Joyeux anniversaire, Monsieur Camus!

Camus-Portrait des in Wuppertal lebenden Künstlers  Maurycy.

Camus-Portrait des in Wuppertal lebenden Künstlers Maurycy Lozinski.

 „7. November, 45 Jahre alt. Wie beabsichtigt ein Tag des Alleinseins und der Besinnung. Schon jetzt mit der Loslösung beginnen, die mit 50 vollendet sein muss. An dem Tag werde ich herrschen.“ (1)

Das schrieb Albert Camus am 7. November 1958 in sein Tagebuch. Es war sein vorletzter Geburtstag. Hat er in seinem einen verbliebenen Jahr mit der „Loslösung“ begonnen? Was genau hat er damit eigentlich gemeint? Was für abgeklärte Worte für einen aus heutiger Sicht so jungen Mann, der die 50 nicht mehr erlebt hat. Heute feiern wir, feiert alle Welt, seinen 100. Geburtstag. Camus steht quasi im Scheinwerferlicht und Blitzlichtgewitter der Medien, und man vergisst dabei leicht, dass all die Bilder, die dabei herauskommen, Bilder sind, die heute von ihm entworfen werden, und dass keines davon je dem Menschen Camus vollständig gerecht werden wird. Jeder setzt sich sein eigenes Bild zusammen, und immer ist dieses Bild auch ein Spiegel desjenigen, der es entwirft.

Einen hundertjährigen Camus kann ich mir zum Beispiel gar nicht vorstellen. In meiner Vorstellung war Camus immer gerade so alt wie zum Zeitpunkt der größtmöglichen Resonanz, die es zwischen einem Autor und seinem Leser geben kann. Für die 17-, 18jährige Schülerin war er der junge Rebell, der mit seinem Mythos von Sisyphos auf radikale Weise all jenen Fragen Ausdruck verlieh, die mich selbst auf diffuse Weise umtrieben, ohne dass ich es hätte in Worte fassen können. Der Sisyphos war ein Muster, Existenz fassbar zu machen. Aber er setzte den Zähler alles dessen, was bisher als Orientierung vorhanden war, auf Null. Der Sisyphos war aufwühlend, radikal, verstörend – aber er war nicht pessimistisch. Am Ende stand ein seltsames Glück in Aussicht. Ich machte mich auf die Suche danach.

Camus-Porträt von Maurycy.

Camus-Porträt von Maurycy Lozinski.

Seit diesem Zeitpunkt begleitet mich Camus, und ich hatte immer das Gefühl, wir seien gemeinsam älter geworden. Immer war er dabei Weggefährte und Gesprächspartner. Immer ging er mir dabei ein paar Schritte voraus. Und wie bei einem lebendigen Gegenüber verändert sich mit den Jahren der Dialog über dieselben Themen, fließen die Erfahrungen des eigenen gelebten Lebens ein, offenbaren sich neue Facetten. Hätte ich ihn jemals kennenlernen können –vermutlich hätte es einiges gegeben, was mir fremd wäre, worin wir nicht einig wären, der Abstand von ein, zwei Generationen hätte eine Rolle gespielt, die sozialen und geschichtlichen Erfahrungen, die sein Leben geprägt haben, vielleicht sogar sein Frauenbild, was auch immer. Aber in der Auseinandersetzung mit seinem Werk spüre ich allenthalben nur eine tiefe Geistes- und Seelenverwandtschaft über alle Zeiten und Differenzen hinweg. Es ist dieses Gefühl, dass nahezu alles, was er schreibt, in der eigenen Seele ein Echo hat, im eigenen Inneren widerhallt. Das macht dieses seltsame Gefühl aus, sich verstanden zu fühlen.

Camus behauptet an keiner Stelle, irgendeine der großen Fragen der Menschheit beantworten zu können, er verspricht keine Erlösung, er lässt sich durch keine Ideologie vereinnahmen – und dennoch ist für mich sein Denken wie eine Art Kompass, der meinem Leben die richtige Richtung weist. Weil es immer wieder daran erinnert, was wichtig ist, was wirklich zählt: Die Schönheit der Welt, die es zu bewahren gilt. Die Sonne, das Meer, das Licht über den Hügeln… die Freundschaft, die Liebe – all das, was uns das Herz aufgehen lässt. Dass wir uns offen halten für die Glücksmöglichkeiten, die die Welt für uns bereithält (und die nicht im Konsum, Erfolg oder anderen äußerlichen Dingen zu finden sind). Dass nur der Augenblick zählt, und dass es nicht auf das Erreichen des Zieles ankommt, sondern auf das Gehen des Weges. Dass man bereit sein muss, aufzustehen und zu widerstehen, wenn es darauf ankommt. Dass man sich nicht schämen braucht, das Glück vorzuziehen, aber dass man sich schämen kann, allein glücklich zu sein. Dass es keine Rechtfertigung für Gewalt und Grausamkeit gibt, und dass es, trotz aller Gewalt und Grausamkeit, in Bezug auf den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt, wie es in der Pest heißt (auch wenn die lieben Mitmenschen diesen Glauben hin und wieder ins Wanken bringen). Es genügt, sich daran zu erinnern, dass wir alle dasselbe Schicksal teilen und dass jeder immer auch eine Verabredung mit sich selbst hat, der er nicht entgehen kann, um diese besondere Art der Zärtlichkeit wiederzufinden, die Camus la tendresse humaine nennt.

 „Ich werde mir der Möglichkeiten bewusst, für die ich verantwortlich bin. Jede Minute des Lebens trägt in sich ihren Wert als Wunder und ihr Gesicht ewiger Jugend.” (2)

Und so verhält es sich für mich auch mit Camus: Auch der Hundertjährige trägt noch das alterslose Gesicht ewiger Jugend. Joyeux anniversaire, Monsieur Camus!

 

(1) Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 328. (2) Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963/1967 , S. 12. Eintrag aus Januar 1936.

Ich danke Maurycy Lozinski für die freundliche Erlaubnis, seine Camus-Porträts hier veröffentlichen zu dürfen. Das Copyright liegt ausschließlich beim Künstler.

 

 

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4 Antworten zu Joyeux anniversaire, Monsieur Camus!

  1. Martin Rubensdörffer sagt:

    Liebe Frau Reif,
    un grand merci – für den spannenden Blog sowieso und aktuell für Ihre wunderbare Einführung zum „Étranger“ in Wuppertal, herzlichen Dank auch an Herrn Tykwer, der dem Publikum im „proppenvollen“ Kinosaal den 35mm-Schatz mit knatterndem Projektor präsentierte –
    insgesamt ein schönes und nachhaltiges Geschenk zum 100.!

  2. Camus hat der Welt zwar keine Allheilmittel empfohlen, aber er ist stets für bestimmte Prinzipien eingetreten. Das sollte man vielleicht nicht vergessen: http://pop-polit.com/2013/11/06/albert-camus-und-die-politik/#more-875

  3. Dr. Ruth Schlette sagt:

    Liebe Frau Reif, dass Sie Ihrem Geburtstagsglückwunsch die beiden Portraits von Maurycy Lezinski beifügten, freut mich besonders. Solche Bilder sagen manchmal mehr als Fotos! Ein Kölner Maler, Oliver Jordan, der sich offensichtlich schon seit Jahren mit Person und Werk von Albert Camus auseinandersetzt, war im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag in Aix-en-Provence eingeladen. Im Grand Théâtre de Provence wurde am 28. September seine Ausstellung „Noces de Lumière. Un hommage à Albert Camus“ mit großem Zeremoniell eröffnet. Ich war nicht dabei, fand aber im Centre Méjanes den Flyer, auf dem zwei interessante Portraits abgebildet sind.
    Dort erfährt man, dass diese Ausstellung demnächst auch in deutschen Museen zu sehen sein wird; die nächste Station sei das Landesmuseum Bonn im Oktober 2014.
    Ein Camus-Portrait von Oliver Jordan schmückt übrigens das Titelblatt des von Willi Jung herausgegebenen Sammelbandes „Albert Camus oder der glückliche Sisyphos“.

    Danke für den wunderbaren Vortrag gestern Abend in Bonn!

  4. Mag. Alois Klinglmair sagt:

    Wie so viele Menschen begleiten auch mich Person und Denken Camus seit meiner Jugend ( im Todesjahr von A.C. geboren ) und ich finde beides immer wieder herausfordernd, anregend, faszinierend, herzerwärmend….So gehören „Hochzeit des Lichts“ und „Heimkehr nach Tipasa“ regelmäßig zur Nachtlektüre. Aber dieses Jubiläumsjahr ist für mich schöne Aufforderung mich wieder umfassender mit Camus Werk zu befassen. Daher bin ich sehr dankbar für ihren „Blog“ , ihre Dissertation und das neue Buch. So ist mir jetzt (wieder) klarer geworden, wie sehr bei Camus viele Themen seines Werkes schon sehr früh vorhanden waren und dann nach und nach entwickelt und „systematisiert“ wurden. Also nicht so „retrospektiv“ wie ich recht vorschnell, eher aus dem Bauch heraus, bei einem meiner Kommentare geschrieben habe, und die Aussage gerne zurücknehme (und mich zugleich dafür entschuldige!). Es wäre natürlich sehr interessant wie Camus das „Stadium der Liebe“ ausgearbeitet hätte und -wäre ihm die Zeit gegeben gewesen – was er noch schaffen hätte können ( ein „Stadium der Loslösung“?). Und natürlich auch wie er sich als Mensch Camus weiterentwickelt hätte.
    Aber heute dürfen wir uns freuen über das was uns durch ihn geschenkt wurde, in seiner ganzen Vielschichtigkeit, die es z.B. bei einem Sartre m.E. so nicht gibt. Alles Gute und ein Prosit (mit einem französischen Rotwein) zum Geburtstag! Und ich freue mich darauf Camus neu und (u.a. dank ihrer Hilfe) Neues zu entdecken!

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