Ein Albert-Camus-Abend, der Textpassagen aus seiner Nobelpreisrede, aus dem philosophischen Essay Der Mythos von Sisyphos, dem Theaterstück Caligula, dem Roman Die Pest und dem literarischen Essay Hochzeit in Tipasa miteinander verbindet– und für den man als Zuschauer völlig ohne Vorkenntnisse der Gedankenwelt Camus‘ auskommt. Der außerdem Lebensgeschichten von Geflüchteten thematisiert und die schwierige Situation der zunehmend kriminalisierten Seenotrettung im Mittelmeer. Und der einen dennoch nicht mit gedankenlastiger Schwere niederdrückt, sondern packend und, ja, unterhaltsam und voller witziger Momente ist. Dieses Kunststück gelingt Martin Bretschneider und seinen Mitspielern Aeham Ahmad und Atdhe Ramadani mit dem Stück A Mission for Sisyphos, das am vergangenen Samstag im ostwestfälischen Hövelriege Premiere feierte.
Doch von vorn. Ein Mann dreht mit einem Akkuschrauber Bretter im Bühnenboden fest, Zuschauer vermuten irritiert, das könne ja wohl noch nicht zum Stück gehören. Doch, tut es: In Albert Camus‘ Wohnung sind die Handwerker zugange. Camus (Martin Bretschneider) probt derweil seine Rede zur bevorstehenden Entgegennahme des Literaturnobelpreises. Es will ihm nicht recht gelingen, viel zu sehr hadert er mit dem Preis, er meint, ihn nicht verdient zu haben. Seine Verzweiflung beschreibt er, Ekel in der Stimme, überaus anschaulich: Dass man meine, die Verzweiflung sei eine Krankheit der Seele, doch dass es vielmehr der Körper ist, der leidet: „Meine Haut tut mir weh, meine Brust, meine Glieder. Mein Kopf ist hohl, und mir ist übel. Und das Schrecklichste ist dieser Geschmack im Mund.“ – Bretschneider hat, nur für Eingeweihte kenntlich, Camus die Worte Caligulas in den Mund gelegt. – Nicht ungern lässt sich Camus bei seiner frustrierenden Arbeit an der Nobelpreisrede von einem der Handwerker (Aeham Ahmad) unterbrechen, der fragt, ob er mal auf dem schönen Klavier spielen dürfe – und wird von dessen unerwartet virtuosem Spiel aus seinen trüben Gedanken gerissen.
Der Kollege (Atdhe Ramadani) kommt hinzu – „wir sind dann für heute fertig, Herr Professor“ –, aber Camus lässt die beiden nicht gehen und lädt sie auf ein Bier ein, er will wissen, warum dieser offenkundig begnadete Pianist als Tischler arbeitet, interessiert sich für die beiden. Und die sich wiederum für ihn, vor allem dafür, warum der „Herr Professor“ so unglücklich ist. Was dieser mit einem Exkurs über das Absurde beantwortet. „Klarer Fall von Midlife-Crisis“, diagnostizieren die beiden, womit keinesfalls die Ernsthaftigkeit und Gedankentiefe Camus‘ ins Lächerliche gezogen wird – aber auf höchst erfrischende Weise vom richtigen Leben konterkariert wird. Und während man beim mit witzigen Wendungen gespickten Feierabendbiergespräch der drei gerade noch dachte, das sei ja wohl der unterhaltsamste Camus-Abend, der sich denken ließe, wird man unversehens von den realen Lebensgeschichten dieser beiden gut gelaunten Handwerker kalt erwischt und in eine existenzielle Ernsthaftigkeit geradezu hineinkatapultiert.
Collagehaft werden verschiedene Szenen ganz unterschiedlicher Art zusammengesetzt, finden aber immer einen sinnvollen dramaturgischen Übergang. Etwa wenn Camus, der gerade noch über den Sisyphos theoretisiert hat, sich seines Jacketts entledigt und sich in den antiken Helden im Superman-T-Shirt verwandelt. Da wird Sisyphos lebendig: wie er die Götter überlistet, ihnen entwischt, wie er das Leben „am leuchtenden Meer, auf der lächelnden Erde“ mit einer schwärmerischen Passage aus Hochzeit in Tipasa preist und feiert, wie er sich mit Kriegsgott Ares (großartig: Atdhe Ramadani) anlegt, in dessen Worten man wiederum Caligula wiedererkennt.
Bretschneider gelingt es mit dem von ihm konzipierten Stück, den Tiefenraum zwischen Ernsthaftigkeit und Witz nahezu während des gesamten Abends zu halten und immer wieder neu auszuloten. Einzig eine vielleicht etwas lang geratene Passage mit appellativem Charakter über die Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum und den Umgang der reichen westlichen Länder damit erscheint zunächst als das Spielgeschehen unterbrechender Fremdkörper – fügt sich dann aber doch ein als Brücke zum Camus-Thema der Revolte mit Textpassagen aus der Pest. Vor allem aber macht sie auf eindringliche Weise deutlich, dass wir es beim Eintauchen in die Gedankenwelt von Albert Camus nicht mit zeitlich und thematisch fernen abstrakten philosophischen Diskursen zu tun haben. Sondern dass wir ganz alltäglich und immer wieder neu mit Spielarten des Absurden konfrontiert sind, die uns herausfordern und verlangen, uns dazu zu verhalten.
Beim Premieren-„Heimspiel“ in Hövelriege wurden die Spieler von Seiten des sehr heterogenen und altersgemischten Publikums im an den dortigen Sport- und Jugendclub angegliederten Interkulturellen Zentrum mit lang anhaltenden „standing ovations“ bedacht. Die Anbindung an den SJC mit seiner aktiven interkulturellen Arbeit war für diese Produktion zweifellos ideal. Es ist aber unbedingt zu wünschen, dass A Mission for Sisyphos noch weitere Spielorte finden wird, idealer Weise in Kooperation mit Flüchtlingsinitiativen oder Interkulturzentren und mit Schulen, denn lebendiger kann man (nicht nur) Jugendlichen Camus wohl kaum nahebringen.
Vorerst letzte Gelegenheit, das Stück zu sehen, ist allerdings am morgigen Samstag, 4. Februar, 19.30 Uhr, im SJC Hövelriege, Alte Poststraße 142, 33161 Hövelhof. Tickets per E-Mail über felix@sjcmagazin.de.
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Aeham Ahmad hat über seine Geschichte ein Buch geschrieben:
Und die Vögel werden singen. Ich, der Pianist aus den Trümmern. Verlag S. Fischer 2019, 368 Seiten, TB 13 Euro
(ISBN: 978-3-596-70421-7).