…oder: Wie Camus und ich in Lyon Guignol, den kleinen Prinzen und den Freund René Leynaud treffen
Lyon. Frankreichurlaub, das heißt bei mir ja quasi automatisch „Ausschauen nach Camus-Spuren“, da kann ich gar nichts gegen machen. Allerdings: Hier beim Osterurlaub in Lyon fällt mir auf, dass ich das wohl besser hätte vorbereiten müssen. Wo genau liegen die Verbindungsspuren zu Camus in dieser Stadt? Mehr als die Tatsache, dass Albert Camus und Francine Faure 1940 ausgerechnet hier geheiratet haben, fällt mir dazu spontan jedenfalls nicht ein. Also lasse ich mich einfach treiben durch diese Stadt, in der es so viel zu entdecken gibt: Da ist natürlich zunächst die historische Altstadt um St. Jean mit ihren mittelalterlichen (und natürlich wie überall auf der Welt touristisch überlaufenen) engen Gassen und den berühmten (aber schwer zu findenden) Traboules – jene engen Häuserpassagen, durch die die Seidenweber einst auf kurzen Wegen ihre Tuchballen transportieren konnten, ohne dass sie nass wurden. Die versteckten Gänge aufzuspüren steht wohl bei jedem Lyon-Besucher auf der Liste. – „Und das war zu Camus’ Zeit sicherlich auch nicht anders“, fällt mir da auf – und bin doch schon wieder auf der Camus-Spur…
Vielleicht sind Albert und Francine ja nach der Eheschließung im prächtigen Hôtel de Ville noch durch die Altstadt gebummelt. Pascal Pia, Camus’ Freund und Redaktionssekretär bei Paris Soir, wie viele Zeitungen aus dem besetzten Paris nach Lyon übersiedelt, kannte sich aus und hat den Freunden vielleicht die versteckten Traboules gezeigt. Anschließend könnten sie in einem der typischen Bouchons gegessen haben. Die Altstadt ist voll von diesen traditionellen kleinen, oftmals mit rotweiß gewürfelten Tischdecken ausgestatteten Lokalen, in denen lyoner Hausmannskost serviert wird. Ich entscheide mich für die berühmten Quenelles de brochet, Hechtklöße, während der Mann an meiner Seite unerschrocken andouillettes, Kuttelwurst, mit Senfsoße ordert. „Ganz köstlich“, befindet er. Was ich nicht bestätigen kann, da ich den Geschmackstest verweigere. Fest steht nur, dass ich jedenfalls meine Wahl nicht bereue, und dass diese Spezialitäten auch schon auf der Speisekarte gestanden haben dürften, als Camus dort gegessen hat – und irgendwo wird er ja wohl was gegessen haben, trotz chronisch knappen Budgets.
Nicht nur die rotweißkarierten Tischdecken und allerlei Durcheinander an Töpfen und Tiegeln scheinen zur Standardausstattung der Bouchons zu gehören – auf Fensterscheiben, Speisekarten oder Wandmalereien (und auch sonst an diversen Stellen in der Stadt) entdecke ich immer wieder einen kleinen Gesellen, von dem man weiß, dass ihn auch Camus sehr gemocht hat: Das ist Guignol, der französische Kasper. Ich erinnere mich daran, dass Camus-Biograf Olivier Todd von der Vorliebe Camus’ für das Kaspertheater berichtet, vielleicht finde ich das zuhause wieder und kann die Quelle nachliefern. Jedenfalls wurde Guignol sozusagen in Lyon geboren, denn hier hat ihn ein gewisser Laurent Mourguet zwischen 1804 und 1808 erschaffen. Mourguet, selbst 1769 in Lyon geboren, stammte (wie auf Wikipedia nachzulesen) aus einer Familie von canuts, den Seidenwebern von Lyon, praktizierte aber ab dem Jahr 1797 als Zähneausreißer wie damals üblich auf Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen und lenkte seine Patienten mit Puppenspiel vom Schmerz der rustikalen Behandlung ab. 1804 gab er diesen Beruf auf und wandte sich ganz dem Puppenspiel zu. Die von ihm mit zehn Kindern begründete Mourguet-Dynastie führte die Guignol-Tradition bis in die 2000er-Jahre fort. Ach, ich liebe solche Ausflüge in die Kulturgeschichte! Besonders, wenn sie auf meine alte Liebe, das Puppen- und Marionettentheater treffen.
Übrigens gibt es auch heute noch ein städtisches Guignol-Theater, das ich allerdings nicht aufgesucht habe. Dafür aber das in der Altstadt gelegene Musée des marionettes, wo ich einem Nachfahren von Guignol persönlich begegnet bin, wie man im Bild sieht. Das ganz zauberhafte Museum führt durch die Geschichte und Kulturen des Puppenspiels bis in die heutige Tage. Zudem ein echter Geheimtipp: In der 4. Etage gibt es ein sehr nettes Café, von dem aus man auf einen großzügigen Dachgarten gelangt, wo sogar Klappliegestühle für die Besucher bereitstehen. Bei schönstem Frühsommerwetter eine willkommene Ruhepause!
Als Nippesfigur, auf Taschen, Tassen und Postkarten hat aber heute ein anderer dem Guignol den Rang abgelaufen: Das ist Antoine de Saint-Exupérys „Kleiner Prinz“. Über die Verbindung zwischen Camus und „Saint-Ex“ habe ich hier im Blog schon einmal geschrieben– zufälliger Weise ebenfalls auf einem assoziativen Osterspaziergang, damals in Baden-Baden. Dem „petit prince“ ist Camus bei seinem Aufenthalt 1940 hier zwar sicher nicht begegnet, denn das Buch erschien erst 1943 (und die Vermarktung dürfte sowieso erst sehr viel später mit dessen Welterfolg eingesetzt haben). Aber Camus war ja sicher auch nach 1940 noch gelegentlich in Lyon, als er mehrere Monate im nicht allzuweit entfernten Le-Chambon-sur-lignon verbrachte und an La peste schrieb. Und als Fliegerlegende, Journalist (u.a. für Paris Soir) und erfolgreichem Autor (Vol de nuit, „Nachtflug“ war 1930 bei Gallimard erschienen) war der 1900 in Lyon geborene Saint-Exupéry ihm sowieso zweifellos schon früh bekannt. Heute erinnert eine moderne Statue am Rande des riesigen, zentralen Place Bellecourt an den Flieger-Schriftsteller und sein berühmtes Geschöpf. Ganz in der Nähe der ehemaligen Wohnung des Autors an der 1, Place Bellecourt sitzen die beiden hoch oben auf einer weißen Marmorsäule, auf der Zitate des kleinen Prinzen zu lesen sind. Und natürlich sind die beiden auch auf den großen Wandmalereien zu finden, die man heute über ganz Lyon verteilt entdecken kann. Auf einer der bekanntesten, der Fresque des Lyonnais mit vielen berühmten Lyoner Persönlichkeiten, sind Guignol und Le petit prince mit ihren „Vätern“ sogar Balkonnachbarn.
Die 1978 in Lyon entstandene Künstlergruppe Cité Creation hat mit diesen Wandmalereien viele triste Häuserwände und damit ganze Stadtviertel aufgewertet. Die mur des canuts, die Wand der Seidenweber, ist mit über 1200 Quadratmetern sogar die größte Wandmalerei Europas. Ich hätte mir gerne die sehr verstreut gelegenen Malereien auf einer Tour angesehen, musste aber auf Nachfrage bei der Touristeninformation überrascht feststellen, dass es ein solches zweifellos attraktives touristisches Angebot gar nicht gibt.
Nicht nur auf Hauswänden, auch auf Mauern gibt es großflächige, einem bestimmten Thema gewidmete Malereien – so die fresque de Montluc in der Nähe des Gefängnisses Montluc, die Jean Moulin gewidmet ist, dem Helden der Résistance. Dafür mache ich auf dem Rückweg von einem kulinarischen Ausflug zu Les Halles Bocuses stadteinwärts eigens einen Umweg zu Fuß, denn schließlich tut sich mit dem Thema Résistance eine weitere Camus-Verbindung auf. Auch eine mur de la résistance muss es ganz in der Nähe geben, aber der Fußweg durch das ausgesprochen öde Stadtviertel zieht sich so in die Länge, dass ich die Suche aufgebe. Außerdem kann ich ad hoc hier gar keine gesicherten Details zum Thema Résistance-Lyon-Camus widergeben und beschließe, das zuhause nachzuholen.
Nach dem Eindruck dieser wirklich uncharmanten Gegend mit vielen modernen Bürohäusern, breiten Straßen, großen Kreuzungen und viel Ödnis tut es gut, auf den Hügel Croix Rousse hinaufzufahren. Oben zieht sich ein ausgedehnter Markt den Boulevard entlang, und das aus nur drei Zimmerchen bestehende Musée des canuts gibt einen Einblick in die Tradition der Seidenweberei und Seidenraupenzucht (leider ohne Seidenraupen). Ein Weg führt über ein Plateau, von dem aus man einen phantastischen Blick über die Stadt hat, durch das Viertel Croix Rousse hinab, es gibt kleine Läden, Cafés und Ateliers. Gewohnheitsmäßig schaue ich vor einer Buchhandlung in die Kästen mit gebrauchten Büchern und fische eine ältere Ausgabe von Camus’ La Chute heraus. Da der Platz zuhause einfach nicht reicht, habe ich aufgehört, alle Fundstücke mitzunehmen und sammle nur noch mit dem Fotoapparat. Während ich also diese Trouvaille dokumentiere, fragt mich ein lässig ans Auto gelehnter junger Mann, was ich da tue und warum… und gibt sich nach meiner Erklärung als Besitzer der Buchhandlung zu erkennen. Obwohl er verstanden hat, dass ich nichts kaufen will, klettert er sogleich auf der Suche nach weiteren Camus-Exemplaren die Bücherleiter im Laden hoch. Leider findet er nur noch eine ganz gewöhnliche Gallimard-Ausgabe von Le Premier homme – aber eine schöne, freundliche Begegnung am Rande ist ja auch ein schöner Fund, den man als Erinnerung mit nach Hause tragen kann.
Nur wenige Schritte später, als ich gar nicht mehr mit weiteren Camus-Spuren in Lyon rechne, tut sich unverhofft doch noch einmal ein ganzes großes Camus-Thema auf: Die Straße, in die ich gerade einbiege, heißt Rue René Leynaud: Benannt nach dem Dichter und Résistance-Aktivisten René Leynaud, der 1910 in Lyon geboren wurde und 1944 von der Gestapo erschossen wurde. Er war Camus ein teurer Freund, ihm widmete er die Briefe an einen deutschen Freund, stand mit ihm im Briefwechsel, verfasste einen bewegenden Nachruf nach dessen Tod und schrieb ein Vorwort zu Leynauds posthum herausgegebenen Gedichten. Auch das ein Thema, dem ich mich gerne noch einmal intensiver widmen möchte, und das ich als Anregung mit nach Hause nehme.
Dass René Leynaud 1910 in Lyon geboren wurde, hatte ich natürlich nicht im Kopf. Ich habe es bei Wikipedia nachgesehen und dabei erfahren, dass ich an dieser Stelle Camus noch viel näher war, als ich in dem Moment gedacht hatte: Camus übernachtete oftmals bei Leynaud in seinem Zimmer in der Straße Vieille Monnaie auf dem Hügel La Croix Rousse, steht dort zu lesen, und dazu ein Auszug aus seinem Vorwort zu den Gedichten Leynauds:
„Im Jahr 1943, wenn ich nach Lyon kam, habe ich oft bei ihm in der Straße Vieille Monnaie in seinem kleinen Zimmer übernachtet, das seine Freunde gut kannten. Leynaud war zuvorkommend, ohne sich zu brüsten, dann holte er Zigaretten aus einem Sandsteintopf hervor und teilte sie mit mir. In meiner Erinnerung sind diese Stunden die der Freundschaft geblieben. Leynaud, der anderswo schlief, verweilte bis zur Ausgangssperre bei mir. Um uns herum richtete sich die schwere Stille der Besatzungsnächte ein. Diese große und düstere Stadt des Komplotts, die Lyon zu der Zeit war, leerte sich nach und nach. Aber wir sprachen nicht vom Komplott. Übrigens sprach Leynaud, wenn es nicht unbedingt notwendig war, nie davon. Wir tauschten Neuigkeiten von unseren Freunden miteinander aus. Wir sprachen einige Male über Literatur. Aber zu dieser Zeit schrieb er nichts. Er hatte beschlossen, dass er nachher arbeiten würde […] Für Leynaud war alles einfach, er würde sein Leben wieder dort aufnehmen, wo er es liegen gelassen hatte, weil er sein Leben gut fand. Schließlich musste er einen Sohn groß ziehen. Und Leynaud, der selten aus sich herausging, genügte der Name seines Sohnes, um seine Augen zum Leuchten zu bringen.“
(Vorwort zu den Poésies posthumes von René Leynaud, 1947).
Die Stadtverwaltung von Lyon beschloss bereits am 9. Juli 1945 zu Ehren René Leynauds die rue Vieille Monnaie in rue René Leynaud umzubenennen.
Eine „große und düstere Stadt“ ist Lyon heute längst nicht mehr. Im Gegenteil: Sie ist an diesen Ostertagen leuchtend hell und frühsommerlich südlich-warm, pittoresk und großstädtisch zugleich und voll von Kultur. Neben dem historischen Lyon sind nicht nur öde moderne Büroviertel entstanden, sondern auch das Viertel Confluence am Zusammenfluss von Rhône und Saône mit außergewöhnlicher moderner Architektur und dem Musée des Confluences, das jetzt auf meinen Besuch wartet. Aber da, so viel steht fest, war Camus ganz bestimmt nicht.
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