Von Sisyphos gleicher Rückkehr zur Normalität und zum Camus-Gespräch in Aachen

Ich habe einen Jahrestag knapp verpasst: Am 21. März 2020, also vor fast genau drei Jahren, habe ich hier im Blog das Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch begonnen. Ich beschloss seinerzeit (wie so viele andere Menschen), noch einmal Die Pest zu lesen, und schrieb: „Auf jeden Fall denke ich jetzt schon gern an das Ende von Camus‘ Roman und hoffe, dass es auch für uns so sein wird, und dass es bis dahin nicht allzu lange dauern wird: Irgendwann ist der Spuk vorbei, die Menschen fallen sich voller Freude in die Arme und feiern in den Straßen. Jedenfalls die, die überlebt haben und die keinen geliebten Menschen verloren haben. Das ist der bittere Beigeschmack, der auch uns nicht erspart bleiben wird.“  

Das „nicht allzu lange“ dauert jetzt schon drei Jahre. Viele, sehr viele haben einen oder gar mehr als einen lieben Menschen verloren. Und dass der Spuk vorbei ist, sieht nur so aus, weil die Regierung (so wie in der Pest auch) das Ganze für beendet erklärt hat. Dabei hat der Spuk durch Impfstoff und Aufbau von Immunität nur etwas seinen Schrecken verloren, und wir haben gelernt, mit ihm zu leben – oder bemühen uns zumindest darum. Das große Freudenfest auf den Straßen, mit dem Camus die Pest (und den Krieg) enden lässt, wird bei uns nicht stattfinden. Es gibt schlicht keinen Grund dazu. Und genauso, wie es kein großes, befreiendes Finale für uns gibt, so bleibt auch Camus‘ hoffnungsvolle Bilanz für uns in der Schwebe: nämlich, dass uns die Heimsuchungen lehren würden, dass es am Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt. Zahllose Menschen haben Großartiges geleistet und tun es noch, haben geholfen, haben Solidarität gelebt. Aber die Menschen vom Schlage Cottards, die Pest-Profiteure und Rücksichtslosen waren beileibe auch keine Einzelfälle. Die Chancen und Hoffnungen, die sich zu Beginn trotz allen Schreckens in der Heimsuchung entdecken ließen – auf ein Näherzusammenrücken, mehr gegenseitige Wertschätzung, Aufwertung von Pflege(berufen), auf Innehalten, Besinnen, Verlangsamen und manches mehr – sie sind verpufft. Stattdessen stehen wir als Gesellschaft müde und erschöpft vor all den anderen gigantischen Herausforderungen und Bedrohungen, die ich hier jetzt nicht aufzähle, denn eigentlich wollte ich gar nicht so einen trübsinnigen Beitrag schreiben.

Kehren wir also zur „Normalität“ zurück. Aber es gibt verschiedene Arten, das zu tun: Das „möglichst schnell alles vergessen“ und „so tun als wär‘ gar nix gewesen“. Oder das „nicht vergessen und trotzdem weitermachen“ bzw. „wieder neu starten“. Immer und immer wieder. Und dabei das Glück nicht vergessen. Da sind wir dann wieder bei Camus und beim glücklichen Sisyphos. Und beim Frühling, der jetzt doch mal endlich kommt. Wenn auch bei uns nicht mit Mimosen und blühenden Mastixbüschen wie in Camus‘ Tipasa, dann aber doch mit Forsythien, Magnolien und Kirschblüten.

Zurück ist auch die Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen, die nach der langen Pandemie-Pause ihre regelmäßigen Gesprächskreise wieder aufnimmt. Zukünftig gibt es also wieder einmal im Monat jeweils an einem Dienstag um 19.30 Uhr im Aachener Logoi, Jakobstraße 25a, in lockerer Runde bei einem Glas Wein oder Erfrischungsgetränk und kleinen Snacks die Gelegenheit zum Sich-Anregen-Lassen, zum Austausch und zum Vermehren von Kenntnissen über Albert Camus und zum Vermehren von Erkenntnissen im Allgemeinen. Der erste Termin ist am kommenden Dienstag, 28. März 2023. Gelesen werden ausgesuchte Textstellen aus Camus‘  Roman Der Fall, um anschließend darüber zu sprechen und Eindrücke und davon inspirierte Ideen zu teilen. Weitere Termine sollen möglichst wieder im Monatsrhythmus folgen. Die Teilnahme ist kostenlos, und die Mitgliedschaft bei der AC-Gesellschaft nicht Voraussetzung. Für den 18. April hat übrigens der Rowohlt-Verlag eine Neuauflage von Der Fall in neuer Übersetzung von Grete Osterwald angekündigt. Da kann man sich schon auf vergleichendes Lesen freuen!

Einen weiteren Termin in Assoziation zur Albert-Camus-Gesellschaft gibt es am 20. April 2023, 19 Uhr: Dann stellt Holger Vanicek, Vorsitzender der AC-Gesellschaft, im Rahmen der Philosophischen Gespräche auf der Burg Frankenberg in Aachen erstmals offiziell sein Buch Die Zerrissenheit – Albert Camus‘ Tanz unter dem Schwervor und lädt zur Diskussion darüber ein. Mehr Infos hier.

Ich wünsche allen Blog-Lesern und Camus-Freundinnen, Camus-Freunden und Blog-Leserinnen ein schönes, frühlingshaftes Wochenende – und: Bleiben Sie zuversichtlich!

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4 Antworten zu Von Sisyphos gleicher Rückkehr zur Normalität und zum Camus-Gespräch in Aachen

  1. SCHOTT PIERRE sagt:

    SOLEILLEUSE PENSÉE DU PAYS DE GIONO, ANNE-KATHRIN !

    PÉTRUS DE MANOSQUE

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Cher Petrus, merci beaucoup pour les salutations ensoleillées – nous avons bien besoin de soleil ici! Tout de bon pour vous et pour les amis de Camus dans le sud ! Anne-Kathrin

  2. Peter Silberbach sagt:

    Liebe Frau Reiff,
    wir hatten nach Corona keinen Anlass, auf die Straßen und Plätze zu gehen und zu feiern und zu tanzen, weil uns inzwischen eine zweite Pest überfallen hatte: Russlands Krieg um die Ukraine seit Februar des Jahres 2022.
    Ende September bin ich mehr zufällig im Wuppertaler Skulpturenpark von Tony Cragg in ein Konzert der „Kremerata Baltica“ unter Ltg. von Gidon Kremer geraten. Dort wurde als Zugabe die „Abendserenade“ aus „Stille Musik“ von Valentin Silvestrov (85), dem Nestor der ukrainischen Komponisten, gespielt, der im März 2022 aus dem Krieg in Kiew nach Berlin emigriert ist. Die Abendserenade war ein wunderbarer Ausklang. Es war ein magischer Moment, als ich in der Dämmerung unter den hohen Buchen langsam vom „Waldfrieden“ ins Tal ging, bis ich in das blendende Licht und den Lärm der Hauptverkehrsstraße zur Schwebebahn gelangte!
    Ich bekam die Melodien der stillen Musik nicht aus dem Kopf, irgendwie kannte ich das Stück. Ich habe es dann zu Hause unter meinen CD‘s wiedergefunden: „Valentin Silvestrov, Bagatellen und Serenaden“ (ECM). Die „Stille Musik“ und die die CD einleitenden wunderbaren Klavierminiaturen „Bagatellen“ sind wohl nicht nur mir ein großer Trost geworden – ein Trost aus dem von Russland angerichteten Chaos in der Ukraine! Hinzu kam, dass das Stück von Gidon Kremer mit seiner Kremerata Baltica in Wuppertal pünktlich zum 85. Geburtstag des Komponisten zu seinen Ehren gespielt wurde und von ihm dem Dritten im Bunde, Manfred Eicher von der ECM gewidmet war, der sich unschätzbare Verdienste um die Komponisten der Perestroika und danach erworben hat.
    Ich habe das Valentin Silvestrovs Stück für die „Lieblingsstücke“ des WDR 3 vorgeschlagen, und es wurde von der Redaktion stante pede akzeptiert und wird am morgigen Sonntag (ca. 9.40 h – Sommerzeit !) gesendet.
    Vielleicht können es viele Menschen auf diesem Sendeplatz erleben und wir uns alle gedanklich bei dem einleitenden ruhigen Walzer langsam drehen…und verstehen, dass wir in dieser komplizierten Welt mit einfachen, schlichten Lösungen mehr erreichen als durch lautes Feiern.
    Verzeihen Sie mir bitte diese längliche Ergänzung mit der Schilderung meines Erlebens dieser schrecklichen Epidemien!
    Mit besten Grüssen
    Peter Silberbach

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Silberbach, herzlichen Dank dafür, dass Sie Ihr schönes Erlebnis in Wuppertal hier geteilt haben und für die Hörempfehlung am Sonntagmorgen! Ich hoffe, dass sie hier den ein oder anderen noch erreicht!

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