Prosaische Gedanken zur ganz alltäglichen Auferstehung

Es ist Ostern. Ich habe keinen passenden Camus-Osterbeitrag parat. Danach suchte ich schon vor zwei Jahren vergebens, und dann begegneten mir am Ostersonntag doch noch unversehens Sisyphos und Christus in Baden-Baden auf einem Blumenkübel. Aber auf solche Zufälle kann man nicht zählen. Zwischen dem heutigen und dem vorherigen Beitrag hier im Blog liegen fast drei Wochen, was so ziemlich die längste Pause ist, die es seit dem Start am 1. Januar 2013 gab. Das österlichste an diesem Beitrag ist mithin, dass der Blog damit eine Auferstehung feiert, nachdem er völlig vom ganz normalen 40-Stunden-Job-Alltag verschluckt worden war. Und was soll ich sagen: Es hat mir nicht gut getan. Zu wenig Camus im Leben, das ist so, wie wenn man die besten Freunde zu lange nicht sieht. Man kann sich sicher sein, dass sie einem nicht gleich abhanden kommen (sonst wären es ja nicht die besten Freunde), aber anfangs noch unmerklich, dann immer deutlicher gerät das Seelenleben in eine Schieflage. Da fehlt ein Nährstoff, ohne den es zu Mangelerscheinungen kommen muss. Das Blöde ist: Je mehr etwas fehlt, umso größer wird die Schwierigkeit, die Lücke zu füllen. Man hat zu viel gearbeitet und zu wenig auf sich geachtet, und jetzt bräuchte man eigentlich sechs Wochen Inselurlaub, den es natürlich nicht geben wird. Man hat die vor langem ausgesprochene Essenseinladung nicht eingelöst und glaubt, nun müsse es mindestens ein sternetaugliches Fünf-Gang-Menü werden. Man hat einen Brief zu lange unbeantwortet gelassen und meint, das nur noch mit einem extralangen Brief wieder gut machen zu können, weshalb es noch länger dauert, bis man ihn schreibt oder im schlimmsten Fall gar nicht mehr schreibt. Wie oft bin ich schon in diese selbst gestellte Falle getappt. Ein von Herzen kommender Gruß auf einer Postkarte wären allemal besser gewesen als der nicht mehr geschriebene Brief. Die Freunde wären auch mit einer Schüssel Pellkartoffeln zufrieden gewesen. Und statt damit zu hadern, dass es in meinem Leben gerade keine Freiräume mehr gibt, um mich durch die sich stapelnden Camus-Neuerscheinungen zu arbeiten, hätte ich lieber einfach mal ab und an das Notizbuch mit meinen Lieblingszitaten aufschlagen sollen.

Zu denen gehört zum Beispiel dieses hier:

„Was ich mir jetzt wünsche, ist nicht, glücklich zu sein, sondern nur, bewusst zu sein. Man vermeint, von der Welt getrennt zu sein, aber es genügt, dass ein Olivenbaum im goldenen Staub aufragt, es genügt, dass ein paar Flecken Strand in der Morgensonne aufblitzen, damit man diesen Widerstand in sich dahinschmelzen fühlt. So ergeht es mir. Ich werde mir der Möglichkeiten bewusst, für die ich verantwortlich bin. Jede Minute des Lebens trägt in sich ihren Wert als Wunder und ihr Gesicht ewiger Jugend.“ 

Zugegeben: Olivenbaum und Strand in der Morgensonne erleichtern einem die Sache. Aber ich habe es ausprobiert: Wenn man stattdessen „Kastanienbaum“ oder „Magnolie“ und „Wiese“ oder „Wupperufer“ einsetzt, funktioniert es auch. Eine kleine Auferstehung im Alltag. Probieren Sie es doch mal aus. Frohe Ostern!

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Zitat: Albert Camus, „Tagebücher 1935-1951“. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 12. Eintrag vom Januar 1936.

Verwandte Beiträge: 
Sisyphos trifft Christus auf dem Blumenkübel oder immer nur ein Schritt bis zu Camus

Ich widme diesen Beitrag allen Freunden, die ich schon viel zu lange nicht gesehen habe, und allen Menschen in meinem Leben, deren Briefe schon zu lange unbeantwortet sind, insbesondere meiner Freundin Sabine, die als eine der letzten noch wunderschöne handgeschriebene und mit Malereien geschmückte Briefe verschickt.

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4 Antworten zu Prosaische Gedanken zur ganz alltäglichen Auferstehung

  1. Willy Stucky sagt:

    Anne-Kathrin Reif gesteht im vorliegenden Beitrag freimütig, dass sie, um es pointiert auszudrücken, eher der Not gehorchend als aus spontaner Neigung nach einem Motiv zu Ostern gesucht habe. Dies ist auch nicht weiter erstaunlich, denn „365 Tage Camus“ ist ein sehr ambitiöses Unternehmen.
    Doch für mich war ihre Aufrichtigkeit Anlass, endlich ihr Buch „Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe“ zu lesen. Ich sagte mir, es könnte ja sein, dass sie über Camus gar nicht genug zu sagen hat, um einen derart ehrgeizigen Blog auf die Dauer betreuen zu können.
    Und worauf stiess ich in ihrem vierhundertseitigen Werk? Ich stiess auf eine Fundgrube an Wissen über den grossen französischen Autor. Dabei geht es nicht nur um einen Zitatenschatz, der meines Wissens seinesgleichen sucht, sondern auch um ihren eigenen Text, der in jedem Satz von ihrer ausserordentliche Werktreue zeugt. Da findet sich nichts, was auf wackligen Füssen stünde, weil die Interpretin ihren eigenen Senf wichtiger fände als den Gegenstand ihrer Untersuchungen.
    Natürlich war vieles vorgepfadet. Doch auch in dieser Situation bedarf es der seltenen Gabe, in der Unmenge von Sekundärliteratur die wenigen Volltreffer zu erkennen.
    Ich traue mir dieses Urteil zu, weil ich vor vierzig Jahren den damaligen Stand von Camus‘ Gesamtwerk ziemlich gut kannte. Was ich damals unter anderem nicht kannte, war das Fragment „Der erste Mensch“, weshalb ich ganz besonders gespannt war, was es damit auf sich haben und wie es ins Gesamtwerk eingebettet werden könnte.
    Da sich Anne-Kathrin Reif erst auf den letzten zwanzig Seiten ihrer brillanten Aufzeichnung von Camus‘ „Weg“ explizit zu diesem Fragment äussert, war ich versucht, ihr Buch von hinten zu lesen. Glücklicherweise konnte ich dieser Versuchung widerstehen, denn die vorangehenden drei hundert und achtzig Seiten waren für mich unentbehrlich zum richtigen Verständnis der letzten zwanzig Seiten. Dies mag nach einem Gemeinplatz klingen. Doch leider trifft es zu, dass die meisten Autoren von Sekundärliteratur ausserstande sind, ihr eigenes Werk mit einer inneren Logik aufzubauen, die es verbieten würde, einzelne Teile getrennt vom Ganzen zu lesen: Auch gute Interpreten gehören zu den Schriftstellern. Auch sie schwitzen dann am meisten, wenn von diesem Schweiss beim Lesen ihrer Bücher nichts mehr zu spüren ist.
    Nun bleibt mir nur noch zu danken für Ihr ausserordentlich lesenswertes Buch, Frau Reif!

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Stucky, da ich Sie aus Ihren wenigen Beiträgen hier bereits als außerordentlich kritischen Blogleser kennen- und schätzen gelernt habe, freut mich dieses Lob aus Ihrem Munde natürlich ganz besonders. Herzlichen Dank dafür!

  2. erika sagt:

    zum letzten Satz Deiner „Prosaischen Gedanken…“
    Liebe Anne,
    sicher kann man Oliven durch Kastanien und Strand durch Wupperufer ersetzen, aber was den Prozess des „Dahinschmelzens“ erst in Gang bringt, ist die Morgensonne, die diese Dinge vergoldet und aufblitzen lässt. Hast Du auch dafür einen funktionieren Ersatz? Warten wir also noch ein paar Monate auf unsere kleine Auferstehung…

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Liebe Erika, bei uns scheint gerade die Sonne! Man muss halt den richtigen Moment erwischen, was, zugegeben, in unseren Breiten etwas schwieriger ist…

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