„Der Fremde“ – stark verfremdet und doch bei sich

Sonntag, 16. März 2014. Seltsames tut sich an diesem Abend in einem kleinen Jazzkeller-Lokal in der Duisburger Innenstadt, in dem noch der Hauch vieler, vieler verrauchter Abende in der Luft hängt. Während die gut zwei Dutzend Besucher entspannt an kleinen Tischen sitzend ihre Getränke zu sich nehmen, hantieren drei nicht näher identifizierbare Gestalten auf einer kleinen Bühne mit ebenfalls nicht näher identifizierbarem tech-nischen Gerät. Sie fahren Antennen aus und wieder ein, die Antennen schlagen aus. Vielleicht eine Art Geigerzähler? Die Gestalten stecken in weißen Schutzanzügen und Gummistiefeln, Gummihandschuhe und bandagierte Gesichter lassen kaum ein Fleckchen Haut frei. Dann nehmen sie ihre Plätze ein: am Lesepult, an Video-Tisch und am Kontrabass.

Eine der vermummten Gestalten beginnt zu sprechen: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern. Ich weiß es nicht.“ Eine weibliche Stimme, eine junge Stimme. Sie stößt die Sätze schnell und hart hervor. Unter der weißen Bandage steckt offenbar die Schauspielerin Katja Stockhausen, die diese Performance zu Camus‘ Roman Der Fremde im Rahmen der 35. Duisburger Akzente gemeinsam mit Malte Jehmlich (Cartoons und Bühnenbild) und Sojus 9 (Musik) inszeniert hat. Eines hat dieser seltsame Beginn schon mal erreicht: Die Aufmerksamkeit ist geweckt. Man ist gespannt, ob und wie sich wohl noch ein Sinn dieses Settings erschließen wird.

Klar ist auch sofort: Der da spricht ist nicht Meursault, der Ich-Erzähler des Romans (schon, weil es eine Frauenstimme ist). Diese Performance will ganz offenkundig nicht eine Art dramatisierte Bühnenfassung des Romans sein sondern vielmehr eine Atmosphäre kreieren, die einen neuen, weiten Assoziationsraum für den quasi frei darin schwebenden Camus-Text schafft. Und das gelingt über weite Strecken ebenso überraschend wie überzeugend. Katja Stockhausens Stimme ist klar und akzentuiert, man folgt ihr leicht und gern. Passagen schlichten Vorlesens wechseln mit theatralisch gestalteten, in denen Tempo und Lautstärke sich im Zusammenspiel mit dem „Soundtrack“ steigern. Elektronisches Surren, Knarzen und Fiepen begleitet den Textvortrag und schwillt zuweilen schmerzhaft an; die monoton gestrichenen Klänge des Kontrabasses werden eindringlicher, um sich dann in nahezu melodische Passagen aufzulösen. Der bildlichen Ebene ist – durchaus berechtigt – das Bemühen anzusehen, nicht allzu sehr ins Illustrative zu verfallen. Malte Jehmlich, der (vermutlich) in der vermummten Gestalt am Video-Tisch steckt, lässt schlichte Strichzeichnungen entstehen, arrangiert Papierfetzen und kleine Bildelemente, verstreut Asche und Reiskörner und formt daraus etwa Haus, Strand oder Straße. Dabei entstehen im Zusammenspiel mit der Musik ganz hinreißende Momente, die auch über den reinen Text hinausgehen und einen kleinen Film im Kopf in Gang setzten: etwa, wie der alte Salamano seinen Hund beschimpft und dabei an dessen Leine zerrt, und wie der Hund sich sperrt… Dabei ist weder der Alte noch der Hund im Bild zu sehen. Und wirklich beeindruckend ist, mit welch minimalen visuell-akustischen Mitteln es gelingt, die Atmosphäre von Licht und Hitze zu vermitteln; die unterschwellige Aggressivität, das schmerzhafte Stechen der Sonne, die das Messer des Arabers aufblitzen lässt und schließlich zu dem verhängnis-vollen Mord führt.

Um bei der gut einstündigen Performance Zeit für solche atmosphärischen Aus-schmückungen zu gewinnen, musste freilich einiges an Text geopfert werden. Zwar bleibt der Fortgang der Geschichte jederzeit nachvollziehbar, aber für die inhaltliche Tiefe des Textes entscheidende Passagen wie etwa die Szene zwischen Meursault und dem Unter-suchungsrichter im zweiten Teil wurden gestrichen. Dafür gerät die Szene zwischen Meursault und dem Gefängnispfarrer ausgesprochen dicht und intensiv.

Zwei Fragen freilich bleiben für mich am Ende offen. Erstens die, was es denn nun mit dem seltsamen Drumherum auf sich hat. Und ich muss zugeben: Es hat sich mir einfach nicht erschlossen. – Drei Überlebende nach einer Atomkatastrophe oder dem weltweiten Ausbruch des Ebola-Virus finden ein Exemplar von Der Fremde und machen dies zum Gegenstand erster wiedererstehender kultureller Aktivitäten auf verseuchter Erde? Im Ernst – keine Ahnung. „Muss man nicht verstehen, ist eben eine Performance.“ – „Ach, die haben bestimmt kein Geld, und Papieranzüge sind halt billig.“ – „Das soll vielleicht einfach nur irgendwie absurd wirken…“ – „Irgendsoeine Brechung braucht man doch, sonst würde es ja gar nicht weh tun.“ – Soweit einige Stimmen aus der Runde – die mich freilich nicht überzeugt haben.

Genauso wenig erschlossen hat sich mir der inhaltliche Bezug zum diesjährigen Akzente-Motto „Geld oder Leben“. Der von mir bei der Ankündigung dieses Termins vermutete Ansatz, dass Meursault bei dieser Alternative für eine Entscheidung gegen Geld und für das Leben einsteht, wurde jedenfalls nicht verfolgt (die zugehörige Textstelle gestrichen). Zwei, drei Mal wurde das Motto (wie ich finde: eher unmotiviert) zwischen Textpassagen ausgerufen. Zweimal kommt eine Mitarbeiterin zur Bühne und wirft den Akteuren Geld zu. Die bedanken sich artig und fordern zur Nachahmung auf. Einen tieferen Sinn kann ich auch hier nicht entdecken. Mal abgesehen davon, dass eine Performance dieser Art für die Künstler selbst immer schon eine Entscheidung gegen Geld aber dafür für das Leben ist… aber das träfe eben auf unzählige andere auch zu.

Nun denn: Nicht alles an diesem Abend ist gleich stimmig und gelungen, aber unterm Strich steht eine interessante Stunde mit anregenden Eindrücken, für die sich der Weg nach Duisburg gelohnt hat.

* Weitere Vorstellung: Heute, 17. März, 20 Uhr, im Djäzz, Börsenstraße 11, 47051 Duisburg (Innenstadt). Eintritt: 8 Euro. 

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