Albert Camus geht in Brasilien über einen Strand – eine Notiz zum „Welttag des Tagebuchs“

Albert Camus war kein Tagebuchschreiber im klassischen Sinne. Seine Carnets sind eine Mischung aus Notizen zu allem, woran er arbeitete, was er las, worüber er nachdachte; passagenweise ganze Textentwürfe, die sich manchmal fast eins zu eins in einem der späteren Werke wiederfinden, Aphorismenhaftes – und eher wenig Privates. An einer Stelle bedauert er sogar, vermehrt Dinge aufschreiben zu müssen, weil er befürchtete, sein Gedächtnis lasse nach. Den „privaten“ Camus lernen wir ganz sicher viel mehr im Briefwechsel mit seiner Geliebten Maria Casarès kennen, der vor kurzem bei Rowohlt in deutscher Übersetzung* erschienen ist, als in den Tagebüchern.

ABER: Heute, am 12. Juni, wird der Welttag des Tagebuchs gefeiert (in Erinnerung an Anne Frank, die an diesem Tag im Jahr 1942 in Amsterdam von ihrem Vater ein Notizbuch geschenkt bekam, und die uns das wohl bis heute berühmteste und berührendste Tagebuch überhaupt hinterlassen hat). Und weil wir hier im Blog gerade so viel über Camus sprechen, aber ihn wenig selbst zu Wort kommen lassen, nehme ich das zum Anlass, einfach mal einen Tagebuchband von Camus aufzuschlagen. Zwischen den vielen Arbeitsnotizen gibt es immer wieder Stellen, in denen Camus plötzlich ganz lebendig wird, nah und greifbar.

Ich habe immer das Meer an den Stränden geliebt. Und dann hat der Kramladen an den menschenleeren Stränden meiner Jugend zu blühen begonnen. Jetzt liebe ich nur noch die Mitte der Meere, dort, wo das Vorhandensein von Ufern unwahrscheinlich erscheint. Aber eines Tages, an den Stränden Brasiliens, habe ich von neuem erkannt, dass es für mich keine größere Freude gibt, als über einen unberührten Sand zu gehen, auf der Suche nach einem tönenden, vom Zischen der Wogen erfüllten Licht.“ **

Ich wünsche allen Blogleserinnen und Camus-Freunden noch ein schönes Wochenende! Gibt es unter euch eigentlich Tagebuchschreiberinnen oder Tagebuchschreiber?

***

**Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 65f. Eintrag ca. 1952.
* Albert Camus – Maria Casarès. Schreib ohne Furcht und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959,
übersetzt von Claudia Steinitz, Andrea Spingler, Tobias Scheffel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.

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4 Antworten zu Albert Camus geht in Brasilien über einen Strand – eine Notiz zum „Welttag des Tagebuchs“

  1. Liebe Anna-Kathrin,
    welch schön ausgewählte Eintragung. Ich habe im letzten Jahr Camus‘ Mittelmeer-Essays wiederholt neu gelesen – „Ich hatte immer das Gefühl auf hohem Meer zu leben, bedroht und im Herzen eines königlichen Glücks“ – und mir darüber den literarischen Philosophen und philosophischen Literaten noch einmal intensiver erschlossen – und dann in einem Essay verarbeitet. Seine Tagebuchbände habe ich noch nicht gelesen, obwohl Tagebücher oft höchst anregende Literatur sein können, ich rechne sie also auch dazu – und vielleicht lasse ich mich nun anregen. Hannah Arendts Denktagebuch, allerdings im Grunde immer nahezu druckreife philosophische Reflexionen, sind da für mich ein herausgehobenes Beispiel. Und selbst Tagebuch zu schreiben ist, denke ich, höchst produktiv. Respekt vor 45 Jahren. Auf die komme ich bei weitem nicht.
    Herzliche Grüße, Helmut

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Helmut, das ist eines meiner liebsten Zitate, weil ich das Gefühl so nachvollziehen kann. Die Lektüre von Camus‘ Tagebüchern kann ich unbedingt empfehlen – ich lese immer wieder darin, man entdeckt immer wieder Neues bzw. Altes neu. Viel Vergnügen und herzliche Grüße, Anne-Kathrin

  2. PIERRE SCHOTT sagt:

    Liebe Anna-Kathrin,
    Ich führe kein Tagebuch, aber bin ein fleißiger Leser dieser Art von Literatur. Letzter Zeit : mehrere Jahre von dem elsässischen Dichter Albert Strickler, „le chantre du journal intime alsacien“ (auch Deutsch-Französisch-Übersetzer und Verleger in seinem eigenen Verlag „Le Tourneciel“) : sein Tagebuch 2020 macht 700 Seiten ! Er lebt in La Vancelle (Wanzel, früher), mit Blick auf die Hoch-Kœnigsburg…
    Schon lange her, schrieb ich die Geschichte einer grossen Teenagers die an Krebs leidet, das Tagebuch seines letzten Jahres : „Que vienne ma nuit – Le Journal d’Aline“… Ja, bin ein großer Fan dieser Art von Schreibensart !

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Pierre, vielen Dank – interessant, dass du das Tagebuch ohne Weiteres als Literatur ansiehst. Bei großen Schriftstellern und Schriftstellerinnen liegt das zwar nahe; bei anderen wohl nicht. Aber vielleicht darf ich mich ja dann auch ein kleines bisschen als Literatin fühlen, denn ich führe seit mehr als 45 Jahren Tagebuch… ;-). Herzliche Grüße, Anne-Kathrin

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