es diese ersten Momente, in denen der Verstand nicht fassen will, dass die Welt eben nicht ist wie immer. Dass alles anders ist. Der Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Wissen ist so grundlegend, dass plötzlich alles surreal erscheint. Es ist viel davon die Rede in diesen Tagen, dass wir dieser Krise am Ende auch Positives werden abgewinnen können. Dass sie eine Chance ist, etwas zu lernen oder wiederzuentdecken, das uns helfen kann und die Welt zu einem besseren Ort, unsere Gesellschaft menschlicher machen kann. Ausgemacht ist das durchaus noch nicht. Aber ich sagte schon: Wir haben es selbst in der Hand. Was wir aber auf jeden Fall gerade nicht nur lernen können, sondern lernen müssen, ist: Mit Widersprüchen zu leben, ja, im Widerspruch zu leben. Und der Widerspruch zwischen dem, was wir wahrnehmen und dem, was unser Wissen über die Auswirkung des neuen Corona-Virus uns an Einschränkungen aufnötigt, ist der, der jetzt alles bestimmt.

Grundsätzlich wehrt sich der Verstand gegen Widersprüche. Der Verstand will Widersprüche auflösen, will auf Fragen Antworten finden. Aber da gibt es nicht nur jene Fragen, auf die mit dem Zuwachs an Wissen und an technischen Möglichkeiten im Laufe der Zeit befriedigende Antworten gefunden werden. Der Verstand wird auch von solchen Fragen heimgesucht, die das Vermögen des Verstandes immer schon übersteigen. Mit diesen Fragen wird der Verstand immer gegen seine eigenen Grenzen donnern wie die Fliege gegen die Fensterscheibe. Das ist die menschliche Grundsituation, in die wir hineingeworfen sind. Es ist das, was Camus das Absurde nennt. Zugleich ist es etwas, das uns zumeist nicht sonderlich stört, und worüber wir uns am wenigsten Gedanken machen, so lange unser Alltag einigermaßen bequem funktioniert. Dass auch dieser Alltag, unser ganz normales Leben ständig von Widersprüchen durchzogen und geprägt ist, blenden wir gerne aus. Was menschlich ist, da will ich jetzt gar nicht den Zeigefinger heben.

Allerdings gibt es verschiedene Stadien zwischen Ausblenden und aktivem Leugnen. Als der Arzt Dr. Bernard Rieux am Morgen des 16. April im Treppenhaus über eine tote Ratte stolpert, schiebt er das Tier achtlos zur Seite. Der Hauswart dagegen ist empört: In „seinem“ Haus gibt es keine toten Ratten. Die drei toten Ratten am nächsten Tag müssen ein Bubenstreich sein. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Rieux ist angesichts der drei weiteren toten Ratten bereits beunruhigt. Er beginnt seine Hausbesuche gezielt in den Außenquartieren, wo seine ärmsten Patienten wohnen, zählt in einer Straße ein Dutzend tote Ratten und stellt fest, dass bereits das ganze Viertel davon spricht. Trotzdem beruhigt er seine kranke Frau bei ihrer Abreise ins Sanatorium noch: „Es ist merkwürdig, aber es wird vorbeigehen“ (1). Dem Untersuchungsrichter Othon, den er auf dem Bahnsteig trifft, und der ihn auf die Ratten anspricht, entgegnet er: „Das hat nichts zu bedeuten“ – während er zugleich im Vorübergehen einen Arbeiter wahrnimmt, der eine Kiste mit toten Ratten unter dem Arm trägt (2). Es ist ein seltsames Phänomen, alle Welt spricht darüber, aber man fühlt sich nicht bedroht.

Haben wir diese Phase bereits hinter uns? Seltsame gehäufte Krankheitsfälle sind im fernen China aufgetaucht – das waren noch die einzelnen Ratten auf der Treppe. Wurde mit einer gewissen Neugier betrachtet, hatte aber nichts zu bedeuten. Auch dann nicht, als es sehr schnell mehr werden und schon alle Welt darüber spricht. Merkwürdig, aber nicht so schlimm. Ein neues Virus, ja, aber immerhin nicht die Pest, nur eine neue Art Grippe; an die alte, die jedes Jahr tausende Todesopfer fordert, über die niemand redet, haben wir uns ja auch gewöhnt, und die ist schließlich viel schlimmer. Es wird vorbeigehen. – Ja, diese Phase haben wir hier bei uns und in den größten Teilen der westlichen Welt wohl hinter uns. Anderswo vielleicht noch nicht. Ein Video der Deutschen Welle zeigt eine Patrouille der Ural-Kosaken in Russland, die nicht nur Atemschutzmasken verteilen, sondern zur Bekämpfung des Virus auch Weihwasser, Honig, Knoblauch und Himbeermarmelade empfehlen. Aber die Leugner vom Schlage des Hauswarts Monsieur Michel gibt es zweifellos auch bei uns noch. Monsieur Michel wird übrigens der erste sein, der an der Pest stirbt.

Es gibt trotzdem keinen Anlass, sich über all jene, die das Ausmaß der Heimsuchung so lange nicht wahrhaben wollten, zu erheben. Denn auch jetzt wird man „ohne weiteres zugeben, dass unsere Mitbürger in keiner Weise auf die Ereignisse vorbereitet waren, die sich im Frühling dieses Jahres abspielten.“ (3) Camus machte die algerische Hafenstadt Oran zum Schauplatz seiner Geschichte, vielleicht, weil er die Heimatstadt seiner Frau nie mochte und sich dort nie wohl gefühlt hat, vor allem aber, weil es eine so ganz und gar gewöhnliche Stadt ist. Eine nüchterne, ziemlich hässliche Stadt, wo die Menschen viel arbeiten, aber nur um reich zu werden, wo die Bewohner sich hauptsächlich mit Handel und dem, was sie Geschäfte machen befassen und das Vergnügen vernünftiger Weise auf das Wochenende verlegen (4). So what?

Man wird zweifellos entgegnen, dass unsere Stadt darin keine Ausnahme bildet und dass eigentlich alle Zeitgenossen so sind. Gewiss erscheint es einem heute nur natürlich, wenn die Leute von morgens bis abends arbeiten und dann die Zeit, die ihnen zum Leben bleibt, beim Kartenspiel, im Café und mit Geschwätz vertun.“ (5)

Und schließlich, ganz gleich wie öde einem das mit dem Blick von außen auch erscheinen mag: „Sobald man Gewohnheiten angenommen hat, verbringt man seine Tage mühelos. Da unsere Stadt die Gewohnheiten besonders unterstützt, ist nur zu sagen, dass alles zum besten bestellt ist“ (3).

Ja, aber wie, wenn all diese Gewohnheiten mit einem Schlag durcheinander gewirbelt werden? Wenn sie keinen Halt mehr bieten und das gerade noch Selbstverständliche sich nicht mehr von selber versteht? Davon kann wohl gerade jeder sein ganz eigenes Lied singen. So viele verschiedene Geschichten, wie es Menschen gibt. Mit vielen sich ähnelnden Erfahrungen und doch für jeden anders. Der eine hat mit der sozialen Isolation zu kämpfen, die andere damit, in ungewohntem Maße der eigenen Familie ausgesetzt zu sein. Für den einen mag es schon eine umstürzende Erfahrung sein, dass er zum ersten Mal vor einem leeren Supermarktregal steht und er sein dreilagiges Klopapier nicht mehr kriegt, die andere ist mit wirtschaftlichem Zusammenbruch, Erkrankung oder gar dem Tod konfrontiert. Aber machen wir uns nichts vor: Auch vor einem leeren Supermarktregal kann einen das Absurde anspringen wie an jeder beliebigen Straßenecke.

Aber so verschieden auch immer, so unterschiedlich hart auch immer es den einzelnen treffen wird – die pure Tatsache, dass dieses Virus sich gerade über den kompletten Erdball ausbreitet und in den Alltag jedes einzelnen eingreift, ist etwas, das uns alle verbindet. Seien wir doch neugierig: Wie gehst du damit um? Was macht das mit dir? Wie kommst du klar? Offenheit, Interesse, Anteilnahme, wo wir sonst aneinander vorbeileben – vielleicht können wir in der erzwungenen physischen Distanz ja eine Menge über soziale Nähe lernen. Aber ich wollte nicht predigen (wird mir wahrscheinlich noch öfter passieren). Das Thema der Predigt ist Pater Paneloux vorbehalten, aber da bin ich noch nicht. Wie gesagt, ich hab‘ ja ganz vorne angefangen, Die Pest nochmal zu lesen – und heute bin ich nur bis Seite 10 gekommen. In diesem Sinne: à bientôt – und bleiben Sie gesund!

(1) Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1950, S. 9. (2) a.a.O., S. 10; (3) a.a.O., S. 7; (4) a.a.O., S. 5; (5) a.a.O., S. 6;

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2 Antworten zu Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch (2) – oder: Wir leben alle in Oran

  1. Knut Thielsen sagt:

    Danke für diesen sehr nachdenklichen, geerdeten, differenzierten und tiefgründigen Tagebucheintrag! Ja, die Widersprüche sind es. Eine meiner Erkenntnisse als Lehrer war immer der Satz: „Zum Erwachsenwerden gehört auch das Aushalten von Unsicherheiten und Widersprüchen.“ Abenteuerlich, der Beitrag über die Ural-Kosaken. Und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Wir haben angesichts dieses unscheinbaren, aber anscheinend sehr mächtigen Virus gerade wohl ziemlich wenig in der Hand. Man wird recht demütig in diesen Tagen. Dass uns dabei der Geist des Widerspruchs (l’Homme révolté) und die Liebe zum Leben nicht abhanden kommen mögen, wünsche ich Ihnen und uns allen. Bleiben Sie behütet!

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Thielsen, ganz herzlichen Dank für Ihren so überaus freundlichen Kommentar! Beim Bloggen schreibt man ja immer irgendwie in den leeren Raum hinaus, aber in diesen Tagen ist es umso wertvoller zu wissen, dass es auf Resonanz stößt. Auch für Sie alles Gute und bleiben Sie gesund!

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