„Lektüre fürs Leben“ (oder wie Camus leben hilft)

„Auch der Fremde, der uns in gewissen Augenblicken in einem Spiegel begegnet, der vertraute und doch beunruhigende Bruder, den wir auf unseren eigenen Photographien sehen, ist wiederum das Absurde”, schreibt Camus im Mythos von Sisyphos (1).

akr auf der Leinwand...

Filmvorführung in Aix: Ich auf der Leinwand…
© Foto: Bernhard Mahasela

Aus frischer eigener Erfahrung kann ich sagen: Sich selbst zum ersten Mal in einem Film zu sehen, setzt noch eins drauf. Wie auch auf den allermeisten Foto-Schnappschüssen finde ich, ich sehe doof aus, nur schlimmer, weil man so vieles auf einmal sieht. Meine Stimme ist mir fremd. Und die Tango-Haltung werden meine lieben Lehrer Nicole und Luis mir auch nur deshalb verzeihen, weil die Szene schon ein Jahr alt ist und somit lange vor der gemeinsamen Unterrichtswoche im September lag…
Aber das Schöne ist: All das ist überhaupt nicht wichtig.

Denn Joel Calmettes Film Albert Camus – Lektüre fürs Leben (im Original: Vivre avec Camus) ist einfach ein wunderbarer Film. Leider läuft er heute Abend auf Arte nur in der kürzeren Version von 54 Minuten, weshalb man einigen besonders beeindruckenden Personen aus der 75-Minuten-Fassung, die am Samstag in Aix-en-Provence erstmals öffentlich gezeigt wurde, nicht begegnen wird. Zum Beispiel einer japanischen Anti-Atom-Aktivistin, einem französischen Priester, einer amerikanischen Juristin, die gegen die zunehmende Obdachlosigkeit kämpft und einer jungen Afrikanerin, die unter ärmlichsten Bedingungen mit Kindern Camus liest, singt und tanzt. Aber man begegnet einer ganzen Reihe anderer Camus-Leser in aller Welt, und allen ist gemeinsam, dass Camus in der ein oder anderen Weise ihr Leben verändert hat, es beeinflusst und durchdringt.

Filmszene: Literaturprofessor Hiroki Toura spricht mit Studenten über Camus.

Filmszene: Literaturprofessor Hiroki Toura
spricht mit Studenten über Camus.

Man begegnet Menschen, die sich in ihrer eigenen Kunst von Camus inspiriert fühlen, wie ein New Yorker Komponist oder die Sängerin Patti Smith, „the God-Mother of Punk“, die Der glückliche Tod „mindestens zwanzig Mal“ gelesen hat und von sich sagt: „Camus ist Teil meines täglichen Lebens“ – es komme nicht darauf an, ob man das merke, aber er beeinflusse ihr ganzes Schreiben. Man begegnet Menschen, die in Lebenskrisen an Camus geraten sind und mit ihm gelernt haben, glücklich zu sein – wie der kanadische Parkettleger oder Leo Tsimi aus Kamerun, der den Mythos von Sisyphos in großen Teilen auswendig kann und sagt „Camus ist für mich immer und überall”, oder dem japanischen Literaturprofessor Hiroki Toura, der seit zwanzig Jahren über Camus arbeitet und seinen Studenten Camus beibringt und dabei leidenschaftlich bezeugt, welche Kraft die Literatur haben kann: Dass sie, im Falle von Camus, hilft, „sich mit sich selbst und der Welt zu versöhnen.“ Er entdecke viel Japanisches in Camus, sagt der Professor, etwa in dessen Diskretion oder in dem Verhältnis zu seiner Mutter, aber auch in der Lebenshaltung „ich werde nicht gewinnen, aber ich kämpfe trotzdem“. „Sehr tragisch und sehr japanisch“, findet er das – ein überraschender, neuer Blick auf Camus.

Filmszene: Ronald Keine aus Detroit kämpft für die Abschaffung der Todesstrafe in den USA.

Filmszene: Ronald Keine aus Detroit kämpft für
die Abschaffung der Todesstrafe in den USA.

Und dann sind da all die Menschen, die nicht nur (wie ich) einfach ihr ganz alltägliches Leben mit Camus teilen, sondern weit darüber hinaus gehen: die „Revoltierenden“, denen Camus die Inspiration, den Anstoß und die Kraft gibt, gegen oder für etwas zu kämpfen: Rupert Neudeck, Menschenrechtsaktivist und Cap Anamur-Gründer genauso wie der algerische Mathematikstudent Khaled Rhedouane, der privat eine Kleiderkammer für Bedürftige betreibt oder der US-Amerikaner Ronald Keine, der zum Aktivisten gegen die Todesstrafe wurde, nachdem er selbst neun Tage unschuldig in der Todeszelle saß und dort eine Ausgabe vom Fremden zugesteckt bekam – was für eine Geschichte!

Jeder hat dabei seinen „eigenen“ Camus und doch spricht aus all diesen so verschiedenen Menschen und in jeder Hinsicht weit  auseinander liegenden Leben eine große Gemeinsamkeit. Für alle besteht ihre Beziehung zu Camus nicht nur in der Lektüre von bedrucktem Papier – für alle ist Camus auch als Person präsent, ein Freund, ein Gesprächspartner, ein Weggefährte. Und dass Camus so viele so unterschiedliche Menschen aus so verschiedenen Lebensumständen, sozialen Schichten und Kulturkreisen verbindet und sie ihre Gemeinsamkeit spüren lässt – wie könnte man besser das ausdrücken, was den Kern des Denkens von Camus ausmacht? Genau das sagt mehr über ihn, als jede Dokumentation über sein Leben und Werk, die (dann eben doch schon bekannte) Fakten aneinander reiht, es vermocht hätte.

Natürlich machen die Camus-Leser den Großteil des Films aus, denn das war schließlich die Idee des Ganzen. Aber zwischen den Porträts gibt es kleine Einspieler zu Leben und Werk von Camus, die zeigen, um wen es eigentlich geht – darunter auch ganz wunderbare, nie zuvor gezeigte Filmschnipsel, die einen ganz privaten Camus zeigen, direkt aus dem Familienalbum gewissermaßen (das meiste davon leider nur in der 75-Minuten-Fassung). Eine gelungene Mischung und eine runde Sache, wie ich finde.

Regisseur Joel Calmettes und Anne-Kathrin Reif beim Gespräch mit dem Publikum in Aix. ©Foto: Bernhard Mahasela

Regisseur Joel Calmettes und Anne-Kathrin Reif
beim Gespräch mit dem Publikum in Aix.
©Foto: Bernard Mahasela

Eine interessante Erfahrung war es, so direkt die Reaktionen des Premierenpublikums bei der Filmvorführung in Aix-en-Provence mitzuerleben. Die erste Vorführung am Samstag wurde sehr begeistert aufgenommen, und viele Zuschauer zeigten sich ehrlich bewegt. Nach der zweiten Vorführung am Sonntag gab es auch einige recht spitze Fragen an den Regisseur. Etwa ob das Ganze eine Art filmisches Handbuch für Schüler sein solle. Ob denn solche Art „Idolatrie“ Camus wirklich angemessen sei. Und warum die Algerienfrage gar nicht vorkomme…

Nicht alle Menschen sind eben gleich empfänglich für jene tendresse humaine, welche die Camus-Leser aus dem Film so sehr mit Camus selbst verbindet. Umso beglückender war die Reaktion einer ganz besonderen Zuschauerin: „Ich liebe diesen Film, ich liebe ihn sehr“, sagte Albert Camus‘  Tochter Catherine schlicht – und hör- und spürbar aus ganzem Herzen.

Albert Camus – Lektüre fürs Leben läuft heute, 9. Oktober, 21.45 Uhr auf Arte-TV und ist danach noch eine Woche lang in der Arte-Mediathek abrufbar. Es gibt außerdem eine DVD (französische Version) die bei Amazon france erhältlich ist. Sie enthält sowohl die 54- als auch die 75-Minuten-Fassung plus 30 Minuten weiterer Leser-Porträts.

Von links: Madame und Monsieur Calmettes, Anne-Kathrin Reif und Marcelle Mahasela, Leiterin des Centre Albert Camus in Aix. Mit Regisseur Joel Calmettes und Camus, Begegnung mit Catherine Camus. ©Fotos: Bernard Mahasela

(1) Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos.  Deutsche Übersetzung von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S. 18.
Dieser Beitrag wurde unter Bühne/ Film/ Fernsehen, Camus und ich abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

1 Antwort zu „Lektüre fürs Leben“ (oder wie Camus leben hilft)

  1. Toni, fast schon ein Freund sagt:

    Liebe Anne,
    in Anwesenheit eines liebensweten Menschen konnten wir ein wenig teilhaben an einem filmischen Kunstwerk.
    Bilde mir nicht ein, dass ich dadurch über den „Gegenstand“ Ihrer Dissertation mitreden kann, eine Annäherung meinerseits hat er gewiss bewirkt.
    Aber am besten, wenn man nur einen hört und auf des Meisters Worte schwört.
    Ein Meister für mich ist zweifelos jener Denker, dessen Ausspruch ich gerne verwende; Wesentliches kommt nie zu spät.
    Insofern habe ich Ihren Beitrag „über mich“ gelesen und bin dabei auf Ihren
    Beitrag, besser Sprachkunstwerk über den Jazzmusiker gestoßen.
    Habe hiermit erfahren, welche Emotionen Musik auslösen kann. Für mich macht leider nicht der Ton die Musik, sondern die Sprache, in diesem Fall die Sprache der Anne Reif.
    Umwege bereichern die Ortskenntnis.
    Traubenweg grüßt Öxle Liebhaberin

    Liebe Anne

Schreibe einen Kommentar zu Toni, fast schon ein Freund Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.