Freundlicher Weise hat Frau Redlich unlängst auf ihrem Facebook-Literatur-Blog auf die „365 Tage Camus” hingewiesen. Merci bien! Mit ihrem Bekenntnis, sie habe ihren letzten Camus-Kontakt kurz vor dem Abi im Ethikunterricht gehabt, ist sie vermutlich in guter und zahlreicher Gesellschaft. Nicht umsonst hat Camus, zumal in Frankreich, jahrzehntelang das Etikett vom philosophe pour les classes terminals angehaftet wie Kaugummi unter der Schuhsohle. Das ist an sich schon nicht schön, noch bedauerlicher aber ist es, wenn die Vereinnahmung von Camus als Oberstufenphilosoph dann noch nicht mal was genützt hat und der Versuch, junge Menschen mit Camus zum Denken zu bewegen, gründlich fehlgeschlagen ist. So erging es offenbar einer Kommentatorin des Blog-Eintrags, die (wie mir scheint: ohne Bedauern) berichtet, sie habe es auch nach mehreren Versuchen Jahre später nicht geschafft, „dieses Buch aus dem Ethik-Unterricht” jemals zu Ende zu lesen. Sie erinnere sich nur noch daran, dass es nach gefühlten zehn Seiten unlesbar wurde. Und an die Ratten. Ich schließe daraus, dass es sich bei dem fraglichen Buch aus dem Ethikunterricht um Die Pest handelt.
Zufälliger Weise habe ich erst neulich Die Pest wieder einmal zur Hand genommen. Ich wollte eigentlich nur kurz ein Zitat nachschlagen. Die Sache ging so aus, dass ich erst weiter las als nötig, dann ganz von vorne wieder anfing und zwei Tage lang wenig anderes tat, als Die Pest zu lesen. Zum wievielten Mal kann ich nicht genau sagen. Vier, fünf Mal mögen es sein. Verteilt auf rund drei Jahrzehnte ist das nicht viel. Kurzum: Die Pest ist ein grandioses Buch. Warum ist das so? Um der Frage gerecht zu werden, müsste ich meiner selbst gesetzten Vorgabe, die Texte in diesem Blog nicht allzu lang werden zu lassen, untreu werden. Deshalb nur so viel:
Die Geschichte an sich ist schon eine großartige Konstruktion, denn sie funktioniert gleichermaßen auf drei Ebenen: Erstens als eine ziemlich spannende Geschichte von einer ahnungslosen Stadt, in der mitten im 20. Jahrhundert plötzlich die Pest ausbricht, und davon, was das mit den Menschen macht. Zweitens als Metapher auf den Zweiten Weltkrieg und die Situation Frankreichs unter deutscher Besatzung, bzw. als Metapher auf Diktaturen aller Art. Drittens als großes Lehrstück über die condition humain, denn: „Was heißt das schon, die Pest. Es ist das Leben, sonst nichts” (1). Und ja, auch über die Moral, die sich daraus ziehen lässt. Was vermutlich der Grund dafür ist, ausgerechnet dieses Werk von Camus desinteressierten Halbwüchsigen im Ethik-Unterricht aufzunötigen. Das eigentlich Großartige ist aber: Trotz dieser doppelten und dreifachen Konstruktion liest sich Die Pest an keiner Stelle wie ein bemüht konstruierter, blutleerer philosophischer Roman. Sondern versetzt den Leser umstandslos in aller Anschaulichkeit an Ort und Zeit, packt ihn am Nackenfell und zieht ihn in diese Geschichte hinein.
„Wenn du Philosoph sein willst, schreib Romane”, lautet ein häufig zitiertes Credo von Camus (2). Mit La Peste hat er bewiesen, dass er das ernst meint. Und dass es geht. Ich bin mir sicher, ich werde dieses Buch irgendwann wieder aufschlagen, ich werde vielleicht die ersten drei, vier Seiten überfliegen, und dann wird mein Blick fallen auf den Satz, mit dem der Erzähler seine Chronik der seltsamen Ereignisse beginnt:
„Am Morgen des 16. April trat Dr. Bernard Rieux aus seiner Praxis und stolperte mitten auf dem Treppenabsatz über eine tote Ratte.” (3)
Und ich bin mir auch sicher: Ich werde wieder nicht aufhören können, weiter zu lesen.
Jetzt würde ich gern noch wissen, ob es Euch und Ihnen, liebe Blog-Leser, so gehen würde wie mir oder eher so wie der Gymnasiastin von einst. Finden Sie es heraus! Und berichten Sie mir davon. À demain!
Hallo,
ich bin kein oberstufengeschädigter Nichtphilosoph, dem Anfang der sechziger Jahre die Lektüre aufgenötigt worden ist. Das mag auch daran liegen, dass wir „Der Fremde“ im Französischunterricht gelesen haben. Wir hatten einen alten Französischlehrer, der sich immer auf dem Laufenden hielt und uns die Freude an Camus‘ einfacher, tiefgründiger Sprache vermittelt hat. Dadurch hatten wir wenig Gelegenheit, in philosophische Gefilde abzudriften. Wenn ich mich richtig erinnere kam auch von ihm die Anregung, auch „Die Pest“ zu lesen. Camus hat mich dann vor allem mit diesen beiden Büchern mein Leben lang begleitet immer wieder einmal.
So war ich auch beim Besuch der großen Ausstellung „Pest“ im Archäologischen Landesmuseum in Herne Anfang Dezember 2019 sehr gespannt auf die Darstellung der Epidemie in Kunst und Literatur und habe dort natürlich im 9. Bereich auch Camus‘ Pest gefunden.
Als dann vor zwei Wochen diese Corona – Epidemie zur Pandemie erklärt wurde, habe ich meinen Neudruck von 2010 herausgesucht, den ich seinerzeit im Nachklang von „L’homme révolté“ in Wuppertal erworben hatte. Ich stehe entspechend dem Stand der zurzeit laufenden Epidemie zurzeit noch vor dem Höhepunkt und staune, wie präzise Camus in seiner schönen einfachen Sprache das Geschehen und die ganz unterschiedlichen Reaktionen der Menschen darauf geschildert hat. Der Roman liest sich wie ein Drehbuch einer derartigen Entwicklung, die uns Menschen von heute auf morgen aus seinen gewohnten Bahnen wirft und kaum beherrschbar erscheint und ihn in seiner Existenz infrage stellt.
Mit fast 78 und beachtlichen gesundheitlichen Vorbelastungen gehöre ich zu den besonders gefährdeten Menschen und habe eigentlich keine Angst, weil ich letztlich mit Camus mehr der Solidarität der Mitmenschen vertraue als der Predigt des Paters Paneloup, der doch nur über die Köpfe der Zuhörer hinwegredet.
Wie aktuell Camus auf einmal wieder ist!
Mit besten Grüssen aus Kaarst !
Lieber Herr Silberbach, ganz herzlichen Dank für Ihren Kommentar, dem ich voll und ganz zustimmen kann. Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund! Mit herzlichem Gruß, Anne-Kathrin Reif