Wie Camus und Picasso die Wünsche beim Schwanz packten – zum 50. Todestag von Pablo Picasso

Manche Dinge muss man ja nicht immer wieder neu erfinden… Und da der ein oder die andere hier vor zehn Jahren sicher noch gar nicht mitgelesen hat, erlaube ich mir, aus aktuellem Anlass den seinerzeit zum 40. Todestag von Pablo Picasso verfassten Beitrag heute gewissermaßen zu recyclen.

Picasso im Jahr 1962. Foto: Argentina. Revista Vea y Lea, wikicommons

Der Jahrhundertkünstler Pablo Ruiz Picasso, geboren am 25. Oktober 1881 im spanischen Málaga, verstarb am 8. April 1973 im Alter von 91 Jahren im südfranzösischen Mougins. Beigesetzt wurde er im Garten seines Schlosses Vauvenargues bei Aix-en-Provence, unweit von Camus’ letztem Wohnort Lourmarin. Ganz abgesehen davon, dass es in den Künstler- und Intellektuellenzirkeln der 1940er-Jahre, als Picasso und Camus sich beide in Paris aufhielten, sowieso alle möglichen Überschneidungen gab und man sich in den selben Nachtlokalen und Cafés begegnete, wo die neuesten Werke der jeweils anderen diskutiert wurden, gibt es mindestens eine ganz direkte Verbindung zwischen Camus und Picasso: Bei der Uraufführungslesung von Picassos Theaterstück Le Désir attrapé par la Queue (Wie man Wünsche beim Schwanz packt) führte Albert Camus Regie. 

Was für eine illustre Runde kam da zusammen in der Wohnung des Schriftstellers und Ethnologen Michel Leiris am 19. März 1944, eine private Zusammenkunft im besetzten Paris: unter den Zuschauern Jean-Louis Barrault, Georges Braque, Henri Michaux und weitere Künstler und Intellektuelle, erzählt der Camus-Biograf Olivier Todd (1). Und dann erst die Besetzung! Camus verteilt die Rollen: Leiris ist Der Plumpfuß, Sartre Das Klümpchen, Simone de Beauvoir Die Kusine, Picassos Muse Dora Maar ist  Die magere Angst und Raymond Queneau Die Zwiebel. Weitere Protagonisten: Die Torte, Die fette Angst, Das Schweigen, Die beiden Wauwaus. Wie man schon unschwer an den Rollen erkennt, handelt es sich nicht um ein konventionelles Drama, sondern eher um ein surrealistisch-dadaistisches Stück, allerdings auch mit realististischen Elementen. Picasso nutzte dabei die surrealistische Technik des automatischen, assoziativen Schreibens im Sinne der von André Breton adaptierten écriture automatique. Die Lesung begann um 17 Uhr und endete um 23 Uhr, eine Stunde vor Beginn der Ausgangssperre. Einige Wochen später, am 16. Juni 1944, lud Picasso die ganze Runde in sein Atelier in die Rue des Grands-Augustins Nr. 7 ein, wo der Fotograf Brassaï sie im Bild festhielt (wohl deshalb kann man gelegentlich lesen, Uraufführung des Stücks sei am 16. Juni gewesen).

Das Foto würde ich hier natürlich gerne zeigen, aber da ich nicht über die Bildrechte verfüge, muss ich auf diejenigen verweisen, die sich darum nicht kümmern (einfach „Camus und Picasso“ googlen) – oder hier auf den im Prinzip lesenswerten Artikel zu dem Ereignis in der NZZ (der allerdings Camus allzu flapsig als „Hobbyregisseur“ bezeichnet). Jedenfalls sieht man auf dem Foto (von links nach rechts): Jacques Lacan (für den sich angeblich Simone de Beauvoir besonders interessierte), Cécile Eluard, Pierre Reverdy, Louise Leiris, Zanie Aubier, Picasso mit verschränkten Armen in der Mitte, Valentine Hugo und Simone de Beauvoir; davor sitzend, mit Pfeife, Jean-Paul Sartre, Michel Leiris, Jean Aubier und auf dem Boden hockend in der Mitte Camus. Alle schauen mehr oder weniger konzentriert in die Kamera des Fotografen, nur Camus scheint Kazbek interessanter zu finden, den großen wuscheligen Hund Picassos, der in der Mitte der Runde auf einem kleinen Teppich sitzt. Gut möglich, dass Brassaï deshalb noch ein paar Mal mehr auf den Auslöser drückte, denn es gibt auch noch eine Version ohne Hund, und jetzt schaut auch Camus in die Kamera. Bemerkenswert ist die Zusammenkunft bei der Uraufführung auch noch aus einem anderen Grund: Unter den Zuschauern befand sich auch eine sehr attraktive junge Schauspielerin, die 22jährige Maria Casarès – die erste Begegnung zwischen Camus und seiner späteren lebenslangen Geliebten (1). 1948, als die beiden längst ein Paar waren, spielte Maria Casarès die Victoria in Alberts Theaterstück Der Belagerungszustand (Regie führte Jean-Louis Barrault). Bei der Premiere am 27. Oktober 1948 im Théatre Marigny saß auch Pablo Picasso im Publikum (2).

Seine Erstaufführung auf der Bühne erlebte Wie man Wünsche beim Schwanz packt übrigens 1950 im Londoner Watergate Theatre, die deutschsprachige Erstaufführung in der Übersetzung von Paul Celan fand 1956 im Kleintheater Bern unter der Regie von Daniel Spoerri und der Mitwirkung unter anderem von Meret Oppenheim (Bühnenbild und Kostüme) statt. Und wieder einmal stelle ich fest, wieviel Stoff es noch für mein lange nicht mehr gespieltes „Immer nur einen Schritt bis zu Camus“-Spiel gibt… Das Spiel habe ich übrigens genau zu Ostern 2013 erfunden: Sisyphos trifft Christus auf dem Blumenkübel – oder: Immer nur ein Schritt bis zu Camus

Allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden, Camus-Freundinnen und Blog-Lesern wünsche ich schöne Ostertage!

P.S. Tipp für verregnete Feiertage: arte TV hat Picasso vorab zum 50. Todestag am 2. April einen ganzen Thementag mit zehn Stunden Programm gewidmet. Die Beiträge sind noch in der Mediathek abrufbar.

(1)  vgl. Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 371. Im Artikel in der NZZ heißt es, Casarès sei bei dem Ereignis als „Assistentin“ dabei gewesen. Bislang habe ich dafür allerdings noch keinen Beleg gefunden. (2) siehe Fußnote in Albert Camus – Maria Casarès, Schreib ohne Furcht und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959, Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021, S. 109.
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4 Antworten zu Wie Camus und Picasso die Wünsche beim Schwanz packten – zum 50. Todestag von Pablo Picasso

  1. Dieter Fränzel sagt:

    Da ich eine Aufführung des Stücks von Picasso 1961 in Düsseldorf, gespielt von Kunststudenten der Kunstakademie, als Zuschauer erlebt habe, hat mich die mir nicht bekannte interessante Geschichte der ersten Aufführung in Paris sehr interessiert. Die Düsseldorfer Premiere von „Wie man Wünsche am Schwanz packt“ fand unter der Regie von Heinz Balthes zunächst in der Kunstakademie statt, weitere Vorstellungen in den Kammerspielen des Schauspielhauses. In den 60er Jahren war ich als Referent bei einer Düsseldorfer Konzertagentur tätig. Die Agentur hat das Theaterstück dann zu Gastspielen in anderen Städten vermittelt.

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Dieter, herzlichen Dank für deinen Kommentar! Immer interessant, wenn auf einen Beitrag weitere Informationen folgen – wie Kreise um einen Stein, den man ins Wasser wirft. Toll! Liebe Grüße, Anne-Kathrin

  2. Gerhard H. sagt:

    Danke für diese Hinwendung zu dem Künstler Picasso. Ja Bilder erzählen Geschichten. Herzlichen Dank auch für den Hinweis auf die ARTE Produktion.

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