Zu Besuch in einer buntscheckigen Stadt

Blick auf den alten Hafen von Marseille mit seinen hunderten von Segelbooten. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Blick auf den alten Hafen von Marseille mit seinen hunderten von Segelbooten. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

„Die Liebenden von Marseille. Unter dem schönen Himmel, das saftige Meer, die gellende und buntscheckige Stadt, ihr immer neues Verlangen, das anfänglich übersättigt und schließlich in einer unablässigen Trunkenheit endet… Nur die kleinen Buchten, die weißen Steine und das von Licht verengte Meer sind keusch” (1).

 

Marseille. Auch wenn hier vielleicht keine unmittelbaren „Spuren von Camus“ zu finden sind – nach einer Verbindung Camus-Marseille braucht man natürlich nicht lange suchen. Hier kam Camus an, als er sich 1937 zum ersten Mal von Algier aus mit dem Schiff auf Europareise begab; von hier aus schiffte er sich ein, wenn er später seine Heimat besuchte. 

Die zweite Station unserer Reise liegt schon einige Tage zurück, aber vor Ort gab es schließlich viel zu viel zu entdecken, als dass Zeit (und Lust) geblieben wäre, auch sogleich darüber zu berichten. In dieser großartigen, so ganz und gar mediterranen Stadt muss man sich einfach treiben lassen. Was für eine quirlige und dabei dennoch entspannte Stadt habe ich dabei entdecken können, offen und freundlich und sehr, sehr weit weg von dem düsteren Bild, das immer noch in einigen (meist älteren) Köpfen herumgeistert. Dunkle Gassen! Lauter Gesindel! Haltet bloß die Taschen fest! Selten gab es weniger Grund zur Besorgnis als hier, egal ob beim Bummel durchs elegante Geschäftsviertel oder durch die engen Gassen des Altstadtviertels Le Panier.

Postkartenansichten aus dem Marseille der 1950er Jahre. Foto: akr

Postkartenansichten aus dem Marseille der
1950er Jahre. Foto: akr

Wie mag es zu Camus‘ Zeiten hier ausgesehen haben? Die Postkarten mit alten Fotografien aus den 1950er Jahren, die ich in einem kleinen Schreibwarenladen entdeckte, geben vielleicht eine Vorstellung davon. Ein wenig mehr Grau, mehr Alltag, weniger schicke Segeljachten im alten Hafen und ganz sicher weniger Touristen mit allem was an Bistros, Restaurants und Läden dazugehört, soviel ist klar. Von dem tristen Vorstadtgürtel mit seinen Wohnsilos jetzt mal ganz abgesehen.

Aber schon 1959 nennt Camus in seiner kleinen Notiz Marseille eine „buntscheckige Stadt“, und das trifft es an vielen Stellen auch heute noch. Ganz besonders im Viertel rund um den Cours Julien, quasi das Kreuzberg von Marseille, das mir besonders gut gefallen hat. Man erreicht das oberhalb des schickeren Zentrums gelegene Viertel mit der Straßenbahn oder über steile Gassen und Treppen hinauf. Hier kann man auf wenigen hundert Metern zumindest kulinarisch gesehen eine ganze Weltreise zurücklegen, die kleinen Bistros tragen so fantasievolle Namen wie „Les pieds dans le plat“ oder „Le chat perdu“, aus kleinen Läden wehen orientalische Düfte auf die Straße und die Gesichter der Menschen, scheint mir, sind noch vielgestaltiger, die Palette der Hautfarben noch reichhaltiger als in den anderen Vierteln der Stadt. Auch die Dichte an kleinen Ateliers und Werkstätten, in denen Bilder, Skulpturen, Kleider aus afrikanischen Stoffen, Perlenschmuck oder handgetöpferte Keramik verkauft werden ist noch höher als im Panier-Viertel, und man fragt sich unwillkürlich, wie all die kreativen Menschen damit überleben können. Kaum eine Hauswand, kaum ein Garagentor ohne Graffiti auf der ganzen Skala von Schmiererei bis ernst zu nehmender, origineller Street-Art; sogar die Straßenpöller haben hier Gesichter. Und hier, in diesem wahrlich buntscheckigen Viertel, entdecke ich dann tatsächlich auch Camus: in Form einer Theaterankündigung, friedlich vereint mit Freund-Feind Sartre. Voilà!

(1) Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 337 . Eintrag vom Mai 1959.

 

 

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1 Antwort zu Zu Besuch in einer buntscheckigen Stadt

  1. meikemeilen sagt:

    Liebe Anne,
    über Deinen Artikel habe ich mich sehr gefreut! Ich war auch gerade in Marseille und es hat mir so gut gefallen dort, insbesondere in dem Viertel rund um den Cours Julien. Das ist ein Paradies für Streetart-Lover dort.
    Viele Grüße, Meike

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