Am heutigen „Albert-Schweitzer-Tag“ eine kleine Gedankenreise mit Camus nach Le Chambon

Blick über die Hochebene bei Le Chambon-sur-Lignon. Foto: Anne-Kathrin Reif

Es ist nun wirklich nicht so, dass es für einen Blog-Beitrag zu Camus eines bestimmten Anlasses bedürfte. Aber mir rutscht der Blog gerade im freiberuflichen Alltag so oft so sehr aus dem Blick, dass ich mich manchmal von solchen äußeren Anlässen gerne anstoßen lasse. Heute zum Beispiel ist der weltweite „Albert-Schweitzer-Tag“. Wer hier schon länger mitliest, weiß, dass es zwischen den beiden Alberts eine interessante Verbindungslinie gibt. Ihr Kreuzungspunkt liegt in den kleinen Örtchen Le Chambon-sur-Lignon im französischen Hochland. Hier (bzw. in dem benachbarten kleinen Weiler Le Panelier, wo die Familie seiner Frau Francine ein Ferienhaus besaß) verlebte Albert Camus 1942/43 einen unfreiwillig langen 15monatigen Aufenthalt. Angetreten als eine Art Kuraufenthalt wegen seiner Tuberkuloseerkrankung war ihm wegen des Kriegsgeschehens die geplante Rückkehr nach Oran, wohin Francine bereits abgereist war, verwehrt. Dieses Örtchen Le Chambon mit seiner ganz besonderen hugenottischen Tradition war ein einzigartiger Hort des Widerstands in Frankreich unter der mit Deutschland kollaborierenden Vichy-Regierung. Die große Anzahl aktiver Gemeindemitglieder der reformierten Kirchen und der kleinen katholischen Gemeinden dieser Region bewahrte in gewaltfreiem Widerstand gegen die Nazis und die kollaborierende französische Polizei über 5000 Juden vor der sicheren Deportation. Eine zentrale Figur darin war der in Le Chambon praktizierende Arzt Dr. Roger Le Forestier, bei dem auch Camus wegen seiner Tuberkulose in Behandlung war. Und dieser Dr. Le Forestier war 1934 einige Monate lang als Missionsarzt in Lambarene gewesen, dem berühmten von Schweitzer gegründeten Urwaldkrankenhaus. Camus arbeitete während seines Aufenthaltes in Le Panelier an seinem Roman Die Pest. Findet sich in Dr. Le Forestier vielleicht das reale Vorbild für Camus‘ Dr. Rieux, der im Roman gegen die Seuche kämpft, die bekanntlich (auch) für die „braune Pest“ der Nazidiktatur steht? Diesen Gedanken hat Klaus Stoevesandt vor beinahe zehn Jahren erstmals aufgegriffen, nachdem er zuvor schon der „geistigen“ Verbindung zwischen Albert Schweitzer und Albert Camus nachgegangen war. Bereits 2013 veröffentlichte er die kleine Schrift „Albert Schweitzer und Albert Camus – Auf der Suche nach Maßen für die Menschlichkeit“ (Bernstein-Verlag) und referierte darüber 2014 bei der Jahrestagung der Internationalen Albert-Schweitzer-Gesellschaft in Königsfeld. Forschungsreisen nach Le Chambon, Korrespondenz und schließlich persönliche Begegnung mit Jean-Philippe Le Forestier, dem Sohn von Dr. Roger Le Forestier, folgten und mündeten schließlich in die kleine Schrift Der Doktor Rieux des Albert Camus – Eine Nachsuche möglicher Vorbilder (Bernstein Verlag 2016). 2019 erschien der von Jean-Paul Sorg herausgegebene Band IV der Albert-Schweitzer-Reflexionen Albert Schweitzer und Albert Camus – Ein gemeinsamer medizinischer Humanismus mit Beiträgen von Klaus Stoevesandt.

Begegnet sind sich die beiden Nobelpreisträger Albert Schweitzer (1875-1965) und Albert Camus (1913-1960) mit größter Wahrscheinlichkeit nie. Weder wissen wir, inwieweit sie sich mit dem Gedankengut des anderen auseinander gesetzt haben, noch lässt sich die Verbindung von Dr. Le Forestier zur Figur des Dr. Rieux zweifelsfrei belegen. Aber die Forschungen von Klaus Stoevesandt, die auch bestätigt haben, dass Albert Camus und Doktor Le Forestier bei Behandlungen mehrfach miteinander gesprochen haben müssen, machen eine Verbindung zumindest plausibel. Und zeigen einmal mehr, dass die Leidenschaft für ein Thema zu schönen Geschichten im richtigen Leben führen kann.

Wir haben im Blog Klaus Stoevesandt gewissermaßen auf seinem Weg begleitet. Der heutige Albert-Schweitzer-Tag ist ein schöner Anlass, das noch einmal nachzuverfolgen:

Bedingungslose Humanität: Albert Camus trifft Albert Schweitzer (Interview mit Klaus Stoevesandt 2014)

Auf den Spuren des „echten“ Dr. Rieux in Le Chambon (2017)

Albert Camus, Albert Schweitzer und Roger Le Forestier – oder wie aus einer Randbemerkung eine lange Geschichte wird (2017)

Mehr zu Klaus Stoevesandt und seinen beiden Publikationen im Bernstein-Verlag hier

Zur Homepage des Deutschen Albert-Schweitzer-Zentrums hier.

In Le Chambon gibt es das interessante kleines Museum Lieu de Memoire du Chambon, das die Geschichte des Widerstandes im Ort erzählt.

Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden, Blog-Lesern und Camus-Freundinnen noch einen schönen Tag und à bientôt, wann immer!

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2 Antworten zu Am heutigen „Albert-Schweitzer-Tag“ eine kleine Gedankenreise mit Camus nach Le Chambon

  1. Liebe Frau Reif!
    Das hat mich gestern aber ganz besonders gefreut, diese ausführliche Seite zum Albert Schweitzertag in Ihrem Blog zu finden. Es entspricht auch einer Würdigung meines Weges durch diese spannende und inhaltsreiche Geschichte Sie enthielt für mich auch manche weiterführende Begegnung bis in die letzten Jahre.
    In kürzerer Zeit wird im Albert Schweitzer Zentrum eine Broschüre erscheinen, die ich schon 2020 in weiten Teilen verfasst hatte:
    „Von Lambarene ins nationalsozialistisch besetzte Frankreich“
    Mitarbeiter Schweitzers im Widerstand gegen die rassistische Barbarei
    Mit herzlichen Grüßen
    Klaus Stoevesandt

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Stoevesandt, vielen Dank für Ihre Rückmeldung – es freut mich zu hören, dass es mit Ihrem Engagement immer noch weiter geht! Mit herzlichem Gruß, Anne-Kathrin Reif

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