Bei Camus in der Rue Madame

Rue Madame – in diese Straße, Nr. 29, zog Camus 1950 mit seiner Familie. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif

Paris, 10. August 2014. Ich sollte vielleicht einfach mal öfter den Stadtplan studieren… Dann hätte ich auch früher bemerkt, dass ich mich schon die ganze Zeit hier einen großen Teil des Tages ganz in der Nähe von Camus‘ letzter Wohnung in Paris aufhalte. Von der Alliance Franςais am Boulevard Raspail aus, wohin ich brav jeden Tag zum Unterricht fahre, sind es nur ein paar hundert Meter bis zur Rue Madame. Hierhin war Camus 1950 mit Francine und den beiden Kindern Jean und Catherine gezogen. Ich weiß natürlich nicht, wie es damals aussah, aber heute ist die Nummer 29 ein schmuckes und freundlich dreinschauendes Gebäude. Auch die Gegend ist mehr als passabel, Zentrumslage, nicht zu laut, fußläufig zum Boulevard Montparnasse mit seinen Lokalen wie La Coupole, La Rotonde oder La Closerie des Lilas, wo man damals die Kollegen Denker, Schriftsteller oder die Surrealisten-Clique treffen konnte (wenn man wollte); genauso nah nach Saint Germain, für weitere Strecken die Métro-Station Rennes um die Ecke… Und auch nicht weit bis zum Jardin du Luxembourg… Ob er wenigstens hin und wieder dort mit den Kindern spazieren gegangen ist?

klingel-neuIch denke schon. Das eine inzwischen alt gewordene Kind, Jean, wohnt noch immer dort – und so steht auch ganz selbstverständlich der Name Camus auf dem Klingelschild, das glücklicherweise noch nicht durch die hier üblichen  Türöffner mit Zahlencodes ersetzt wurde, bei denen man nie weiß, wie man sich als Besucher bemerkbar machen soll. Natürlich komme ich nicht auf die Idee, einfach mal bei Camus auf den Klingelknopf zu drücken (und sonst hoffentlich auch niemand). Jean Camus lebe sehr zurückgezogen, berichtet Iris Radisch, die ihn für ihre Camus-Biographie dort aufgesucht hat, und dass es in der Wohnung noch genauso aussähe wie zu Lebzeiten von Camus – mit seinen Möbeln, seinen Büchern und dem Flügel von Francine. Dunkel sei die Wohnung, Nordseite, berichtet Radisch und fragt bissig, was den sonnenliebenden Camus dazu getrieben habe, ausgerechnet diese Wohnung zu mieten –  „Abstellkammer für Frau und Kinder?” (1). Natürlich weiß ich es ebenso wenig wie sie, aber ich kann mir doch sehr gut vorstellen, dass er es 1950 schlicht als Glücksfall empfunden hat, überhaupt eine dermaßen gut gelegene und offenbar auch bezahlbare Wohnung in angenehmer Gegend für sich und die Familie gefunden zu haben, Nordseite hin oder her. Als ob man es sich in dieser Stadt wohl aussuchen könnte, ob man nicht lieber in einer lichtdurchfluteten Fünf-Zimmer-Wohnung mit Blick auf den Park wohnen wollte…

Ich bin dann noch ein bisschen mit Camus durch sein Viertel gestreift, und er hat mir gezeigt, wie viel davon noch übrig geblieben ist. Das Blumengeschäft gab es schon, den Uhrmacher und das Uhrengeschäft, das Bücher-Antiquariat, das Café-Tabac an der Ecke wahrscheinlich auch; die Métro-Station sah damals genauso aus, die meisten Häuser sowieso… Als er meinen staunenden Blick bemerkt, lacht er mich herzlich aus: „Aber das ist doch hier fast überall so!“

Impressionen aus Camus‘ Viertel in und um die Rue Madame: Uhrmacher- und Blumengeschäft, Buchantiquariat, Brasserie-Café-Tabac, Eingang zur Métro-Station Rennes und Rue de Rennes. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif

Es stimmt ja: Fast alles, was groß, bedeutend und schön ist in dieser Stadt, war zu seiner Zeit auch schon da (einiges von dem Hässlichen auch). Und eigentlich ist es ganz überflüssig, hier nach Camus-Spuren von der Art „hier war er, und das hat er da gemacht“ zu suchen – weil es nämlich auf so ziemlich alles hier passen könnte. Dafür, dass das im Grunde eine sehr wenig originelle Erkenntnis ist, hatte sie doch einen verblüffenden Effekt auf mich: Mit einem Schlag ist mir diese Stadt, die es einem wirklich nicht leicht macht, ein kleines bisschen weniger fremd geworden.

(1) Iris Radisch, Albert Camus – Das Ideal der Einfachheit, Rowohlt, Reinbek 2013, Seitenangabe wird nachgeliefert.
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6 Antworten zu Bei Camus in der Rue Madame

  1. Hans-Jürgen Mahnkopf sagt:

    Hallo Frau Reif,

    wir lesen immer mit Genuss Ihre klugen und schönen Gedanken.

    Wir waren selbst gerade wieder in der Provence und selbstverständlich auch wieder am Grab von A.C. (im Frühjahr auch in Paris in der Rue Madame).
    Es ist im Übrigen erstaunlich, welche Auswahl an Büchern von und über C. die Buchhandlung in Lourmarin hat.

    Demnächst sind wir (als Mitglieder der deutschen A,-C.-Gesellschaft) auch in Aachen zu der großen A.-C.-Veranstaltung.

    Eine Frage:
    Ihr Buch „Albert Camus. Vom Absurden zur Liebe “ ist so nicht erhältlich (auch nicht bei Amazon oder Ebay).
    Wissen Sie, von wem wir dieses Buch noch käuflich erwerben können? Selbstverständlich würden vorher die entsprechenden Kosten überwiesen.

    Mit den besten Grüßen
    Hans-Jürgen Mahnkopf

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Mahnkopf, herzlichen Dank für Ihre Nachricht. Dass es so schwierig ist, mein durchaus lieferbares Buch zu bekommen, macht mich immer wieder ein bisschen unglücklich… Aber es ist halt ein sehr kleiner Verlag, der sich (mal abgesehen von der generellen Kritik an Amazon) die Konditionen dort nicht leisten kann. Dass es bei Ebay nicht zu bekommen ist, freut mich eher: Das bedeutet schließlich, dass die bisherigen Käufer es einstweilen lieber behalten möchten… Jedenfalls: Sie können das Buch problemlos hier über den Blog bestellen. Der Button oben führt direkt zum Bestell-Link. Die beiliegende Rechnung zahlen Sie dann nach Erhalt. Mit herzlichem Gruß, Anne-Kathrin Reif

  2. joachim Umlauf sagt:

    schöner Kommentar – ich war, als ich in den 90er Jahren im Viertel gearbeitet habe, öfter dort, auch bei der großen Michelle Perrault, Frauenforscherin, die in der rue Madame wohnt(e?),
    Herzlich
    Joachim

  3. claudie menini sagt:

    Bonsoir Madame Reif,
    Ich lese immer sehr gerne Ihre Artikel und „félicitations“!
    Eine kleine Bemerkung über das Bild von den Klingeln. Ich glaube nicht, dass die andere Bewohner des „Camus Hauses“ sich freuen würden, wenn sie erfahren sollten, dass ihre Familiennamen einfach in der Offentlichkeit stehen !! Ich finde es etwas rücksichtlos, ausser diese Familien haben es genehmigt, was ich nicht glaube. Ich wohne auch in Lourmarin und wenn ich sehe wie Catherine Camus so sehr auf Diskrezion steht, hat es mich deswegen gestört!
    Ich kann verstehen, wie Sie aus lauter Begeisterung über dieses Haus und diese rue Madame berichtet haben und diese schöne Bilder beigefügt haben. Daher möchte ich sagen, dass meine spontane Bemerkung doch nicht so ernst zu nehmen sei!
    Encore toutes mes félicitations pour votre blog vivant et toujours très bien documenté. A bientôt peut-être à Lourmarin.
    Cordialement.
    C.Menini

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Sehr geehrte Madame Menini, herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Es freut mich, dass der Blog auch im „Camus-Ort“ Lourmarin gelesen wird! Für Ihren Einwand habe ich Verständnis – auch wenn sich Klingelschilder ja ohnehin schon „in der Öffentlichkeit“ befinden, und nicht erst durch einen Beitrag im Blog. Da ich aber niemandem zu nahe treten möchte, habe ich das Foto inzwischen entsprechend bearbeitet. Bien cordialement, Anne-Kathrin Reif

      • claudie menini sagt:

        Chère Madame Reif,
        Ich danke ganz herzlich für Ihre Antwort, und ich gratuliere nochmal für diese immer interessante Seiten.
        Viele sonnige Grüsse aus Lourmarin !
        C.Menini

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