Ganz nah dran: „Die Gerechten“ als Kammerspiel in Bonn

Die Revolutionäre vor dem Attentat. Von links: Stepan (Frank Musekamp), Kaliajew (Richard Hucke), Dora (Doris Lehner) und der Anführer Boris annenkow (Andreas Kunz). ©Foto: Oliver Paul

Die Revolutionäre vor dem Attentat. Von links: Stepan (Frank Musekamp), Kaliajew (Richard Hucke), Dora (Doris Lehner) und der Anführer Boris Annenkow (Andreas Kunz). ©Foto: Oliver Paul

Bonn (Aufzeichnung vom Februar 2014). Hier soll ein Theater sein? Doch, doch. Mitten im Herzen der Bonner Innenstadt am Münsterplatz-Dreieck liegt das Euro Theater Central. Über eine steile Treppe gelangt man in die erste Etage, wo sich ein entzückendes Entrée mit einer kleinen Bar und viel rotem Samt auftut. Das hat Charme und stimmt unwillkürlich neugierig darauf, was ein so kleines Theaterchen wohl auf die Bühne bringen wird. Der Spielplan ist jedenfalls anspruchsvoll: Neben Camus‘ Gerechten und einer Bühnenfassung von Der Fremde weist das Programm auch noch u.a. Sartres Geschlossene Gesellschaft und Der eingebildete Kranke von Molière (jeweils in deutscher und französischer Sprache) auf, Schillers Kabale und Liebe, Patrick Süßkinds Kontrabass und Bühnenfassungen von Kafkas Verwandlung und der Stefan-Zweig-Novelle Angst.

Der Eingang zum Euro-Theater Central am Bonner Mauspfad. Foto: akr

Der Eingang zum Euro-Theater Central am Bonner Mauspfad. Foto: akr

„Ich suche immer solche kleinen Spielstätten, wo man ganz dicht am Geschehen ist”, erzählt mir mein Sitznachbar, mit dem ich vor der Vorstellung von Die Gerechten ins Plaudern komme. Dicht am Geschehen werden wir wahrhaftig sein: Wir sitzen in der ersten Reihe, und kaum zwei Meter weiter beginnt wenige Minuten später – ohne Bühnenbarriere, auf der selben Ebene mit uns – das Spiel. Aber auch die anderen Zuschauer im ausverkauften Theater sind ganz dicht dran: Kaum acht Reihen hat der kleine Saal, ansteigend angeordnet, um auf 50 Plätze zu kommen müssen noch Stühle auf die Treppenabsätze gestellt werden.

Ganz dicht dran zu sein, das wird sich als die große Qualität des Abends erweisen. Wo hat man das schon, dass sich das Spiel der Akteure quasi körperlich auf die Zuschauer überträgt. Ein unschätzbarer Vorteil bei diesem Stück, das – man muss es auch als Camus-Liebhaberin einräumen – ziemlich ideenlastig daherkommt.

Es geht um eine Gruppe von Revolutionären im Russland von 1905, die einen Bombenanschlag auf den Großfürsten Sergej plant – eine historische Begebenheit. Kaliajew, genannt Janek, soll das Attentat ausführen, doch er wirft die Bombe nicht, als er sieht, dass überraschend Kinder in der Kutsche des Großfürsten mitfahren. Ist es richtig, dass er die Gelegenheit, auf die die Kameraden so lange hingearbeitet haben, verstreichen ließ? Oder hat der radikale Stepan Recht, wenn er einwirft, dass wegen Janeks sentimentaler Rücksichtnahme auf zwei verwöhnte Kinder nun hunderte armer russischer Kinder Hungers sterben müssten? Muss die Revolution unschuldige Opfer in Kauf nehmen? Zählt das zukünftige Glück mehr als gegenwärtiges Leid? Ist der politische Mord überhaupt zu rechtfertigen?

Frank Musekamp als Stepan, Doris Lehner als Dora. ©Foto: Oliver Paul

Frank Musekamp als Stepan, Doris Lehner als Dora. ©Foto: Oliver Paul

Um solche Fragen geht es, die in langen Dialogen zwischen den Akteuren debattiert werden; es geht um „ihre berechtigte Revolte, ihre komplizierte Brüderlichkeit, (um) die maßlosen Anstrengungen, die sie unternahmen, um sich mit dem Mord zu versöhnen“ (1).

Ein Kammerspiel ist es, mit nur einem Szenenwechsel: Zuerst die Dachkammer, in der wir Dora beim Bombenbasteln antreffen, und wo bald die Auseinandersetzung zwischen den Revolutionären über die rechte Einstellung zu ihrem Tun Fahrt aufnehmen wird. Dann die Gefängniszelle, in der Kaliajew auf seine Verurteilung wartet, nachdem er im zweiten Anlauf die Bombe auf die Kutsche des Großfürsten Sergej geworfen hat; wo er auf seinen zukünftigen Henker Foka trifft und wo ihn die Großfürstin aufsucht, deren Begnadigungsangebot er entschieden zurückweist.

Die Großfürstin (Doris Lehner) sucht Kaliajew (Richard Hucke) im Gefängnis auf. ©Foto: Oliver Paul

Die Großfürstin (Doris Lehner) sucht Kaliajew (Richard
Hucke) im Gefängnis auf. ©Foto: Oliver Paul

Nähert sich die Kutsche des Großfürsten? Hat Kaliajew die Bombe geworfen? Ist das Attentat gelungen, gescheitert? Ist Janek gar verhaftet worden? – Sämtliche Aktion spielt sich außerhalb des Verstecks der Terroristen ab; spiegelt sich nur im Warten, Hoffen, Bangen, Fürchten der zurückgebliebenen Komplizen. Die vier Akteure verkörpern glaubhaft die unterschiedlichen Charaktere und ziehen die Zuschauer in intensivem Spiel mit hinein ins Wechselbad der Gefühle – durchgängig überzeugend Richard Hucke als Kaliajew. Der Wechsel zu den „Zweitrollen“ im zweiten Teil lässt allerdings noch Möglichkeiten offen. Ein süffisant-jovialer Ton und geschürzte Lippen reichen bei Andreas Kunz nicht ganz, um den überlegten Gruppen-Anführer Annenkow in den Polizeivorsteher Skuratow zu verwandeln; und Frank Musekamp, der den radikal-entschlossenen Stepan glaubhaft verkörpert, bleibt als Gefängniswärter Foka eher konturlos. Einzig Doris Lehner gelingt die um Verstehen ringende, den Dialog mit dem Mörder ihres Mannes suchende Großfürstin ebenso überzeugend wie die Bomben bauende Terroristin Dora.

Aber warum muss diese ausgerechnet Pumps und Seidenstrümpfe zum engen Tweedrock tragen? Und wie kann es angehen, dass wir Kaliajew, der soeben ein blutiges Attentat verübt hat und von sicherlich nicht zimperlichen Polizeischergen in den Kerker geworfen wurde, im blütenweißgebügelten Oberhemd sehen, als sei er nie etwas anderes gewesen als ein Schreibtischtäter? Würden solche zu allem entschlossenen Revolutionäre sich tatsächlich in ihrem Versteck so ein lächerliches Kunstblümchen im Topf auf den rostigen Klapptisch stellen (wie symbolisch auch immer es gemeint sei)? Und wenn am Ende Dora die Hinrichtung des von ihr ohne Hoffnung geliebten Janek innerlich miterlebt, mit erleidet und dabei schier zu erfrieren droht, dann ist es einfach ein Jammer, wenn diese Szene von beklemmender Intensität – sicherlich ein darstellerischer Höhepunkt des Stücks – gebrochen wird, weil ihr Kamerad ausgerechnet einen Schwung makelloser, kaufhausneuer Kunstfaserkuscheldecken hervorzieht, um sie zu wärmen.

Kleinigkeiten, gewiss – aber wenn man schon mit wenigen Mitteln auskommen muss und auf eine visuell reduzierte (und auch recht konventionelle) Inszenierung setzt, dann sollten doch die Details immerhin stimmen – sonst könnte man ja gleich ein Hörspiel herausbringen.

Dennoch: Der Besuch im kleinen Bonner Theater lohnt. Geboten wird eine schnörkellose Aufführung, die vom intensivem Spiel ihrer Darsteller und der Nähe zum Publikum lebt, den Text von Camus lebendig werden lässt und dabei auf jedwede inszenatorische (und meist problematische) Aktualisierung des Themas verzichtet.

Inszenierung (aus dem Jahr 2012): Jan Steinbach, Ausstattung: Frank Dittrich. Dauer: 90 Minuten, keine Pause.

Termin: Das Stück Die Gerechten steht am Sonntag, 4. Mai, 20 Uhr, wieder auf dem Spielplan beim Euro Theater Central, Münsterplatz-Dreieck (Eingang Mauspfad) in Bonn. Am 5. und 6. Mai, 20 Uhr, wird Der Fremde gespielt. Die Abendkasse öffnet eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn.

(1) Camus-Zitat ohne Quellenangabe aus dem Programmflyer.

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