Paris, 23. August 2014. Das Theater gehört zu Camus wie der Fußball und die Frauen – es ist eine lebenslange Liebe. Schon 1935 hatte er als junger Mann in Algier das Théatre du Travail gegründet (1937 umbenannt in Théâtre de l’Équipe) – und zum Theater wollte er am Ende seines Lebens, von dem er nicht wusste, dass es bald zu Ende sein würde, wieder zurück: 1958/59 plante er die Gründung eines eigenen Theaters. Die Pläne waren schon weit gediehen, doch es fehlte noch am nötigen Geld. Im Theater ist Camus Autor, er adaptiert literarische Texte für die Bühne, er ist Regisseur der eigenen und der Stücke anderer Autoren und steht als Schauspieler auch selbst auf der Bühne. Und er ist selbst leidenschaftlicher Theatergänger. „Er geht sogar ins Grand-Guignol, das drei oder vier kurze Stücke hintereinander gibt, haarsträubende, provokante Burlesken voller Blut und Possen. «Das ist wahres Theater», meint Camus. Das Grand-Guignol oder Édith Piaf sind ihm weit lieber als Boulevardtheater”, schreibt Camus-Biograph Olivier Todd (1). Vermutlich war das Theater einer der Gründe, die ihn zeitlebens an die wenig geliebte Stadt Paris gebunden haben: Nirgendwo sonst in Frankreich gibt es auch nur annähernd eine solche Dichte an Theatern von Rang; hier wurden seine Stücke aufgeführt. Eine Theater-Etappe darf deshalb auf einem Paris-Camus-Spaziergang natürlich nicht fehlen.
Mein erster Weg führt mich (natürlich wieder mit dem velib) ins 8. Arrondissement zum Théâtre des Mathurins (Rue des Mathurins). In dem traditionsreichen, seit 1893 bestehenden Theater spielte man seinerzeit Pirandello, Ibsen, Shaw, Synge, Jean Anouilh… Hier kam 1944 zum ersten Mal ein Theaterstück von Camus zur Aufführung: Das Missverständnis. Die Rolle der Martha spielte eine junge, spanischstämmige Schauspielerin, die kurz nach ihrem Abschluss am Konservatorium 1942 am Théâtre de Mathurins engagiert worden war: Maria Casarès, die Camus‘ zweite Lebensliebe werden sollte. Ebenfalls am Théâtre des Mathurins brachte Camus 1956 seine Adaption von William Faulkners Roman Requiem für eine Nonne heraus. Heute gibt es dort die Einrichtung der jeudis philo (der „philosophischen Donnerstage“), was Camus bestimmt gefallen hätte, zumal in 20 Lektionen die „Philosophie der griechischen Mythen“ behandelt wird. Auch die Folge „Schopenhauer und die Kunst des Glücks“ wäre sicher nach seinem Geschmack gewesen. Mich wundert allerdings, dass man sich nicht auf die eigene Theatergeschichte besonnen und dem Thema „Camus und die Kunst des Glücks“ mindestens eine Folge gewidmet hat… Nun gut. Ich mache ein Foto für den Blog und radele zur nächsten Station: dem Théâtre Hébertot.
Das Théâtre Hébertot liegt im benachbarten 17. Arrondissement, 78, Boulevard des Batignolles. 1945, unmittelbar nach Kriegsende, wurde hier Camus‘ Caligula uraufgeführt – sein erstes Theaterstück, das er in einer ersten Fassung bereits 1939 fertiggestellt hatte und eigentlich schon im von ihm gegründeten Théatre de l’Équipe in Algier hatte aufführen wollen. Die Rolle des Caligula hatte er damals noch selbst übernehmen wollen, aber nach Kriegsausbruch war es nicht mehr zu der geplanten Aufführung gekommen. Bis zur Uraufführung im Théâtre Hébertot hatte Camus das Stück noch zweimal überarbeitet. In der Titelrolle feierte der junge Schauspieler Gérard Philipe seinen Durchbruch zu einer großen Theaterkarriere, die allerdings mit seinem frühen Tod 1959 im Alter von knapp 37 Jahren ein jähes Ende fand. 2014 konnte das Théâtre Hébertot gleich in fünf Kategorien den nationalen Theaterpreis Molière einheimsen, darunter den Ehrenmolière für den Schauspieler Michel Bouquet, der ab 16. September dort wieder in dem Ionesco-Stück Der König stirbt auf der Bühne stehen wird, was ihm bereits 2005 einen Molière als bester Darsteller eingebracht hatte. Damals wie heute also eine gute Adresse. Seinen heutigen Namen erhielt das Theater 1940 unter der Direktion des Dramaturgen und Journalisten Jacques Hébertot, der es bis zu seinem Tod 1970 leitete; die Theatergeschichte geht aber zurück bis ins Jahr 1830, wie man auf der Webseite des Hauses nachlesen kann. Nach Caligula kam auch Camus‘ drittes Theaterstück Die Gerechten 1949 hier zur Uraufführung. In der Rolle der Dora, der einzigen Frau in der Gruppe der Revolutionäre, die ein Attentat auf den Großfürsten planen: Maria Casarès. In Camus‘ Arbeitstagebuch findet sich eine Notiz über den Theaterprinzipal: „Text über Hébertot. In der Tiefe der Grotte ist er der große weiße Pottwal. Er filtert mit seinen Zähnen und lässt nur ein Plankton schmackhafter Autoren bis zu sich gelangen” (2).
Vom Boulevard des Batignolles geht es jetzt noch hinüber zum Boulevard de Strasbourgh im 10. Arrondissement, was von der Streckenführung zwar Unsinn ist, aber biographisch nun mal die letzte Station darstellt, denn im Théâtre Antoine kam am 30. Januar 1959 noch Die Besessenen zur Uraufführung, Camus‘ Bühnenadaption von Dostojewskis Roman Die Dämonen. Mehr als fünf Jahre lang hatte Camus immer wieder an der Stückfassung, seiner sicherlich anspruchsvollsten Bühnenadaption, gearbeitet. Bevor ein Vertrag mit dem Théâtre Antoine zustande kam, hatten zehn andere Theater die Aufführung des Stückes, das in der ersten Fassung noch fünf Stunden Spieldauer aufwies, abgelehnt. Bei der Uraufführung dauerte es schließlich knapp dreieinhalb Stunden plus zwei Pausen. Das Geld für die Finanzierung des Stückes hatte Camus gemeinsam mit der Theateragentin Micheline Rozane selbst aufgetrieben. Die Besessenen gingen im Anschluss mit insgesamt mehr als 600 Vorstellungen auf Tournee, spielen die Kosten aber nicht ein (3).
Nochmal genau hingeschaut liegen die beiden letztgenannten Theaterstationen nicht nur räumlich ziemlich weit auseinander sondern auch zeitlich: Immerhin sind inzwischen zehn Jahre vergangen. Zehn Jahre, in denen sich Camus wohl mehr und mehr aus dem öffentlichen Pariser Leben zurückgezogen hat. Schon nach seinem Rückzug vom Combat (und dessen Auflösung) fehlte es ihm in Paris an menschlicher Nähe und kameradschaftlicher Wärme. Im Dezember 1951 notiert er ins Heft: „Meine Erklärungen im Radio – Wenn ich mich höre, finde ich mich zum Verzweifeln. Paris macht mich so, ungeachtet all meiner Anstrengungen. Zu unablässig allein, seit Combat eingegangen ist, ohne irgendwo sprechen, verteidigen, darlegen, gelegentlich auch rechtfertigen zu können. Nie der Wärme der anderen oder wenigstens dem Schauspiel ihrer Großmut angeschlossen. Mich friert schließlich, und eben daher mein eisiger Ton, zu geringschätzig, um wirklich Geringschätzung auszudrücken, aber unerträglich anzuhören. Wenn ich auch nur eine Sekunde wirklich Vertrauen hätte, könnte ich lachen, und alles wäre in Ordnung” (4). Durch die Fehde mit Sartre und die öffentliche Polemik gegen ihn nach Erscheinen seines L’Homme révolté, die 1952 ihren Höhepunkt erreichte, war er hier endgültig isoliert. Im September 1952 listet er die öffentlichen Angriffe aus Sartres Les Temps Modernes sowie den Zeitschriften Arts, Carrefour und Rivarol auf und konstatiert: „Paris ist ein Dschungel, und seine wilden Tiere sind mies” (5). Ende 1954 ist Camus auf Italienreise. Von Rom aus blickt er voll Bitterkeit auf Paris zurück: „Ich bereue hier die stumpfsinnigen und schwarzen Jahre, die ich in Paris gelebt habe. Es gibt eine Vernunft des Herzens, von der ich nichts mehr wissen will, denn sie dient niemandem und hat mich an den Rand meines eigenen Verderbens gebracht” (6).
Mein Paris-Camus-Spaziergang ist mit dieser letzten Station an seinem Ende angekommen, denn ich muss nun langsam meine Koffer packen. Allerdings finde ich es ja doch ein bisschen schade, dass das unmittelbar bevorstehende Ende meines Paris-Aufenthaltes nun ausgerechnet mit solch trübsinnigen Gedanken von Camus zusammenfallen sollte… Auch wenn ich selbst nach vier Wochen Aufenthalt immer noch (oder erst recht) durchaus gemischte Gefühle gegenüber der „Cité de lumière“ hege, die so anstrengend, abweisend und hart sein kann, so hält sie doch immer wieder auch sehr viel Großartiges und Schönes bereit, und ich habe alles in allem eine wunderbare Zeit hier verbracht. Und so bin ich froh, dass auch die letzte Tagebucheintragung von Camus zu Paris, die ich finde, versöhnlich klingt. Am 27. Oktober 1958 fährt er mit dem Nachtzug von L’Isle-sur-Sorgue aus dem Süden zurück nach Paris und schreibt:
„Zurück nach Paris. In der Nacht die beruhigenden Stimmen, die die Namen der Bahnhöfe ankündigen. Nation. Sich nicht beklagen. Nicht herausstellen, was man ist oder was man tut. Wenn man gibt, bedenken, dass man empfangen hat.” (7)
(1) Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 783. Todd zit. als Quelle Jacque Lemarchand, «Sarah Bernardt», Revue du théâtre de la Ville, Nr. 15, Januar 1972. (2) Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 156. (3) Angaben von Olivier Todd, a.a.O. (4) Albert Camus, Tagebücher 1951-1959, a.a.O., S. 31. (5) a.a.O., S. 71. (6) a.a.O., S. 166. (7) a.a.O., S. 327.
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