Vom Ringen um ein wenig Genie und von einem verlassenen Dorf im Winter

„Ich habe tatsächlich fast den ganzen Tag gearbeitet, aber die Einsamkeit ist doch hart. Ich liebe das Leben, das Lachen, das Vergnügen, und dann liebe ich Dich, die Du all diesem gleichst, und noch etwas anderem – und es ist fürchterlich bei meinem Naturell und der Kraft in meinem Blut, sich selbst so an die Kette zu legen und in die Klosterzelle zu sperren. Ich hoffe, ich werde geduldiger, wenn ich sehe, dass ich arbeite, und mir selbst beweise, dass dies die richtige, die einzige Art ist, meiner üblen Anarchie beizukommen. Aber ich zerre, ich trete um mich und schnappe, bis ich mich selbst am Nackenfell packe und vor meine Papiere setze. Gestern habe ich mich nach einem halbstündigen kleinen Spaziergang fünf Minuten lang laut beschimpft. Dann bin ich mit eingezogenem Schwanz brav wieder an die Arbeit geschlichen. Ich bin durchaus nicht zufrieden mit dem, was ich mache. Vor allem verlässt mich oft der Mut angesichts der enormen Größe dessen, was ich herausarbeiten will.“

Nein, das ist nicht von mir. Die Worte stammen aus einem Brief, den Camus am 20. November 1958 an seine Freundin Mi schrieb (1). Er hatte sich allein in sein Haus in Lourmarin zurückgezogen, um an seinem Roman Der erste Mensch zu arbeiten. „Im Winter ist das Dorf leer und verschlossen, das Land kahl, und außer zum Mittagessen sehe ich den ganzen Tag über niemanden. Gute Arbeitsbedingungen, und ich arbeite tatsächlich“, berichtet er seiner anderen Freundin, Catherine Sellers (2). Nur die Katze Lolita und die Eselin Pamina leisteten ihm Gesellschaft. Bei mir war es wenigstens einige Wochen lang „Leihhund“ Amy. Ansonsten fragt sich, ob ein Dorf im Westerwald im Winter nicht  noch trostloser sein kann als eines in der Provence. „Ich blicke auf die Landschaft oder aufs weiße Blatt, entmutigt angesichts des Wegs, der noch vor mir liegt, und dann mache ich mich wieder ans Werk (…)“ (2). Mal wieder fühle ich mich Camus sehr seelenverwandt, und auch ein wenig beschämt angesichts der Größe des Werks, mit dem er da gerungen hat und dem kleinen Werk, mit dem ich ringe, und das eben deshalb ein solches Ringen ist, weil es versucht, diesem großen Werk gerecht zu werden. Im Verhältnis zu der Quälerei, die Camus für sein Werk auf sich genommen hat, sind meine Mühen aber nicht mehr als eine kleine Unpässlichkeit. Er schreibt von seiner Angst, die immer da ist, „dumpf und ununterbrochen“, es quält ihn der Gedanke, „dummes Zeug zu schreiben“, er trete auf der Stelle, er jaule nach ein wenig Genie, „nur ein wenig, ein bescheidenes Genie, das  nichts in Ordnung brächte, aber wenigstens dieses unendliche Leiden beenden würde“ (3). Es bewegt mich sehr,  zu lesen und nachzuempfinden, wie er um dieses Werk gerungen und für dieses Werk gelitten hat, das er nicht mehr hat fertigstellen können. 144 eng beschriebene Manuskriptseiten wurden unversehrt aus dem Unfallwagen geborgen, in dem Camus am 4. Januar 1960 ums Leben kam, nur ein erster Entwurf und vermutlich höchstens ein Drittel dessen, was Der erste Mensch hätte werden sollen. Erst 30 Jahre nach seinem Tod wurde das Manuskript veröffentlicht, und wenn ich es jetzt zum wiederholten Mal lese, denke ich: Es wäre ein Meisterwerk geworden.

(1) Zitiert nach Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 799. (2) a.a.O., S. 802. (3) a.a.O., S. 802f.
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1 Antwort zu Vom Ringen um ein wenig Genie und von einem verlassenen Dorf im Winter

  1. Nicole Nau sagt:

    wundervoll! Ich glaube er spricht hier allen Künstlern aus der Seele, nur über Disziplin kann man Kreativität herausarbeiten. Hinterher sieht alles leicht und genial aus, aber das Genie ist Arbeit. Harte und meist sehr einsame Arbeit. Anne Kathrin weiss, wovon er spricht!

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