„Die Zeit“ zum Camus-Geburtstag – eine sehr zweifelhafte Würdigung

camus-zeitDass Zeitungen mit mir sprechen, kommt ja eher selten vor. Lesen, ja, natürlich. Und vollschreiben, in meinem Falle, auch klar. Aber als ich gestern am Kiosk vorbeiging, hing da die neue Ausgabe der ZEIT und rief immerzu, ganz laut und deutlich: „Ha, erste! Guck mal, ich bin die erste!!“ Drei Wochen vor Camus‘  100. Geburtstag, der sicherlich von allen großen Zeitungen gefeiert werden wird, hat die ZEIT also schon mal das Terrain für sich gesichert. Die ZEIT, beziehungsweise ZEIT-Feuilletonchefin Iris Radisch, die gerade diese neue Camus-Biographie vorgelegt hat, die mich seit Wochen so ratlos macht, dass ich hier noch gar nichts darüber gesagt habe. (Aber ich bin auch noch nicht durch und habe noch Hoffnung). Die drei ganzen Seiten in der ZEIT habe ich aber zügig bewältigt, obwohl die Seiten in der ZEIT ja sehr groß sind. Leider haben auch sie mich in weiten Teilen ratlos zurückgelassen.

Das fängt schon mal beim Titel an. „Der Mann, der uns Gott nahm“. In Großbuchstaben gehämmerten Unsinn ist man ja sonst eher von der BILD gewohnt. O.k., das nehm‘ ich zurück – es sind keine Großbuchstaben sondern nur große Buchstaben, und in Times-Schrift sehen sie immer noch eleganter aus als in der BILD. Unsinn ist es dennoch. Der Mann, der uns Gott nahm? Wem bitte? Wer ist dieses uns? Ich rätsele. Die einzigen schlüssigen Antworten, auf die ich komme: Uns allen, die wir nicht wissen, dass Nietzsche den lieben Gott schon etwas länger für tot erklärt hat; uns allen,  für die vor der Lektüre von Camus weder die Fragen der großen Zweifler unter den Dichtern und Philosophen noch die eigene Anschauung gereicht haben, ein gläubiges Weltbild zu erschüttern; uns allen, die gewohnt sind, alles in Schubladen einzusortieren und die deshalb mit zwiespältigen Aussagen wie „ich glaube nicht an Gott und ich bin kein Atheist“ (Camus, Tagebuch am 1. November 1954) überfordert sind; uns allen, denen eine reißerische Schlagzeile mehr wert ist als differenzierter Inhalt.

Um das festzuhalten: Ganz ohne Zweifel kann die Lektüre von Camus ein schon angeknackstes Weltbild zum Einsturz bringen, gar ein zuvor unbefragtes Weltbild zertrümmern. Und bei sehr vielen jungen Menschen der Nachkriegsgenerationen (mich eingeschlossen) war das ganz gewiss der Fall. Nur rechtfertigt das nicht, ihn mit einem solchen Etikett, ach was, mit solchem Riesen-Schild zu versehen, das diesem so differenzierten Denker einfach nicht gerecht wird. Wer macht eigentlich bei der ZEIT die Titel? Und müssen die eigentlich nichts mit dem Text zu tun haben? Denn das ist gleich die nächste Ratlosigkeit, die sich einstellt: Im Text von Iris Radisch findet man nicht den geringsten Bezug zur Aufmacher-Schlagzeile. Zum Glück,  möchte man meinen.

Bevor man beim Text angekommen ist, sind da aber noch die Zeilen unter dem Titel. „Anreißer“ nennt man sowas in der Zeitungssprache, was eigentlich nicht bedeutet, dass sie besonders reißerisch sein müssten, es sei denn, man arbeitet bei der BILD. Oder neuerdings bei der ZEIT? „Er glaubte an nichts, lebte schnell, starb abrupt. Er schrieb »Der Fremde«, er war es selbst.“ Dazu das berühmte Magnum-Press-Foto von Cartier-Bresson, Camus, Ende Zwanzig, mit hochgestelltem Mantelkragen, Zigarette im Mundwinkel, die Stirn in Falten, der Blick herausfordernd – alles in allem der Rock’n’Roll-Philosoph schlechthin, live fast die young, der James Dean der Literatur.

„Der Blick des anderen nagelt dich fest” – da hat zur Abwechslung mal Sartre Recht behalten.

Iris Radisch wirft im Text (wie auch in ihrem Buch) ihren ganz persönlichen Blick auf Camus, und sie malt ein Porträt von Camus, wie er sich ihrem Blick darstellt. Das ist ihr gutes Recht. Nun kann man an das Malen, Zeichnen, Schreiben von Porträts mit unterschiedlichen Haltungen herangehen. Etwa mit dem Anspruch, der zu porträtierenden Person so gut es eben geht gerecht zu werden und etwas von dem, was diese Person in ihrem innersten Wesen ausmacht, sicht- und spürbar zu machen. Oder mit dem Anliegen, ein Aufsehen erregendes Bild zu malen, eines, von dem man weiß oder hofft: „Das wird für Furore sorgen! Davon werden die Leute reden!“ Zu diesem Zwecke bietet es sich an, tief in den bunten Farbtopf zu greifen und auch mal den etwas dickeren Pinsel zu benutzen.

Iris Radisch spachtelt ein Camus-Bild zusammen, das den Anspruch stellt, „den überwältigenden Mann, der aus der großen Kälte des vergangenen Jahrhunderts kam und zum Pariser Starintellektuellen wurde, wieder zu Albert Camus zu machen, der von einer Analphabetin …in Algerien auf dem nackten Lehmboden eines Weinguts bei Mondovi geboren wurde…“. Sie macht sich daran, den „Marmorstaub“ von Camus abzuklopfen, unter dem Denkmal den Menschen freizulegen. Und begibt sich dafür auf seine Spuren, besucht seinen Sohn Jean und den alten, 94jährigen Freund Roger Grenier in Paris, Tochter Catherine in Lourmarin. Schöne Sache, eigentlich. Sympathisch. Auch mich interessiert der Mensch Camus, sein Denken, Fühlen, Leben,  nicht das Denkmal. Und näher als im Kontakt mit den Camus nächsten noch lebenden Menschen kann man ihm doch wohl gar nicht kommen, möchte man meinen.

Allein, Iris Radisch scheint sich weniger für den Menschen Camus in seinem komplexen Denken, Fühlen, Leben zu interessieren als für den Mann Camus. Camus, der Don Juan, Camus, der Frauenverbraucher. Offenbar hat die Autorin auch mit „ein paar seiner früheren Geliebten“ gesprochen, die noch immer in Paris leben, denn sie beschreibt sie als „uralte Weiblein heute, mit zittrigen Stimmen“. Sie besucht den 68jährigen Sohn Jean, der noch immer in Camus‘  Wohnung in der Rue Madame wohnt, „fünf Zimmer, zweiter Stock rechts, Nordseite“, wo sich kaum etwas verändert habe und in die „wirklich niemals ein Sonnenstrahl fällt“. Was war diese Wohnung für Camus, fragt Iris Radisch, „Abstellwohnung für Frau und Kinder?“ Es folgt eine lange Kolumne, in der es um nichts anderes geht als um: Camus und die Frauen. „Ein schwieriges Kapitel in seinem Leben, nicht das beste“, befindet Frau Radisch. Damit ist der Ton vorgegeben. Seine erste Ehe mit Simone Hié: Camus ist ein junger Dandy, der sich aus dem Armenviertel in die besseren Kreise hinauf geheiratet hat. In ihrem Buch hört sich das noch um einiges deutlicher nach „hochgeschlafen hat“ an. Schon damals freilich habe er stets mehrere Geliebte gleichzeitig gehabt, was vielleicht sogar stimmt, „wirklich geliebt hat er jedoch ausschließlich seine Mutter“, weiß die Autorin. Seine Mutter: „Eine autistisch veranlagte Schweigerin, die keine Gefühle zeigte“, für Camus aber alles bedeutete. Kann man als Ehefrau an der Seite eines solchen Mannes anders als depressiv werden? Noch dazu, wenn man in einer dunklen Wohnung abgestellt wird? Wenn man in diesem Zusammenhang einfließen lässt, dass Ehefrau Nummer zwei, Francine, mit der Camus „seit 1940 unglücklich verheiratet war“ im Verlauf dieser Ehe „einmal aus dem Fenster der Klinik sprang, in der sie ruhiggestellt werden sollte“, drängt sich die Antwort auf.

Iris Radisch greift tief in den Topf mit den dunklen, ein wenig schmutzigen Farben. Die braucht sie, um Camus zu malen, so wie sie ihn sieht. Zumindest ist das die Grundierung ihres Porträts, welches sie dann mit denen seiner Kinder überblendet. In Jean und in Catherine, so sieht es die Autorin, spiegelten sich die beiden unversöhnlichen Seiten des Wesens ihres Vaters, sie hätten „die Zerrissenheit ihres Vaters unter sich aufgeteilt“. Hier die „hochinteressanten Traurigkeiten einer intellektuellen Existenz in Paris“, dort das „Glück des einfachen Lebens am Mittelmeer“. Iris Radisch erzählt ausführlich von ihren Besuchen bei Jean in Paris und Catherine in Lourmarin, man folgt ihr gern, man ist neugierig, etwas über die nun auch schon alt gewordenen Kinder zu erfahren, es sind anschauliche, lebendig geschriebene Porträts. Ob sie den realen Personen nahekommen? Würde Jean sich wiedererkennen im Bild eines „jener unfassbar geheimnisvollen Pariser Gespenster aus einer Vergangenheit, die noch nicht vergangen ist“? Nachdem man zuvor erfahren hat, wie sehr die von der Autorin gezeichneten Bilder ihren eigenen Blick spiegeln, und wie wenig sie das offenbar selbst reflektiert, ist man zumindest auf der Hut. Habe ich wirklich etwas über Jean und Catherine erfahren – oder doch wieder nur über Iris Radisch? Schon wieder bin ich ratlos.

Und dann hebt die Autorin an, zum Schluss ihres langen Artikels zu kommen, sie würdigt, dass die Geschichte Camus gegen Sartre und Merleau-Ponty Recht gegeben habe, man spürt ein paar Zeilen lang, dass sie Camus nah ist in dieser Nacht ihres Besuches in Lourmarin, wo der Vollmond sein Licht auf das von Oleander und Lavendel überwachsene Grab wirft. Und plötzlich zeichnet sie mit ein paar Strichen ein Bild von Camus, in dem man ihn sofort erkennt. „Er hat das Schweigen und die unlösbaren Widersprüche des Lebens ertragen. Wer ihn heute liebt, liebt ihn noch immer nicht für seine Antworten, sondern für seine Klarheit und seine kompromisslose Haltung, mit der er es aushält, dass es keine Antworten gibt. Und für den Wind in seinen Büchern, der vom Meer kommt und den Blick auf die Welt für ein paar Sekunden vollkommen freibläst.“

Musste Iris Radisch ihr Bild von Camus so düster grundieren, damit diese wenigen Akzente zum Schluss umso heller strahlen? Ich bin immer noch ratlos. Aber wenigstens versöhnen diese zehn Zeilen mit den sehr, sehr vielen Zeilen davor.

Alle Zitate aus der Titelgeschichte „Albert Camus – der Mann, der uns Gott nahm“, von Iris Radisch, Die Zeit, 17. Oktober 2013, S. 55-57.

 

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10 Antworten zu „Die Zeit“ zum Camus-Geburtstag – eine sehr zweifelhafte Würdigung

  1. Tabea Graichen sagt:

    Liebe Frau Reif,
    danke für Ihren Artikel, den ich im gegenüber zum Leitartikel in der ZEIT sehr zutreffend empfinde.
    Im Urlaub hatte ich buchstäblich ZEIT und die Überschrift machte mir als Pfarrerin und Camus Leserin Lust, den 100. Geburtstag thematisch für einen Gottesdienst aufzubereiten. Leider hat der Artikel mir dabei nicht die Anregungen vermittelt, die ich erwartet hatte.
    In Ihrer Auseinandersetzung und den Kommentaren der anderen Blogger dagegen haben mein Interesse wieder geweckt. DANKE dafür!

  2. Wilfried Kauder sagt:

    Selbst in die Provence, 17 km von Lourmarin, dem letzten Wohnort und der letzten Ruhestätte des Nobelpreisträgers für Literatur und Menschen Albert Camus entfernt lebend, sauge ich die Artikel und Berichte aus meinem Heimatland Deutschland zu meinem „schriftstellerischen Idol“ geradezu auf.
    Mich befremdet allerdings der insgesamt doch eher abstrakte Zugang der zwangsläufig abstrakt bleibenden Verarbeitung seines Lebens und Schaffens !
    Subjektiv bleiben müssende Eindrücke ergeben sich, wenn man( n ) und frau sich längere Zeit der gewählten Lebenswelt aussetzen, die fast unmerklich und ungewollt interessante offene Fragen aufkommen lassen, wie die Meinigen ( hmh ! ):
    1. Warum hat der „pied noir“ oder haben seine Familienangehörigen Wert auf eine Erdbestattung mit den Symbolen des mediterranen Raumes gewählt, so ungewöhnlich abweichend, auf französischen rein steinernen Grabplattenfriedhöfen ?
    ( Lavendelsträucher etc. ); dieselbe Form wurde der mehr als ein Jahrzehnt nach ihm
    verstorbenen Ehefrau schliesslich auch gewährt.
    2. Für mich als Deutschen ist die virtuelle Korrespondenz mit dem deutschen Freund
    aus dem Krieg und seiner „Résistance“-Zeit ( 4 lettres à un ami allemand, 1940-1944 ) , – aus gesundheitlichen Gründen eben zwangsläufig ohne andere als die schriftstellerische „Waffe“ -, interessant, wo die ambivalente Bewunderung und Verachtung des konkret-körperlich argumentierenden Deutschen, der aber doch auch Französisch sprechen können muss, was er, Camus doch wohl nicht umgekehrt in dessen Sprache, dem Deutschen, gleichermassen konnte ! -, und jener so kennzeichnenden französisch-philosophischen, abstrakt -geistigen Stärke, – ins Religiöse gewendet, die protestantische Auseinandersetzung zwischen Luther und Calvin ! –
    Ist da nicht gar der schliesslich geistig verworfene deutsche Freund ein Gegenbeispiel von konkretisierter Toleranz, die im konkreten Schritt auf den anderen zu sich zeigt ?
    3. Das letzte unvollendete Werk „Le premier homme“ bedeutet für mich, in ergänzung der 10 Lebensbegriffe Camus‘ die Auseinandersetzung des Sohnes, der eine Existenz nicht nur der heimatlichen Entwurzelung als „pied noir“ im Vater-Mutteland Frankreich auszuhalten hat, sondern auch das Fehlen einer konkreten Vater-Sohn-Beziehung, der er sich wohl gerade zum Schluss seines Lebens wirklich zu stellen beginnt.
    Dies ist eine mir bewusste Projektion, da ich als Sohn einer Flüchtlingsfamilie aus dem deutsch-polnisch-österreich-ungarischen Ostgebiet diese Zersplitterung und Heimatlosigkeit bei Camus recht gut nachempfinden zu können glaube.
    4. Für mich persönlich ist Depression als Existenzzustand nicht nur bei der geliebt-ungeliebten Ehefrau Francine zu entdecken, sondern auch bei Camus selbst, wie der verstorbene Psychiater und Vertreter einer alternativen Anti-Krebs-
    und -Depressionsmedizin aus der Servan-Schreiber-Dynastie, David Servan-Schreiber in seinem Buch aus „L’étranger“ zitierte: Meursault am Strand nach der Totenwache bei seiner Mutter im Altersheim, in der gleissenden nordafrikanischen Sonne, von seinen Gefühlen entfremdet oder wie man heute sagt, dissoziiert, vor dem
    „Mord“ an dem arabischen Mann mit dem Messer.
    Aus eigener Erfahrung weiss ich um die Wucht und Heftigkeit jener Naturbeschreibung, die das subjektive Empfinden in einem solchen Zustand genau wiedergibt.

  3. Kompliment, das Lesen Ihres Blogs ist ein Genuss, ich teile das ausgesprochene Lob der Mitforisten. Genuss, weil Sie verstehen den Autor und Menschen Camus in Ihrem Blog zu Wort kommen zu lassen und nicht einfach über ihn reden. Bis Dato war mir Camus unbekannt und ich gehe heute mit Lust aufs Lesen zu Bett, auch Dank Ihrer Vorstellungen und Ausführungen. Ich bekomme Lust auf mehr und würde mich über weitere Lesestunden freuen – erzählen Sie mehr von Camus und was Sie aus seinen Schriften lesen. Die Zärtlichkeit Ihrer Sprache berührt ohne dabei sentimental und glorifizierend zu erscheinen. Chapeau!

  4. Wolf Nebe sagt:

    Liebe Anne,
    du hättest den zweiten Absatz des Artikels weiter zitieren sollen: „; … in Algerien auf dem nacktem Lehmboden … geboren wurde, und am 4. Januar 1960 starb, als das Luxusauto seines Freundes Michel Gallimard auf dem Weg nach Paris sehr heftig und endgültig an einer Platane an der Route nationale Halt machte.“ Sehr heftig und endgültig an einer Platane … Halt machte. Das ist trash, richtig guter trash! So fängt am Sonntag Abend der Rührfilm im Zweiten an; und so geht es auch mit den Frauengeschichten im Artikel weiter. Ach, was vermisse ich Reich-Ranicki! Der hätte Frau Rrradisch abgelöfflerrrt und ihr den „Chevalier des Arts et Lettres“ vom Rrrevers gerrrissen. Nein, da gibt es nicht viel zu verrrstehen. Die Story hätte gut in Brigitte oder Bunte gepasst. Dort hätte Frau Radisch noch umfangreicher über die Oma mit dem Ochsenziemer tiefen“psycho“logisch schwadronieren dürfen. Nein, auch die zehn Zeilen am Ende stimmen mich nicht versöhnlich!
    In einem Punkt allerdings hast du dich geirrt: Es ist nicht die Times, es ist die Thiemann Antiqua.
    Ansonsten: Weiter so. Und krrritischerrr!

  5. Mag. Alois Klinglmair sagt:

    Ich kenne Iris Radisch nicht, ihre Camus Biografie auch nicht. Trotzdem erlaube ich mir folgende Zeilen.
    Wenn sie meint Camus hat irgendjemandem „Gott“ genommen, so denke ich, dass diese (reißerische) Schlagzeile so sinnlos „wie ein Kropf“ (wie man auf gut österreichisch sagen könnte), stumpfsinnig und meines Erachtens absolut ungerechtfertigt ist, v.a wenn man sich die Mühe macht, sich mit dem ganzen Werk und der Person Camus mit der nötigen intellektuellen Genauigkeit – die man von einer Journalistin, die in der Zeit schreibt, erwarten darf – zu befassen!!!
    Nur weil einer (viele) Fragen stellt – als Schriftsteller, als Philosoph, als politisch „Aktiver“… die ihm wichtig sind bei der „Analyse“seiner Erfahrungen, berechtigte Fragen dazu, wie es um den Menschen bestellt ist und danach sucht wie und wofür es sich lohnt zu leben und nicht einfache, fertige Antworten „liefert“ , deshalb nimmt er keinem was! Im Gegenteil ist mir jemand tausenmal lieber der „ein Suchender“ ist und bleibt, statt apodiktische Urteile zu fällen. Ich sehe bei Camus auch sehr viel „Licht“, Werte, die er auch für sich als lebbar erkannt hat und für die es sich lohnt zu leben.
    Und was soll die unsinnige Aussage „er war selber dieser Fremde“ und „er hat schnell gelebt“? Und ist die Art seines Todes quasi eine „natürliche“ Folge dieses sog. „schnellen Lebens“ ?
    Es mag ja löblich sein sich mit den Kindern und „Zeugen“ die Camus gekannt haben für eine Biografie zu unterhalten, das ist aber wohl nur „eine Seite der Medaille“ bzw. bleibt die Frage offen wie objektiv sind die Schlüsse die aus diesen Gesprächen gezogen werden. Wäre schlimm wenn die Journalistin sowohl in diesem Zeit – Artikel, als auch in ihrer Biografie über Camus letzlich nur ihr Voruteil transportiert!

  6. alja|ja sagt:

    Vielen Dank für ihre Rezension des „Zeit“Artikels! Ich war ebenso irritiert und unschlüssig, wie ich den reichlich seltsamen und unwürdigen Umgang der „Zeit“ bzw. Frau Radischs mit Camus Werk bewerten sollte. Danke auch für Ihren wunderbaren Blog!

  7. Cay Gabbe sagt:

    Liebe Frau Reif,
    den Zeit-Artikel konnte ich leider noch nicht lesen. Im Internet habe ich ihn nicht gefunden. Schade, dass er nicht in Ihrem Blog ist – wahrscheinlich hängt das mit Urheberrechten zusammen.
    Ich stimme (gefühlsmäßig) Ihrer Bewertung zu. Am meisten stört mich dieses Aufrühren von persönlichen Liebesbeziehungen. Welche Schlußfolgerungen will denn die Autorin daraus für das Werk, das uns interessiert, ziehen oder welche Schlußfolgerungen sollen wir dafür ziehen? Für mich sind derartige Berichte ohne jede Bedeutung. Und Camus´ Tochter kann ich nur zustimmen, wenn sie meint, auch er habe ein Recht auf „Geheimnis“.
    Auf der Web-Seite der Zeit fand ich übrigens einen Artikel von Frau Radisch zu Camus unter dem Titel „Die Menschen, die er zurückließ“ und der war sehr positiv und brachte nicht diese trüben Farben. Auch im Radio kamen nicht die eher reißerischen Elemente überhaupt nicht vor, als ihr Buch vorgestellt worden ist.
    Auf Ihr Buch und die Lesung in Bonn freue ich mich natürlich.
    Mit freundlichen Grüßen
    Cay Gabbe

  8. Nicole Nau sagt:

    Liebe Anne Kathrin Reif,
    es ist ergreifend, wie Sie das gemalte Bild analysieren, wie Sie sogar die Farben auseinander nehmen. Wenn man Gold malt, dann ist da am wenigsten Gelb drin (hier spricht die Grafikerin), das, was nach billigem Gold anmutet. Weiß, schwarz, grün, ocker, ganz viele Farben braucht es, damit Gold glänzt und schillert.
    Da wo viel Licht ist, ist viel Schatten.
    Das kennen wir aus der Natur.
    Und so wundert es mich nicht, dass ein phantastischer Geist auch seine Tiefen hat. Sowohl positiv, als auch negativ. By the way, wer entscheidet eigentlich was positiv und was negativ ist?
    Welche Frau lässt sich abstellen? Was sind das für Wesen? Oder waren sie in diesen Wohnungen vielleicht sogar gerne!
    Lieben ist etwas anderes als jagen und gejagt werden, als Beute sein und gehalten werden.
    Tja, und dann geht mir noch etwas anderes durch den Sinn: Wo bleibt die Ethik. Ich meine, muss man dann, wenn derjenige, über den geschrieben wird, der aber nicht mehr Stellung nehmen kann, muss man dann zu Geliebten gehen und sprechen und Intimes ans Licht bringen?
    Wichtig ist doch was dieser Mensch uns hinterlässt, was er mit uns macht im Kopf, im Herzen. Warum der solche Gedanken entwickeln konnte, unglaublich reich, reif und auch zwiespältig. Und auch zweifelnd. Denn eigentlich tut er doch nichts anderes als genau das auszusprechen, was sich sonst wenige trauen zu fühlen. Gar hinzuschauen.
    Na, auf jeden Fall bin ich sehr gespannt auf Ihr Buch!
    Mit jedem Tag wird mir klarer, dass Camus ihr Lebenswerk ist, und nicht ein reißerischer, kommerzieller, zufälliger Blick im Jahre des 100sten Geburtstages.
    Nicole Nau

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Liebe Nicole, herzlichen Dank für diese Einlassungen. Ich möchte nur anmerken: Auch ich bin nicht im Besitz irgendeiner letzten Wahrheit über Camus. Aber ich behaupte es eben auch nicht. Und ich teile zutiefst die Auffassung seiner Tochter Catherine, die mir bei unserer Begegnung in Aix-en-Provence vor wenigen Tagen sagte: „Man sollte nicht versuchen, alles ans Licht zu zerren. Jeder Mensch hat das Recht auf sein Geheimnis. Auch Camus.“

      • Frank Lengers sagt:

        Liebe Frau Reif,

        zunächst einmal mein Kompliment für Ihr Engagement, das sich im Betreiben dieses Blogs widerspiegelt. Auch ich hatte noch keine Gelegenheit, die aktuelle Ausgabe von „Die Zeit“ selbst zu lesen, aber allein der Aufmacher macht wenig Lust, sich mit den Einlassungen von Frau Radisch näher zu beschäftigen. Das Lesen der Biographie, die ich jetzt seit einer Woche ausgelesen habe, lässt mich allerdings nicht nur ratlos, sondern auch ein wenig ärgerlich zurück, nicht nur weil dort der Mensch Camus und damit auch sein Privatleben schonungslos ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, sondern auch, weil ich die die Biographie begleitende Werkinterpretation an vielen Stellen äußerst „dünn“ finde, so kommt man dem Schriftsteller und Denker Camus nicht angemessen nahe! Im Gegenteil, erneut wird die Öffentlichkeit um Camus betrogen. War es bis in die neunziger Jahre der vermeintliche Idealismus Camus‘, der seine Gedanken als nicht „realitätstauglich“ zu diskreditieren versuchte, ist es nun der „Don Juan“, der in moralischer Hinsicht diskreditiert wird, so dass man ihn nicht ernst nehmen muss. Es ist schon tragisch, dass das Privatleben eines Menschen, der von sich selbst in seinen Tagebüchern festgestellt hat, sein Leben sei geheim, nun gerade in dieser Hinsicht förmlich „ausgeschlachtet“ wird. Diese ärgerliche und inadäquate Praxis ist nach meiner Wahrnehmung übrigens keineswegs neu, bereits Todd hat in seiner Biographie kaum eine Gelegenheit ausgelassen, auf Camus‘ Liebschaften „herumzureiten“, der Gipfel ist dann der Schlussteil des filmischen Potraits aus den neunziger Jahren „Camus und der Kampf gegen das Absurde“, das sich in zentralen Teilen auf die Biographie von Todd beruft. Nach meiner Erinnerung hat sich kurz nach dem Erscheinen der Biographie von Todd H.R. Schlette sehr kritisch zu einem derartigen Umgang mit der Biographie Camus‘ geäußert. Ich schließe mich hier Herrn Schlette ohne jede Einschränkung an, denn durch diese Perspektive wird der Blick auf das Aktuelle am Denken Camus‘ (böswillig) verstellt! So bleibt mir nur die vage Hoffnung, dass die von Ihnen zitierten versöhnlichen Zeilen aus dem Beitrag aus „Die Zeit“ zum Anlass genommen werden, hinter dem „Frauenhelden“ den Denker und Literaten zu suchen.
        Den an Camus interessierten möchte man gerne zurufen, lasst euch jetzt nicht (wie bis in die neunziger Jahre) erneut um Camus betrügen, es wird Zeit, sich endlich mit dem Denker und Schriftsteller zu beschäftigen, das ist garantiert ergiebiger und spannender als jede d’affaire d’amour!

        In diesem Sinne herzliche Grüße und weiterhin viel Freude und Erfolg mit diesem sehr guten Blog

        Frank Lengers

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