Nationaltheater Mannheim schreibt einen Internationalen Kompositionswettbewerb zu Camus‘ „Der Fremde“ aus

The Stranger – die englischsprachige Ausgabe von „Der Fremde“ als E-Reader-Version auf einer Werbung in der New Yorker U-Bahn. Gesehen und fotografiert von Andreas Arnold (©). Vielen Dank!

Mannheim. Dass ein Opernhaus einen Kompositionsauftrag an zeitgenössische Komponisten vergibt oder einen Wettbewerb dazu ausschreibt, ist an sich ja schon mal ausgesprochen schön. Bei mir ist die Begeisterung natürlich umso größer, als das Thema Camus‘ Roman Der Fremde sein soll.

Die Anerkennung dafür gebührt dem Nationaltheater Mannheim, das jetzt diesen internationalen Wettbewerb ausgeschrieben hat. Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält einen Kompositionsauftrag für eine abendfüllende Kammeroper. „Thema der Oper ist Albert Camus’ Roman »Der Fremde« (1942), der auf Deutsch oder Französisch vertont werden kann. Der Wettbewerb richtet sich an Teams und Einzelpersonen, die Komposition und Textbearbeitung verantworten“, heißt es im Ausschreibungstext, und weiter: „Gesucht werden Konzeptionen, die sich Camus’ Roman auf narrative, philosophische, phantastische oder genreübergreifende Art nähern. Geschrieben als Darstellung des Absurden – ein Algerienfranzose erschießt einen ihm unbekannten Araber am Strand –, bekommt das Buch im Umfeld postkolonialer Debatten neue Bedeutungsschichten. Alle zeitgenössischen Musikstile von Avantgarde bis Pop sind für die Vertonung möglich und erwünscht. (…) Das Stück sollte im Ergebnis mit den Mitteln der Studiobühne eines Stadttheaters aufführbar sein, was zu bestimmten Einschränkungen führt.“ Als Sängerbesetzung sind höchstens vier Sänger*innen gefragt, plus eventuell Sprecher*in, aber kein Chor.

Die Auswahl verläuft in zwei Runden. In der ersten Runde werden Konzepte für die Kammeroper und dazu passende Arbeitsbeispiele verlangt. Aus den Einsendungen werden sechs Bewerberinnen und Bewerber ausgewählt, die für die zweite Runde einen zirka dreiminütigen „Moment“ ihres Stückes komponieren (dafür wird eine Aufwandsentschädigung gezahlt). Diese sechs Stücke werden im Rahmen des Festivals Mannheimer Sommer 2020 vor Jury und Publikum öffentlich präsentiert. Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält den Kompositionsauftrag für eine Kammeroper. Die Uraufführung der Kammeroper ist für den Frühsommer 2022 geplant. Zusätzlich ist ein Publikumspreis vorgesehen, der zu einem Kammermusikauftrag führt.

Einsendeschluss ist der 1. November 2019, mögliche Sprachen für die Bewerbung sind Deutsch und Englisch. Weitere Informationen zu Zeitplan Bewerbungsmaterialien und Vorgaben wie der musikalischen Besetzung:

https://www.nationaltheater-mannheim.de/de/oper/kompositionswettbewerb.php

Zum inhaltlichen Aspekt der Romanvorlage heißt es in der Ausschreibung:

„Albert Camus’ Leben und Arbeit entspringt höchst spannungsvollen Verhältnissen: Als Algerienfranzose aus einfachen Verhältnissen gehörte sein Vater zum Proletariat der imperialen Siedlerschicht. Im vergeblichen Versuch, die Einheimischen für den Kommunismus zu gewinnen, lernte der junge Camus deren Lebensverhältnisse kennen und wurde so zu einem Kämpfer für die Rechte der orientalischen Bevölkerung.
Sein Roman »Der Fremde« beschreibt das ereignislose Leben des Algerienfranzosen Meursault, der an einem Tag am Strand mehr oder weniger grundlos einen Araber erschießt und dafür schließlich wegen Mordes zum Tode verurteilt wird, was er gleichgültig hinnimmt.
Camus’ Roman kann philosophisch, politisch und psychologisch gelesen werden: Er gilt allgemein als Beschreibung des Absurden als philosophisches Grundprinzip unseres Lebens, wurde und wird aber in der arabischen Welt ebenso als Darstellung der reuelosen Gewalt des Kolonialismus gelesen.
Aus dieser Fülle der Möglichkeiten kann das Libretto gestaltet werden, wofür bewusst keine näheren Vorgaben gemacht werden sollen, um die Möglichkeiten musiktheatralen Erzählens zwischen realistischer Narration und postdramatischem Bühnengeschehen nicht einzuschränken.
Musikalisch ist ein genuin musikdramatischer Zugang gewünscht; der szenische Gehalt sollte notwendiger Bestandteil der Musik sein. Stilistisch sind alle Zugänge bis hin zu postmodernen Hybriden zwischen Pop und Collage möglich.“

Nun, die Romanvorlage bietet aus der Fülle der Möglichkeiten natürlich noch weitere Aspekte als die genannten, aber die Aufzählung ist ja vermutlich auch nicht erschöpfend gemeint gewesen. Ein weiterer Aspekt wäre z.B. die Bloßstellung der verlogenen Doppelmoral von Gerichtsbarkeit und Kirche. Oder die Lesart des Romans als faszinierende psychologische Studie eines Mannes, der sich dazu entschieden hat, in aller Konsequenz niemals zu lügen. Oder als die eines Menschen, der jegliche Zukunftsplanung verweigert und ganz der Sinnlichkeit des Augenblicks lebt – gleich ob dies nun das Bad im Meer, den Liebesakt oder die pure Langeweile bedeutet. … Und auch diese Ergänzungen sind gewiss nicht vollständig. An einer Stelle muss ich aber doch vorab widersprechen: Meursault mag in vielem ein Musterbeispiel der Gleichgültigkeit abgeben, gegenüber seiner Verurteilung zum Tode ist er es gewiss nicht: Zunächst hofft er durchaus vehement auf seine Begnadigung – und als ihm diese verweigert wird, macht er sich das Urteil in einem sehr reflektierten Akt radikal zu eigen. Was in der fulminanten Schlusspassage des Romans endet, in der Meursault zum ersten Mal erkennt, dass er glücklich gewesen war und immer noch glücklich ist und sich, „damit sich alles erfüllt“, nur noch eines wünscht: „Am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen.“

Der Fremde ist ein Text, der sich leicht liest, aber nicht leicht erschließt. Es ist ein Text von diamantener Härte, und er funkelt in vielen Facetten. Welche davon die Komponistinnen und Komponisten auf welche Weise zum Klingen bringen, wird auf jeden Fall eine spannende Angelegenheit. 365 Tage Camus bleibt natürlich dran und wird berichten! In diesem Sinne wie immer: à bientôt!

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