Camus im Kino: „Quand Sisyphe se révolte“

Quand-Sisyphe-se-revolte-Documentaire_portrait_w193h257Paris, 13. August 2014. Überraschung beim Blick in die wöchentliche Pariscope: Unter den beim besten Willen nicht zu zählenden Filmen, die derzeit in den ebenso wenig zu zählenden Kinos der Stadt laufen, findet sich doch tatsächlich auch ein „Camus-Film“, noch dazu einer, über den ich mich besonders freue. Abraham Segal, den Regisseur von Quand Sisyphe se révolte, lernte ich im vergangenen Oktober bei der Premiere von Vivre avec Camus von Joël Calmettes in Aix-en-Provence kennen – aber seinerzeit war noch nicht klar, ob der Film überhaupt einen Verleih finden würde. Umso mehr freut es mich jetzt zu erfahren, dass der Film noch 2013 herausgekommen ist und ich jetzt noch die Gelegenheit bekomme, ihn anzusehen. Klar, dass ich mich auf den Weg ins Programmkino L’Entrepôt im 14. Arrondissement gemacht habe, wo der Film derzeit immer Dienstags um 20 Uhr auf dem Programm steht. Das Kino entpuppt sich als Teil eines Kulturzentrums, das zudem über ein sehr angenehmes im Hof gelegenes Gartenrestaurant verfügt. Mitten in der Woche sind an diesem Sommerabend fast alle Plätze besetzt, wobei sich Touristen gewiss nicht in diese eher etwas abgelegene Ecke von Paris verirren. Wenn das Essen auch noch entsprechend ist, könnte es ein echter Geheimtipp sein – aber das habe ich nicht mehr testen können, schließlich war ich zum Filmgucken da.

Quand Sisyphe se révolte ist kein biographischer Film über Camus, auch wenn man viel über den Menschen Camus darin erfährt. Er verfolgt vielmehr den höchst interessanten Ansatz, einmal das Denken von Camus in den Mittelpunkt zu stellen und dessen Aktualität in der Gegenwart aufzuspüren. Entsprechend heißt der Untertitel auch Albert Camus aujourd’hui (Albert Camus heute).

«Le projet n’était pas de réaliser un documentaire sur la vie d’Albert Camus, mais de tourner un film habité par sa pensée, une pensée qui éclaire ce que nous vivons aujourd’hui.» Abraham Segal

Marion Richez, eine junge Autorin, Philosophie-Doktorandin an der École Normale Supérieur (und in Frankreich bekannt aus etlichen Philosophie-Sendungen auf Arte TV mit dem smarten Philosophen Raphael Enthoven) begibt sich auf Spurensuche. Der Film beginnt in Lourmarin, wo sie Catherine Camus besucht. Die beiden sitzen auf der Terrasse des Camus-Hauses, Blick in die Landschaft – und man versteht sogleich: Das ist ja auch sein Blick, der Blick über die Olivenbäume hinweg zu den Hügeln, zum Schloss hinüber, der Ausblick, den er geliebt hat. Natürlich befragt Marion Richez die Tochter auch über ihre persönlichen Erinnerungen an den Vater – wie könnte es anders sein -, aber sie begnügt sich nicht damit. Spürbar wird vielmehr der Wunsch und das Bemühen, seinem Denken nahezukommen, es nicht nur zu verstehen sondern auch geradezu körperlich zu erspüren, wie es sich heute im Leben, in der Welt, in der Gegenwart manifestiert.

«Ce que je cherche avec Camus c’est de comprendre comment une pensée peut être incarnée, peut être vécue pleinement dans sa chair et dans le monde.» Marion Richez

Das ist der rote Faden des Films, der sich in eigenen Beobachtungen und in einer ganzen Reihe von Begegnungen und Befragungen aufrollt – darunter mit dem Autoren und Weggefährten von Camus Roger Grenier (Jg. 1919), mit Camus-Spezialisten wie Agnès Spiquel und Maurice Weyembergh und mit Jacques Ferrandez (Zeichner der bandes dessinées L’Hôte und L’Étranger). Eine Historikerin, ein Soziologe, ein militanter libertärer Aktivist, Juristen, Philosophen, Journalisten… sie alle haben ihren eigenen Blick auf Camus. Dabei führt die Spurensuche Marion Richez nicht nur in die Provence sondern auch nach Griechenland und natürlich nach Algerien, wo sie u.a. mit dem Schriftsteller Boualem Sansal, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011, spricht. Die Frage, wie Camus in Algerien heute gesehen (oder eben ignoriert) wird, gehörte für mich mit zu den spannendsten Passagen des Films.

Nach und nach setzen sich all diese Teile zu einem immer komplexer werdenden Bild zusammen, das freilich seinem Wesen nach unabgeschlossen bleiben muss – denn es spiegelt nicht nur viele Facetten des Denkens von Camus sondern zeigt auch, wie seine Gedanken immer weiter leben und in neuen Zusammenhängen weiter wirken. Durch den häufigen Szenenwechsel und filmische Brückenschläge zu Problemschauplätzen unserer Zeit ist Abraham Segal mit Quand Sisyphe se révolte ein auch atmosphärisch dichter Film gelungen, was mich angesichts des großen Anteils an Gesprächsszenen positiv überrascht hat. Mindestens ebenso wie ein Film der Worte ist es einer der Bilder. Vor allem aber spürt man ihm die Leidenschaft für die Sache an, die Ernsthaftigkeit, den Wunsch, dem gerecht zu werden, was den Denker und den Menschen Albert Camus ausmachte.

Abraham Segal hat drei Jahre lang dieses Filmprojekt verfolgt – ohne Sicherheiten, ohne Zusage eines Verleihs oder einer Fernsehanstalt. Bleibt zu wünschen, dass der Film es doch auch noch ins deutsch-französische Fernsehprogramm schaffen oder zumindest als DVD erhältlich sein wird.

Ein ausführliches Dossier zum Film (naturgemäß in französischer Sprache) mit  Zitaten, Bildern und einer Auflistung aller Interviewpartner findet sich hier. Dem sind auch die obigen Zitate entnommen. Einen kurzen Trailer kann man hier anschauen.

Dieser Beitrag wurde unter Bühne/ Film/ Fernsehen, Kritiken von Anne-Kathrin Reif abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.