Man stelle sich das vor: Ein kleiner Junge, der in einer Familie aufwächst, in der keiner der Erwachsenen lesen und schreiben kann, entdeckt die Welt der Bücher. Er erlebt, wie seine kleine, enge Welt dadurch weit wird – aber auch, wie ihn genau das von den Menschen, die ihm bislang am nächsten standen, entfremdet. Denn sie können ihm dorthin nicht folgen. Albert Camus beschreibt diese (seine) Erfahrung ausführlich und eindringlich in seinem autobiographischen Roman Der erste Mensch. Er erzählt, wie der kleine Jacques Cormery (er selbst) zusammen mit seinem Freund Pierre die Stadtbibliothek aufsucht und sich seine ersten Bücher ausleiht, wie er es nicht abwarten kann, zu entdecken, welche unbekannte Welt sich ihm dort auftun würde. Schon auf dem Nachhauseweg schlägt er die Bücher auf, atmet ihren Duft ein und betrachtet das abstrakte Bild, mit der sich die Buchstaben zu Worten und die Worte zu nicht aufhören wollenden Zeilen aneinanderreihen.
Auch bei der musikalischen Lesung von Der erste Mensch, mit der der Schauspieler Joachim Król und das orchestre du soleil gerade unterwegs sind, hatten diese und ähnliche Episoden aus Camus‘ Kindheit großes Gewicht. „Sie haben mich an diesem Abend besonders gefesselt“, sagt Sebastian Ybbs, Vorsitzender der Albert Camus-Gesellschaft in Aachen, den ich zufällig bei der Vorstellung in Düsseldorf traf (Beweisfoto mit genretypischen Schnappschussgesichtern links). Ihn haben diese Episoden zum Thema für den nächsten Jour Fixe am 6. Februar in Aachen inspiriert, mit dem zugleich an das Thema des vergangenen Monats angeknüpft werden soll. „Wie sich uns die Welt verschließt – und wieder öffnet“ hieß das Thema im Januar. „Wir hatten ein sehr anregendes Gespräch mit spannenden Gedankengängen und beindruckenden Erlebnisberichten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer“, berichtet Ybbs. Gleich am nächsten Tag habe er aber das Gefühl gehabt, das Thema sei erst angekratzt worden, und man könne die nächsten Gesprächskreise eigentlich sämtlich damit bestreiten. Nun also:
„Wie sich Albert Camus eine Welt öffnete, die seiner Mutter verschlossen blieb“
Zur Anregung hat Ybbs schon einmal zwei Textstellen herausgesucht, die natürlich auch schön sind, wenn man nicht am Dienstag nach Aachen kommen kann.
„Die Bücherei enthielt hauptsächlich Romane, aber viele waren für Jugendliche unter fünfzehn Jahren verboten und standen gesondert. Und die rein intuitive Methode der beiden Kinder stellte keine wirkliche Auswahl dar. Doch der Zufall ist nicht das Schlechteste in Sachen Kultur, und indem sie alles durcheinander verschlangen, führten sich die beiden Gefräßigen gleichzeitig das Beste und das Schlechteste zu Gemüte, ohne sich übrigens darum zu kümmern, etwas zu behalten, und sie behielten tatsächlich auch fast nichts als ein seltsames, mächtiges Gefühl, das im Lauf der Wochen, der Monate und der Jahre in ihnen ein ganzes Universum von Bildern und Erinnerungen entstehen ließ, die nicht zurückführbar waren auf die Realität, in der sie täglich lebten, aber mit Sicherheit nicht weniger präsent für diese leidenschaftlichen Kinder, die ihre Träume genauso ungestüm erlebten wie ihr Leben.“¹
***
«Manchmal kam seine Mutter zu ihm, bevor sie sich in ihre Ecke setzte. „Das ist die Bibliothek“, sagte sie. Sie sprach das Wort, das sie aus dem Mund ihres Sohnes hörte und das ihr nichts sagte, schlecht aus, aber sie erkannte den Einband der Bücher. „Ja“, sagte Jaques, ohne den Kopf zu heben. Catherine Comery beugte sich über seine Schulter. Sie sah das doppelte Rechteck unter dem Licht, die regelmäßige Aufreihung der Zeilen an; auch sie atmete den Geruch ein, und manchmal strich sie mit ihren von der Waschlauge steifen und faltigen Fingern über die Seite, als versuche sie, besser zu erkennen, was ein Buch ist, und diesen mysteriösen, für sie unverständlichen Zeichen näherzukommen … .»²
Zum Gesprächskreis ist übrigens auch willkommen, wer (noch) nicht gut mit dem Werk von Albert Camus vertraut ist.
Termin: Dienstag, 6. Februar, 2o Uhr, im LOGOI, Jakobstr. 25a, Aachen.
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