Kalenderblatt: 9. Mai 1945 – Als die Fontänen der Brunnen sich erhoben

Der Brunnen vor dem Rathaus in Paris schießt seine Fontänen in den Himmel – heute selbstverständlich, vor 70 Jahren ein Zeichen unermesslicher Freude. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Der Brunnen vor dem Rathaus in Paris schießt seine Fontänen in den Himmel – heute selbstverständlich, vor 70 Jahren ein Zeichen unermesslicher Freude. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

„Wer könnte diesem verrückten Tag den Ausdruck verleihen, der ihm gerecht wird? Wie könnte sich inmitten des konfusen und begeisterten Jubels eines ganzen Volkes eine einzelne Stimme erheben, die jenem großen Schrei der Freiheit und des Sieges einen Sinn geben wollte? Vielleicht wird man später, mit dem Abstand der Erinnerung, inmitten der Kanonenschüsse, der Sirenen und des Glockengeläuts, unter den Gesängen, Fahnen, den Rufen und dem Lachen ein besonderes Bild auswählen können, das diesen Augenblick authentisch ausdrücken kann. Heute aber muss man sich einfach gehen lassen und von dieser großen menschlichen Wärme, von diesem immensen, tränenreichen Glück, von diesem Delirium, das ganz Paris erfasst, berichten. Es mag sein, dass der Schmerz immer nur in der Einsamkeit empfunden wird. Aber es ist sicher, dass die Freude immer geteilt wird. Gestern war es die Freude aller. Man muss also im Namen aller sprechen.
(…)
An allen Ecken der Stadt haben sich die Fontänen der Brunnen erhoben, die ganz plötzlich nach all diesen Jahren wieder zu sehen waren und ihr Wasser dem heißen, goldenen Himmel entgegen warfen. Diesen großen Quell der Erleichterung und der Frische spüren wir alle im Grunde unserer Seele. Ihn müssen wir nunmehr in uns bewahren, damit dieser Sieg endgültig wird und zum Wohle aller andauert. Diejenigen unter uns, die noch auf die Ankunft eines Angehörigen warten und um ihn weinen, können nur dann ihren Platz in diesem Sieg einnehmen, wenn er das rechtfertigt, wofür die Abwesenden und Verschollenen gelitten haben. Halten wir sie nahe bei uns, bewahren wir sie vor der endgültigen Einsamkeit, welche ein nutzloses Leiden bedeutet. Dann würden wir an diesem umwälzenden Tage etwas für die Menschheit tun.“ (1)

„Der Text stammt mit gewisser Wahrscheinlichkeit von Camus, weil er den Ton der Leitartikel bei der Befreiung von Paris wiederfindet“, heißt es in einer Anmerkung der Herausgeberin dazu (2). Erschienen ist er am 9. Mai 1945, einen Tag nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland, in der früheren Untergrundzeitung Combat, bei der Camus Chefredakteur war – und aus meiner Sicht steht es außer Frage, dass dies ganz und gar ein Camus-Text ist – es sei denn, jemand hätte seinen unverkennbaren Ton geradezu mimikri-artig adaptiert. Es ist nicht nur die Geschichtsstunde, die sich heute zum 70. Mal jährt, die mich diesen Text am heutigen Tag hat auswählen lassen. Dieser Tag braucht keine Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen, wenn es uns nicht immer wieder neu gelingt, was Camus mit seinen Worten anmahnt: Den Frieden und die Freiheit nicht für selbstverständlich zu nehmen. Die Freude darüber immer wieder neu zu erfrischen. Und jene nicht zu vergessen, die gelitten haben und die Freude nicht mehr teilen dürfen. Erinnern wir uns daran, wann immer wir in Paris oder anderswo die Fontänen in den Himmel schießen sehen. Viel ist es nicht, und dennoch: Vielleicht können auch wir damit an einem ganz normalen Tag etwas für die Menschheit tun.

(1) Albert Camus – Journalist in der Résistance Bd. II. Leitartikel und Artikel in der Untergrund- und Tageszeitung Combat von 1944 bis 1947. Zusammengestellt, herausgegeben und kommentiert von Jacqueline Lévi-Valensi. Aus dem Französischen von Lou Marin. Laika Verlag, Hamburg 2014, S. 65f. (2) a.a.O., S. 67.

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1 Antwort zu Kalenderblatt: 9. Mai 1945 – Als die Fontänen der Brunnen sich erhoben

  1. Willy Stucky sagt:

    Ob der zitierte Text aus der Feder von Camus stammt oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Doch sicher ist, dass er aus dem „ideologischen“ Umfeld von Camus stammt. Insbesondere der Hinweis auf die Opfer der faschistischen Raserei gemahnt stark an Camus, und genau diesen Punkt hebt auch der Kommentar von Anne-Kathrin Reif hervor.
    Mit Blick auf das immense Leid und Opferzahlen, die in der Geschichte einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, ist es denn auch verständlich, dass Camus nach dem Krieg darauf hinzuwirken versuchte, dass der Gordische Knoten, der vor dem Zweiten Weltkrieg und dem darauf folgenden Kalten Krieg zerschlagen worden war, wieder zu knüpfen sei. Doch just dieser zentrale Punkt in Camus‘ Denken scheint einer wachsenden Anzahl von Menschen in zunehmendem Masse zu mühsam. Sie glauben, es sei doch alles klar. Gut und Böse sei doch kein Problem. Wer ihre eigene moralische Überlegenheit nicht sehe, gehöre doch zu den Bösen.
    Dabei vergessen sie, dass sie damit genau die Auffassung vertreten, welche die Nazi-Grössen und deren Frauen vertreten hatten: Der jüdische Kapitalismus und der Bolschewismus seien doch böse, wurde argumentiert, weshalb es dem einzigen mutigen Volk Europas auferlegt sei, diese beiden Übel mit Stumpf und Stiel auszurotten.
    Ich frage mich, ob es uns gelingen wird, den Gordischen Knoten z.B. in Sachen Ostpolitik zu respektieren. Jedes blosse Lippenbekenntnis zu Camus ist Kitsch, ob es nun von Sarkozy stammt oder von einem führenden Mitglied der SPD. Zurzeit ginge es darum, den vermeintlich bösen Gegner Russland ernst zu nehmen und als ebenbürtigen Verhandlungspartner zu akzeptieren. Einzig diese Politik wäre im Sinne Camus‘. Dabei ginge es nicht um eine Neuauflage einer Appeasement-Politik, die vor 76 Jahren tatsächlich als Brandbeschleuniger gewirkt hat, sondern um die Akzeptanz des Gordischen Knotens, der allen echten Beziehungen zwischen Menschen und Nationen inhärent ist.

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