Neues Jahr, neues Spiel: Das Zufallszitat zum Sonntag – oder Camus geht in die Oper

Vor dem Beginn: Bühne zu „Play* Europereas 1&2“ von John Cage im Opernhaus Wuppertal (Inszenierung: Rimini Protokoll). Was auf den Feldern passiert, wird ausgewürfelt. Foto: Anne-Kathrin Reif

Der Erzähler: Wessen Frau war diese unglückliche Kranke? Stimmte es, dass Dascha entehrt worden war, und wenn ja, von wem? Wer hatte Schatows Frau verführt? Nun, wir werden bald die Antwort erfahren. In diesem Augenblick, als die Spannung in unserer kleinen Stadt derart anwuchs, tauchte eine weitere Person auf, mit einer Fackel, die alles in Brand setzte und alle bloßstellte. Und glauben Sie mir, seine Mitbürger samt und sonders nackt zu sehen ist eine harte Prüfung. Der Sohn des Humanisten also, der Spross des liberalen Stepan Trofimowitsch, nämlich Pjotr Werchowenski, tauchte auf, als man am wenigsten darauf gefasst war.“

Albert Camus, Die Besessenen. In: Sämtliche Dramen. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Erweiterte Neuausgabe, Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 2013, S. 369.

Blog-Leserinnen und Camus-Freunde, die hier schon länger dabei sind, kennen das Spiel bereits: Das Zufallszitat (zum Sonntag). Ich habe es länger nicht gespielt, aber mit dem immer noch recht neuen Jahr schicke ich es in eine neue Runde und hoffe, Sie werden mir folgen. Es gefällt mir nämlich nicht, dass Camus hier im Blog in letzter Zeit gar nicht mehr so oft selbst zu Wort gekommen ist. Es gefällt mir aber auch nicht, Camus stets mit dem Anspruch eines passenden Kommentars zur Lage der Nation, der Welt oder des Zeitgeistes zu bemühen. Deshalb also das Zufallszitat. Die Spielregel habe ich in dieser Neuauflage ein wenig geändert: Nicht mehr das blinde Hineingreifen ins Regal und zufällige Aufschlagen (schließlich habe ich auch blind ein Gefühl dafür, wo welches Buch steht, und die immer wieder gelesenen Bücher neigen dazu, an den selben Stellen aufzuklappen). Stattdessen gibt es jetzt ein echtes Los- (welches Buch) und Würfel-Verfahren (welche Seite). Manchmal wird vielleicht etwas offenkundig Sinnvolles herauskommen, gelegentlich werden wir uns auch einfach nur wundern. Im glücklichsten Fall wird es dann dazu verlocken, den Zusammenhang nachzulesen – mithin noch ein bisschen Camus mehr ins Leben zu holen. Das heutige Zufallszitat spült eine Stelle aus Camus Bühnenbearbeitung von Dostojewskis Roman Die Dämonen herauf, uraufgeführt unter dem Titel Die Besessenen am 30. Januar 1959 am Théâtre Antoine in Paris. Mithin nur ganz knapp nicht auf den Tag genau vor 60 Jahren. „König Zufall“ hat entschieden.

Und ist er nicht der wahre Herrscher in unserem Leben? „Ich kann in dieser Welt alles widerlegen, was mich umgibt, mich vor den Kopf stößt oder begeistert, nur nicht dieses Chaos, diesen König Zufall und diese göttliche Gleichwertigkeit, die aus der Anarchie erwächst. Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über mich hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass ich ihn zunächst unmöglich erkennen kann,“ schreibt Camus im Mythos von Sisyphos (1). Und dass es uns niemals gelingen wird, die vertraute, ruhige Oberfläche der Dinge wieder herzustellen, wenn ihre Einheit durch unser Fragen ein und für allemal in eine Unzahl schillernder Bruchstücke zersprungen ist (2).

So ist es wiederum kein Zufall, dass mich ausgerechnet ein Opernbesuch gestern Abend zur Wiederaufnahme meines Zufallsspiels inspiriert hat. Die Oper Wuppertal hat „Play* Europera 1&2“ von John Cage in einer Inszenierung des Theaterkollektivs Rimini Protokoll herausgebracht. Ein ungeheures Experiment, bei dem 200 Versatzstücke aus der Operliteratur nach dem Zufallsprinzip ausgewürfelt und neu zusammengesetzt werden. Eine Unzahl schillernder musikalischer Bruchstücke, die nicht nur in zeitlicher Abfolge sondern zum Teil parallel, geschichtet, aufeinandergetürmt erklingen. Das Ganze klingt über weite Strecken ungefähr so wie die kurze Phase vor Beginn eines klassischen Konzertes, wenn die Musiker ihre Instrumente stimmen, plus ca. zwei Dutzend Sänger, die sich einsingen. Visuell ergänzt durch eine flimmernde Collage von Videoprojektionen und eine Fülle von seltsamen Figuren und Handlungsfetzen, die losgelöst aus ihrem erzählerischen Zusammenhang vollkommen absurd wirken.

Das Ganze war, nun ja, anstrengend. Jedenfalls nicht das reine Vergnügen, bei dem man sich zurücklehnt und zwei Stunden im Wohlklang badet. Und doch: Bei mir wirkt der Abend länger nach als manches Wohlklangbad. Er hat lauter kleine Widerhaken gesetzt, dieser Opernabend, an denen man allerlei Gedanken aufhängen kann. Darüber, wie wir mit dieser verlorenen Einheit der Dinge umgehen. Wie wir uns bewegen im Spannungsfeld von Zufall und Entscheidung. Über unsere Sehnsucht nach einer zusammenhängenden Erzählung, und über unsere Möglichkeit, selbst widersprüchlichste Bruchstücke wieder zu neuen Erzählungen zusammenzusetzen. Wie uns die Konfrontation mit dem Unerwarteten und zunächst Unangenehmem neue Möglichkeiten, Sichtweisen und Erfahrungen eröffnet. Über den Witz, der in diesem ganzen absurden Spektakel steckt – ob es sich nun um die Oper handelt oder um das Leben.

Möge Euch der Zufall heute nur schöne Dinge bescheren! In diesem Sinne wünsche ich allen Blog-Lesern und Camus-Freundinnen noch einen schönen Sonntag und sage wie immer: à bientôt!

  • Play* Europeras 1&2 von John Cage / Rimini Protokoll in der Oper Wuppertal wieder am 10. Februar, 1. März und 6. April 2019.

(1) Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos.  Deutsche Übersetzung von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S. 47; (2) ebd., S. 21.

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